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Dr. Knox: Krimi
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eBook494 Seiten6 Stunden

Dr. Knox: Krimi

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Über dieses E-Book

Dr. Adam Knox hat den Drang, das Richtige zu tun, auch wenn es gerade das Falsche ist. Das hat ihn schon in den Bürgerkriegsgebieten Afrikas fast das Leben gekostet. Zurück in L.A. hält er seine Armenklinik mit nächtlichen Notfalleinsätzen seines Söldnerkumpels Sutter über Wasser. Dabei behandelt Knox, von Filmstars bis hin zu Bankräubern, jeden, der ihn bezahlen kann und nicht ins Krankenhaus will.
Als eine Unbekannte den kleinen Alex in der Klinik zurücklässt, muss er sich plötzlich mit dem russischen Mob und einem durchgedrehten Großindustriellen herumschlagen. Doch Dr. Knox ist auch diesmal entschlossen, das Richtige zu tun …

»Über ein paar hundert Seiten ist das ein gekonnter, harter Noir-Roman mit reichlich Action und schwarzem Humor.« Basler Zeitung

»Der erste ins Deutsche übersetzte Roman des Autors ist ein wahrer Pageturner.« Ekz Bibliotheksservice

»Ein fantastischer Krimi. Er zieht dich immer weiter und weiter in Peter Spiegelmans brillant gezeichnete Welt.«
James Ellroy

»Mr Spiegelman hat mit Dr Knox einen einzigartigen Protagonisten erschaffen.«
The Wall Street Journal

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum2. Juli 2018
ISBN9783959677622
Dr. Knox: Krimi
Autor

Peter Spiegelman

Peter Spiegelman ist Träger des Shamus Awards und Autor von fünf Büchern. Bevor er sich sich dem Schreiben widmete, arbeitete er über 20 Jahre in der Finanzbranche. Peter wurde in New York City geboren und wuchs dort, unterbrochen von einem kurzen Abstecher nach L.A., auch auf. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in Connecticut.

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    Buchvorschau

    Dr. Knox - Joannis Stefanidis

    Zum Buch

    Dr. Knox ist Ben Sutter dankbar. Dankbar dafür, dass er nach seiner weniger als glamourösen Wiederkehr aus Afrika bei dem Söldner in Los Angeles Unterschlupf finden konnte. Dankbar dafür, dass er ihm die nächtlichen Hausbesuche vermittelt, die die Gehälter seiner Angestellten einbringen. Und natürlich dafür, dass Sutter mit all seiner Ausbildung und Erfahrung neben ihm steht, jetzt, wo Knox sich den Schlägern eines Russengangsters und der Privatarmee eines der reichsten Männer des Landes gegenübersieht …

    »Mr. Spiegelman hat mit Dr. Knox einen einzigartigen Protagonisten erschaffen.«

    The Wall Street Journal

    Zum Autor

    Peter Spiegelman ist Träger des Shamus Awards und Autor von fünf Büchern. Bevor er sich dem Schreiben widmete, arbeitete er über 20 Jahre in der Finanzbranche. Peter wurde in New York City geboren und wuchs dort, unterbrochen von einem kurzen Abstecher nach L. A., auch auf. Mittlerweile lebt er mit seiner Familie in Connecticut.

    HarperCollins®

    Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Copyright © 2016 by Peter Spiegelman

    Originaltitel: »Dr. Knox«

    erschienen bei: Alfred A. Knopf, New York

    Published by arrangement with Peter Spiegelman

    Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

    Covergestaltung: HarperCollins Germany / Birgit Tonn,

    Artwork Oliver Munday

    Coverabbildung: Oliver Munday

    Lektorat: Thorben Buttke

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959677622

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für Alice, Adam und Ben

    1. KAPITEL

    Mia hätte die Letzte für den Tag sein sollen. Sie hatte eine Rippenprellung und eine Schnittwunde am langen weißen Bein, allerdings nicht vom Rasieren. Sie fürchtete, dass eine geschäftsschädigende Narbe zurückbleiben könnte. Sie warf sich das dunkle Haar über die Schulter und klimperte mit ihren schwarz getuschten Wimpern. »Aber es gibt auch Typen, die auf Narben stehen«, sagte sie. Ihre Stimme war tief und kratzig.

    »Berechne es ihnen extra«, schlug ich vor.

    Während sie lachte, hüpfte ihr Adamsapfel auf und ab. »Sie haben einen ausgeprägten Geschäftssinn, Dr. Knox. Wie viele Stiche krieg ich?«

    »Gar keine. Nur eine Tetanusspritze und Klammerpflaster«, sagte ich. »War das Jerome?« Jerome war Mias Freund, Zuhälter und angeblich auch Verlobter. Er hatte gesagt, nach der Behandlung bei mir würde er sie heiraten, aber ich hielt ihn für einen Mistkerl. Ich war mir sicher, dass Mia im Grunde ihres Herzens genauso dachte.

    Wieder klimperte sie mit den Wimpern. »Er hat’s nicht so gemeint.«

    »Jerome ist ein Arschloch.«

    »Er war sauer, weil Azul von Tigres abserviert worden ist und er viel Geld verloren hat.«

    »Dann ist er also ein heruntergekommener Zocker, ein peinlicher Loser und ein Arschloch – eine Dreierkombinationswette«, sagte ich, während ich ihr mit einem alkoholgetränkten Wattebausch über den dünnen Arm strich. »Eines Tages wird er dir was wirklich Schlimmes antun.«

    Mia blinzelte und zuckte zusammen, als ich ihr die Nadel in den Arm stach. »Au! Warum holen Sie mich nicht einfach raus aus meinem Scheißleben?«

    »Ich bin zu alt für dich.«

    »Sie haben einen hohen Meilenstand, klar, aber Ihr Motor läuft noch wie geschmiert. Sie haben diesen Drahtiger-Alternder-Surfer-Look – oder vielleicht auch alternder Skilehrer, keine Ahnung. Was auch immer, jedenfalls gefällt es den Mädchen. Und Kerlen auch.«

    »Das mit dem Altern stimmt schon mal«, sagte ich und klebte ein Pflaster auf den Einstich.

    »Keine Sorge, Doc«, sagte Mia. »Ich hab Power für zwei.« Sie lachte rau und zeigte mit dem Finger auf mich. »Und, sieh an, Sie sind nicht mal zu alt, um rot zu werden.«

    »Ich führe ein ruhiges Leben.«

    »Wer’s glaubt, wird selig«, sagte sie kichernd. »Ein bisschen durchgeknallt sind Sie auf jeden Fall.« Sie tippte gegen mein Tattoo – ein Tribal-Muster am Oberarm, das aus dem kurzen Ärmel meines Arztkittels herauslugte. »Oder haben Sie es sich in der Bücherei stechen lassen?«

    »Kurzzeitiger Verlust meines Urteilsvermögens. Halt das Bein sauber.«

    »Ich halte alles an mir sauber«, sagte Mia. »Jeden Zentimeter.«

    Dann zwinkerte sie mir noch einmal zu und stöckelte aus dem Behandlungszimmer.

    Ich sah auf die Uhr. Kurz vor sieben. Fast geschafft.

    Vor Mia war Greggie da gewesen, ein bleiches, zittriges, vor sich hin murmelndes Gespenst mit fettigem Haar auf der Jagd nach verschreibungspflichtigen Medikamenten. Ich hatte ihm B12, ein Sandwich und eine Einweisung in die Entzugsklinik angeboten – das tat ich immer, wenn er mit irgendwelchen vorgeschobenen Symptomen bei mir aufkreuzte –, worauf Greggie sich eine Weile die Hände kratzte und schließlich sagte: Fick dich. Alle zwei Wochen ging es so, Greggie das Uhrwerk.

    Und vor ihm, seit frühmorgens, war die traurige Parade der Obdachlosen bei mir aufmarschiert. Unter sedimentartigen Schichten verrottender Kleidung hatte ich drei Lungenentzündungen entdeckt, eine Bindehautentzündung, einen Durchfall, vier Staphylokokkeninfektionen, zwei Mal Läuse, Stichwunden, Quetschungen und Prellungen, Rattenbisse sowie zahllose Varianten vereiterter Hautausschläge – und jeder Patient hatte einen derart üblen, durchdringenden Gestank verströmt, dass ich jedes Mal von Neuem beinahe erstickt wäre.

    Lydia Torres, meine Krankenschwester und Klinik-Managerin, nannte es die Brückenkrankheit. Ich bezeichnete es als das San-Julian-Syndrom, nach der Straße unweit von hier, deren Hauseingänge und Bordsteinkanten die einzige Adresse waren, die diese Leute noch besaßen. Das San-Julian-Syndrom: das langsame und manchmal gar nicht so langsame Zugrundegehen der Glücklosen, Verrückten, Süchtigen, Beschädigten, Verdammten und Vergessenen. TB und ihre Komplikationen, Diabetes und ihre Komplikationen, Bluthochdruck, Hepatitis C, HIV, bipolare Störungen, Schizophrenie, PTBS und die verzweifeltste Diagnose von allen: Armut.

    Viele der Obdachlosen, die heute vorbeigekommen waren, kannte ich schon länger, nicht wenige davon unter anderen Namen. Ich hatte herausgefunden, dass es keinen bestimmten Grund für die vielen Aliase gab – manchmal passten die alten Namen der Leute einfach nicht mehr zu ihnen, oder sie hatten sie vergessen, oder sie konnten die Last der Geschichte, die ihrem alten Namen anhaftete, nicht mehr schultern. Und, ehrlich, wer könnte das nicht verstehen.

    Ich zog die Latexhandschuhe aus, warf sie in die Abfalltonne und atmete durch. Die Luft im Behandlungszimmer war verbraucht und durchdrungen vom Geruch des Desinfektionsmittels, von Mias Parfüm, vom Gestank der Patienten und meinem Schweiß. Ich lehnte mich an das stählerne Waschbecken und starrte in den stahlumrahmten Spiegel. Die Falten rings um meine schmalen grünen Augen wurden immer tiefer, die grauen Strähnen im kurzen strohblonden Haar waren nicht mehr zu übersehen. Alternder Surfer, alternder Skilehrer. Ich sah mir förmlich beim Altern zu. Ich drehte den Hahn auf und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht.

    Alles in allem war es kein schlechter Tag gewesen, es gab schlimmere. Keine Schreihälse – zumindest keine richtig lauten –, keine nennenswerte Gewalt, kein plötzlicher Todesfall und, Gott sei Dank, keine Kinder. Keine großartigen Siege, aber die hatte ich mir seinerzeit bereits in der ersten Woche meiner Assistenz abgeschminkt. Medizin war per Definition ein Spiel auf Zeit, ein Hinauszögern, kleine, mit bloßen Händen oder unzureichender Bewaffnung ausgetragene Gefechte. Das Endergebnis stand von vornherein fest, wie lange man es auch hinausschob. Es war ein abgekartetes Spiel.

    Ich trocknete mir Gesicht und Hände ab und dachte an den Joint oben auf meinem Küchentisch. Duschen, frische Klamotten, ein Stella-Sixpack im Kühlschrank, der Gartenstuhl auf dem Dach, der Joint und die abendliche Mai-Sonne über L. A. Diese kleine Privatparty war mein Freitagabendritual; seit einer Weile fand es auch an anderen Abenden statt – vielleicht an zu vielen. Ich schloss die Augen und stellte mir den Blick von dort oben vor, über Skid Rows schäbiges Häusermeer – eine unserer humorlosen Teilzeit-Schwestern bezeichnete Skid Row als Pennergegend –, im Westen Downtowns Wolkenkratzer, dahinter die untergehende Sonne und das schlierige Blutorange des Himmels.

    Ich ging den Flur hinunter zu meinem »Büro« – eine holzgetäfelte, fensterlose Nische mit einem drei Jahre alten Real-Madrid-Kalender an der Wand, auf dem für immer Februar war. Der Schreibtisch quoll über mit Papierkram: stapelweise Formulare, die von Behörden und Versicherungen unterschrieben werden mussten, um mir Rückerstattungen zu bewilligen, die nicht einmal die Monatsmiete decken würden; dazwischen diverse Rechnungen, die meisten zum zweiten Mal angemahnt, einige zum dritten Mal, außerdem gab es einen weiteren Brief meines Vermieters, Tony Kashmarian.

    Darin stand mehr oder weniger das Gleiche wie in den anderen Briefen, die er mir seit einigen Monaten schickte: eine Erinnerung, dass der Mietvertrag für die Klinikräume Ende August auslief – in zwölf Wochen – und dass das Gebäude dann zum Verkauf stehen würde, es sei denn, ich wolle von meinem Vorkaufsrecht Gebrauch machen. Das Neue in dem Brief war der siebenstellige Betrag, den er als Kaufpreis nannte.

    Kopfschüttelnd schaute ich auf die Zahl – exorbitant hoch, unerreichbar, ein Hohn angesichts meiner finanziellen Möglichkeiten. Wie sollte ich so eine Summe aufbringen, wo schon jede Gehaltsüberweisung ein Kampf war. Kein Banker mit klarem Verstand würde mir das Geld leihen, und in letzter Zeit waren sie alle bei klarem Verstand gewesen, als es um meine alten Hypotheken gegangen war. Aber wenn ich die Summe nicht aufbrachte, wo sollte ich dann hin mit meiner kleinen Klinik? Und wo sollte ich wohnen? Seit Monaten stellte ich mir diese Fragen, und nun den Kaufpreis zu kennen, rückte die Antworten in noch weitere Ferne. Ich dachte wieder an den Joint in meiner Küche und ging zur Treppe.

    Als ich die Tür zum Treppenhaus erreichte, hörte ich Schreie aus dem Wartezimmer – eine erstickte animalische Frauenstimme –, und dann kam Lucho herausgestapft.

    Lucho – mein Türsteher, mein Ein-Mann-Begrüßungskomitee, offiziell Krankenpfleger und Assistenzmanager der Klinik – füllte den schmalen Flur aus. Er war bleich und schwitzte. »Ein Kind«, sagte er. »Es ist blau angelaufen.«

    »Mist«, flüsterte ich und holte tief Luft, als ob ich auf einen Tauchgang gehen würde.

    Es war nicht nur ein Kind, es war ein kleines Kind – nicht älter als fünf. Er trug blaue Shorts und ein blauweiß gestreiftes Polo-Shirt. Er warf sich keuchend herum, rutschte von einem der Plastikstühle zu Boden. Die Mutter – ich nahm an, dass es die Mutter war: Die beiden hatten das gleiche kastanienbraune Haar, und die Panik in ihren Augen war die einer Mutter –, sie kniete neben dem Jungen, klopfte ihm auf den Rücken, redete mit entsetzter Stimme auf ihn ein. Arthur, Luchos Lover und unser IT-Fachmann, stand wie erstarrt hinter ihr, in der Hand den Wasserbecher, den er ihr hatte reichen wollen. Ich hob den Jungen vom Boden. Er wog vielleicht fünfzehn Kilo.

    »Wo ist Lydia?«, fragte ich.

    »Nach Hause gegangen«, sagte Lucho.

    Shit.

    Ich trug den Jungen ins Behandlungszimmer. Die Mutter folgte mir, schluchzte und redete in einem fort auf mich ein. Ich verstand kein Wort, für mich klang es wie Italienisch, aber sicher war ich mir nicht. Na toll. Und dann schärfte und verengte sich meine Sicht, und ich bekam den hellen rauschhaften Tunnelblick, der mich bei akuten Notfällen immer befiel.

    Die Haut des Jungen war klamm und weiß, die Fingernägel blau angelaufen. Auch die Lippen waren blau und geschwollen, er hatte rote Flecken am Hals und an den Wangen. Er zappelte in meinen Armen wie ein frisch gefangener Fisch. Sein Blick schoss umher, dann griff er nach seiner Mutter. In seiner Brust hörte man ein Rasseln und Pfeifen – so klang ein Atemweg, der im Begriff war, sich zu verschließen. Der Junge warf sich erneut herum, und diesmal wäre er mir beinahe entglitten. Pass auf. Das Ringen um Atemluft belastete sein Herz mehr als genug, die Panik und das Herumwerfen erhöhten diese Belastung noch und damit das Risiko eines Herzstillstands. Falls er nicht vorher erstickte.

    Ich legte ihn auf den OP-Tisch, drückte ihm eine Hand auf die Brust und versuchte in dem schmalen Handgelenk einen Puls zu fühlen. Der Junge riss sich los und traf mich an Auge und Mund.

    Ich packte seine Arme, beugte mich herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Das wird wieder, Kumpel. Versprochen. Lass mich einfach machen.« Ich hielt ihm zwei Finger an den Hals und fand den Puls. Er pochte rasend schnell.

    Die Frau zog mich am Arm, brüllte etwas und schlug sich die Hand vor den Mund. Der Junge japste nach Luft und stöhnte auf, und die Mutter durchfuhr es wie ein Stromstoß.

    »Arahide«, rief sie. »Arahide!«

    »Etwas, das er gegessen hat?«, fragte ich, und die Frau nickte. »Was? Was hat er gegessen?«

    »Arahide«, wiederholte sie und hob die Augenbrauen. »Erdnüsse!«, rief sie.

    Lucho stand in der Tür, und ich winkte ihn herein. »Stell den Tisch schräg«, wies ich ihn an, »Kopf nach unten, Füße hoch. Aber lass ihn nicht runterfallen.« Dann rannte ich den Flur hinunter.

    Fluchend zerrte ich den Schlüssel heraus und schloss den Medikamentenschrank auf. Ich blickte auf die Metallablagen und riss ein paar EpiPens heraus, ein Infusionsset, eine Injektionsnadel in Kindergröße, Kochsalzlösung, eine Phiole mit Benadryl IV, ein Intubationsrohr, das ich hoffentlich nicht brauchen würde, und das Werkzeug für einen Luftröhrenschnitt, den ich lieber nicht würde durchführen müssen.

    Mit den Sachen auf den Armen rannte ich ins Behandlungszimmer zurück, warf alles auf den Tresen und riss einen EpiPen auf, nahm den Injektor heraus und zog die Schutzkappe ab.

    »Halt sein Bein fest«, sagte ich zu Lucho und drückte dem Jungen die Nadel in den nackten Oberschenkel, zählte bis fünf, die Schreie des Kleinen in den Ohren.

    Es dauerte vier lange Minuten, bis die Wirkung des Epinephrins einsetzte. Schließlich verklang das Rasseln und Pfeifen in seiner Brust, und die bläuliche Färbung seiner Lippen verschwand. Er bekam besser Luft und mehr Sauerstoff ins Hirn, was seine Panik und die seiner Mutter verebben ließ. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar und gurrte ihm etwas zu, was bestimmt kein Italienisch war. Ich wartete fünf Minuten ab und verabreichte ihm noch einen halben EpiPen.

    Zwanzig Minuten später war die Gesichtsfarbe des Jungen wieder normal, sein Puls und Blutdruck ebenso. Lucho schleppte eine Sauerstoffflasche aus dem Medizinschrank heran, und ich zeigte dem Jungen die Atemmaske, die er argwöhnisch musterte, ehe ich sie ihm über Nase und Mund zog. Ich bin gut darin, Infusionen zu verabreichen – sauber und schnell aufgrund jahrelanger Erfahrung –, und ich hatte den Zugang schon gelegt und die Phiole am Schlauch befestigt, ehe der Junge mehr tun konnte, als überrascht aufzuseufzen. Ich ließ ihm das Benadryl einlaufen, und das Antihistaminikum gepaart mit der Erschöpfung ließen ihn augenblicklich einschlafen. Ich beobachtete die Atmung des Jungen und prüfte seinen Puls, dann trat ich vom Tisch zurück.

    Ich lehnte mich an die Wand. Mir schlackerten die Knie vor lauter Adrenalin, und mein Kittel war voller Schweißflecken. Kinder. Ich atmete ein paarmal tief durch, um meinen Puls zu beruhigen.

    Die Frau tippte mir auf die Schulter und sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich schaute zu Arthur und Lucho hinüber, die nur die Achseln zuckten. »Englisch?«, fragte ich die Frau. »Spanisch? Französisch?«

    Sie nickte langsam, und wieder kräuselte sie die Stirn. »Junge ist gut?« Ihre Stimme war leise, ihr Englisch hatte einen starken Akzent. Irgendetwas Osteuropäisches.

    »Er hatte eine allergische Reaktion, eine ziemlich heftige sogar, aber er wird es überstehen. Man muss aber auf ihn aufpassen, ihn eine Weile im Auge behalten. Und er darf keine Erdnüsse mehr essen. Nie wieder.« Die Frau seufzte und nahm meine Hände.

    »Verstehen Sie mich?«, fragte ich. Sie nickte, und ich betrachtete sie genauer.

    Sie war jung, keine fünfundzwanzig, und nur etwas über eins fünfzig groß. Ihr Körper, in Jeans und rosafarbenem Tank-Top, war schlank, sah aber überaus kräftig aus – durchtrainiert zu irgendeinem Zweck. Zu schmal für eine Schwimmerin. Eine Gymnastin vielleicht, oder Tänzerin oder eine Akrobatin, die aus ihrem Zirkus fortgerannt war. Von irgendwo war sie fortgerannt. Ihre wächserne Haut glänzte vor Schweiß, ihr zu einem kastanienbraunen Zopf geflochtenes Haar war seit Langem nicht gewaschen worden. Ihre Augen waren dunkel, ihr Gesicht oval, die vollen Lippen perfekt geformt. Ein reserviert dreinblickendes, aber hübsches Gesicht. Mehr als hübsch. Und das mit all den Prellungen und blauen Flecken.

    Sie waren überall, unter dem linken Auge, am Kinn und am Hals, an den Armen und Handgelenken. An einigen Stellen erkannte ich Abdrücke von Handflächen und dicken Fingern und Vertiefungen, wo Ringe an den Fingern gesteckt hatten. Die Verletzungen waren nicht neu, vielleicht eine Woche alt, und sie waren am Verheilen. Aber trotz ihres angeschlagenen Zustands ging eine drängende, pulsierende sexuelle Attraktivität von ihr aus. Es war wie ein elektrisches Feld, das, wenn man daran vorbeiging, die Härchen auf den Armen knistern ließ, oder wie ein Strudel, der an einem zog, selbst wenn man an Land stand.

    Ich streifte mir frische Handschuhe über und griff nach einem ihrer Arme. Sie zog ihn zurück, und ihre Augen blitzten. Sie hob die geballten Fäuste – kampfbereit.

    Ich deutete auf den Arm und auf ihre Wange. »Das würde ich mir gern mal ansehen.« Sie schüttelte den Kopf, trat zurück. »Ich tue Ihnen nicht weh«, sagte ich.

    Sie rang ihren Kampfimpuls nieder und sprach erneut: »Wo ist Toilette?«

    Ich ging zur Tür und deutete zum Ende des Flurs. »Ganz hinten, links. Und danach schaue ich mir die blauen Flecken an.«

    Sie nahm meine Hände und starrte auf sie herab. »Danke«, sagte sie leise, aber es klang mehr wie Tanke. »Ich komme zurück.« Dann ging sie den Flur hinunter.

    Ich kehrte zu dem schlafenden Jungen zurück, gefolgt von Arthur und Lucho, und prüfte seinen Puls. Kräftig und gleichmäßig.

    »Hat mir eine Scheißangst eingejagt«, sagte Lucho.

    »Ist bei Kindern immer so«, sagte ich.

    »Wird er wirklich wieder gesund?«, fragte Arthur.

    »Ganz sicher. Hat einer von euch seinen Namen oder den seiner Mutter aufgeschnappt?« Beide schüttelten den Kopf. »Wisst ihr, was für eine Sprache sie spricht?«

    »Arabisch?«, erbot sich Lucho.

    Arthur zuckte mit den Schultern. »Sie klingt wie eine Nachbarin, die ich mal als Kind hatte, und die war Rumänin, glaube ich.«

    »Jemand hat ihr eine böse Abreibung verpasst«, sagte Lucho.

    Ich nickte. »Sie hat Glück, dass sie keinen –« Am Ende des Flurs erklang ein metallisches Ächzen, dann ein leiser, wuchtiger Knall. »War das die …?«

    »Hintertür«, sagte Lucho und sprintete los. Kurz darauf kehrte er kopfschüttelnd zurück. »Sie ist abgehauen, Doc. Die Gasse runter und verschwunden.«

    »Das gibt’s doch nicht«, sagte ich leise.

    Der Junge murmelte etwas im Schlaf, aber keiner von uns verstand, was er sagte.

    2. KAPITEL

    »Verdammt, er ist doch kein Hündchen«, sagte Lydia Torres. Ihre Stimme war ein wütendes Flüstern, ihr eckiges Gesicht düster und verkniffen, ihre vielen Lachfalten unsichtbar. »Sie können ihn nicht einfach behalten wie einen zugelaufenen Hund.«

    Ich schaute von Lydia zu Lucho, der nichts sagte, sondern zu Boden schaute und langsam aus dem Wartezimmer zurückwich. Ich verstand seine Vorsicht. Lydia war eins fünfundsechzig und gedrungen wie ein Bullterrier – ein massiver Muskelberg, der – in diesem Moment – mehr als nur ein bisschen bedrohlich wirkte. Ihr dickes Haar – naturschwarz trotz ihrer fünfundfünfzig Jahre – war zu einem straffen Dutt gebunden, ihre dichten Augenbrauen zogen sich zu einem dunklen Balken zusammen. Ihre Schultern waren gehoben zum Kampf. Trotzdem, ich ließ mich nicht beirren.

    »Ich rede ja nicht von was Dauerhaftem. Ich sage nur, dass wir uns um ihn kümmern, bis seine Mutter zurückkehrt.«

    Lydias Miene verdüsterte sich noch mehr, und sie zählte es mir an den Fingern auf: »Erstens, Sie wissen nicht einmal, ob diese Frau seine Mutter ist. Zweitens, ob Mutter oder nicht, Sie wissen nicht, ob sie zurückkommt. Und drittens, hören Sie mit diesem Wir-Quatsch auf – letzten Endes wollen Sie, dass ich mich um den Jungen kümmere. Wir müssen die Polizei einschalten, Doktor, die oder das Jugendamt.«

    »Das Jugendamt? Das ist nicht Ihr Ernst, Lyd – denen fliegt doch gerade mal wieder der ganze Laden um die Ohren. Erinnern Sie sich an die Artikelserie in der Times letzten Monat? Die finden ihren Hintern nicht, selbst wenn sie mit beiden Händen danach suchen. Die würde ich nicht mal auf eine Tasse Kaffee aufpassen lassen.«

    »Es ist deren Aufgabe, nicht unsere.«

    Ich schüttelte den Kopf. »Außerdem, sie ist seine Mutter – die beiden sehen sich total ähnlich, und so einen bangen Blick haben nur Mütter.« Ich wandte mich zu Lucho. »Du warst dabei – sag du es ihr.«

    Lucho schüttelte den Kopf und hob die Hände. »Ich hab früh gelernt, meiner tía nicht zu widersprechen. Ich hab nichts damit zu tun.«

    »Sie haben Ihren Neffen eingeschüchtert«, sagte ich zu Lydia.

    Sie seufzte. »Ihn schon, Sie nicht. Armselige Mutter, falls sie die Mutter ist, ihren Sohn so sitzen zu lassen.«

    »Sie sagte, sie würde zurückkommen.«

    »Von der Toilette, Doktor. Und dann hat sie ihn im Stich gelassen.«

    »Sie hat ihn nicht im Stich gelassen. Sie hat sich vor etwas gefürchtet. Ich glaube, sie ist auf der Flucht.«

    »Und das schließen Sie woraus – aus einigen blauen Flecken?«

    Im vierten Jahr meines Medizinstudiums hatte ein Professor, ein weißhaariger Internist, zu mir gesagt: Ihre Krankenschwester begegnet mehr Patienten als Sie und verbringt mehr Zeit mit ihnen. Sie spricht mit den Patienten über Dinge, über die Sie nicht sprechen, und sie kennt die Leute auf eine ganz andere Weise. Nicht auf die Krankenschwester zu hören, ist so, als würde man ohne Ton fernsehen – man bekommt schon irgendwann mit, was geschieht – aber die Chancen stehen gut, dass man etwas übersieht, und in der Zwischenzeit stirbt jemand. Also – Sie können entweder auf Ihre Krankenschwester hören, oder Sie können ein Arschloch sein. Letzteres sollten Sie lieber bleiben lassen.

    Selbst mit sechsundzwanzig, als ich noch weitestgehend als Arschloch unterwegs gewesen war, hatte ich es für einen guten Ratschlag gehalten, und ich versuchte nach wie vor, ihn nach Kräften zu befolgen. Wenn Lydia etwas sagte, hörte ich es mir an – sie war erfahrener und klüger als jede andere Krankenschwester, mit der ich zusammengearbeitet hatte, sie besaß mehr medizinisches Gespür als die meisten mir bekannten Ärzte und war tougher als jeder einzelne von ihnen. Ich hörte ihr zu, obwohl sie mit mir redete wie mit einem Laufjungen und obwohl es, wenn sie Doktor sagte, immer irgendwie ironisch klang. Ich hörte ihr zu, aber ich war nicht immer ihrer Meinung.

    »Es waren mehr als ein paar blaue Flecken, aber darum geht es nicht. Sehen Sie selbst.« Ich bedeutete ihr, mir ins Aktenzimmer zu folgen, einem winzigen, mit Metallschränken vollgestellten Raum. Im hinteren Teil saß Arthur am Schreibtisch und schaute auf seinen Laptop. Sein gebräuntes Gesicht erbleichte, als er Lydias Miene sah.

    »Würdest du bitte noch mal das Überwachungsvideo abspielen«, sagte ich. Arthur nickte, tippte auf die Tastatur und drehte den Laptop zu uns herum. Zwei Fenster waren auf dem Bildschirm geöffnet.

    »Das ist die Kamera am Eingang«, sagte Arthur und deutete auf das rechte Fenster, »und das die, die im ersten Stock an der Ecke des Gebäudes hängt.«

    Das linke Fenster zeigte das Bild des leeren Gehsteigs und einer Ladenfront, von oben betrachtet. Der Winkel war steil, aber die großen Vorderfenster der Klinik und die Glastür dazwischen waren klar zu erkennen. Abgesehen vom Absperrgitter sah es noch genauso aus wie früher, als es hier einen Eisenwarenladen gegeben hatte.

    »Sehen Sie die Zeitangabe in der Ecke? Sieben Uhr neunzehn – da waren wir mit dem Jungen zugange. Keine fünf Minuten, nachdem er und seine Mutter hereingekommen waren.«

    »Sie wissen nicht, ob die Frau seine Mutter ist«, sagte Lydia.

    »Schauen Sie einfach.«

    »Tue ich ja. Ich sehe nur einen …«

    Und dann erschienen zwei Männer auf dem Bildschirm, im linken Fenster. Sie gingen schnell, im Gleichschritt, sahen wuchtig aus in ihren dunklen Anzügen. Vor der Klinik blieben sie stehen und blickten prüfend die Straße hinunter. Sie sprachen miteinander und traten an die Glastür heran. Ihre harten weißen Gesichter und raspelkurzen Bürstenschnitte füllten nun die rechte Bildschirmhälfte. Sie beugten sich vor und spähten herein, schirmten mit ihren fleischigen Pranken von der Seite die Augen ab. Sie versuchten die Tür zu öffnen, aber es war abgeschlossen. Sie klingelten nicht, und nach einigen Augenblicken verschwanden sie.

    Arthur tippte auf einige Tasten, und die beiden Videofenster blinkten kurz, dann sah man wieder die Live-Bilder von der leeren Straße und dem verlassenen Klinikeingang. Lydia sah mich an. »Wer war das?«

    Ich schüttelte den Kopf. »Auf jeden Fall nicht das übliche Volk aus der Nachbarschaft. Und sie schienen nach jemandem zu suchen.«

    »Diese Anzüge und die Frisuren … es könnten Cops sein.«

    Nun war ich am Zug, skeptisch dreinzublicken. »Meinen Sie?«

    »Irgendeine Art von Cops«, sagte Lydia. »Vielleicht von der La Migra. Wie auch immer, woher wollen Sie wissen, dass die Kerle die Frau gesucht haben?«

    »Ich weiß es nicht – zumindest nicht sicher. Es ist eine auf meinen Beobachtungen beruhende Annahme, eine Art vorläufige Diagnose.«

    »Gängeln Sie mich nicht, Doktor.«

    »Mach ich doch gar …«

    »Natürlich tun Sie das. Wir sollten die Polizei oder das Jugendamt anrufen, und das wissen Sie ganz genau.« Ihr Mund war eine schmale Linie, zwischen den Brauen prangte eine senkrechte Falte. Ich seufzte und schloss die Augen.

    Vor einigen Jahren – manchmal kam es mir wie eine Ewigkeit vor, manchmal wie letzte Woche –, in einem anderen Leben, weit entfernt von hier, hatte ich zu viele Kinder auf Tragbahren oder Krankenliegen erwachen sehen, elend, gezeichnet, voller Schmerzen; sie hatten erfahren müssen, dass alles, was sie gekannt hatten – Eltern, Geschwister, Häuser, Schulen, Dörfer, der Boden unter ihren Füßen – verschwunden war. Mehr als verschwunden: zerhackt, verstreut, ausgelöscht. Ich würde nie die leeren, erschütterten Blicke dieser Kinder vergessen, wenn die neuen Fakten des Lebens über sie hinwegspülten wie eine schreckliche Flutwelle, die ihren Seelen alle Gefühle entriss. Ich hatte ihnen wenig gegeben, hatte nur ein paar Minuten ihre Hand gehalten und hohle Phrasen gestammelt. Manchmal hatte ich ihnen einen Platz auf einem Laster besorgt, der sie in eine überwiegend wohlmeinende, sporadisch kompetente und immer überlastete Flüchtlingsbürokratie überantworten würde. Ich erfuhr nicht, wo die Kinder landeten – möglicherweise in einem vernünftigen Krankenhaus mit richtigen Wänden oder in einem Lager oder Waisenhaus. Die nächste Welle rollte immer schon an, ich hatte keine Zeit, um Einzelheiten in Erfahrung zu bringen. Ich kannte die Geschichte dieses Jungen nicht, aber ich wollte ihn nirgendwo hinbringen lassen – besonders nicht zum Jugendamt von L. A. Außer, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.

    »Wenn der Junge aufwacht, wird er verwirrt und ängstlich sein«, sagte ich. »Er wird nach seiner Mom fragen, und sie wird nicht da sein, und seine Angst wird noch größer werden. Und Sie wollen ihn einer Horde wildfremder Leute übergeben?«

    »Wir sind auch wildfremde Leute für ihn.«

    »Sie wollen ihn wirklich dem Jugendamt übergeben, Lyd? Am Wochenende? Da hat nicht mal die B-Mannschaft der Idioten Dienst.«

    Lydia seufzte langgezogen. »Sind Sie sich bewusst, welchen Ärger wir kriegen können?«

    »Wir tun nichts weiter, als auf die Rückkehr seiner Mutter zu warten. Sie sagte, sie würde zurückkommen …«

    »Von der Toilette.«

    »Sie sagte, sie würde zurückkommen, und es ist kein Verbrechen, darauf zu warten. Wenn sie bis Montag nicht zurück ist – wenn ich sie bis dahin nicht finden kann –, rufen wir an, wen immer Sie möchten.«

    »Sie finden? Sie haben gesagt, sie würde zurückkommen – und jetzt müssen Sie sie suchen? Sind Sie neuerdings Feierabend-Detektiv?«

    »Ich höre mich einfach ein bisschen um; vielleicht hat sie ja jemand gesehen.«

    »Während ich babysitte.«

    »Hatten Sie Pläne fürs Wochenende?«

    »Meine Pläne gehen Sie nichts an. Denken Sie, nur weil ich eine Frau bin, werde ich schon nichts dagegen haben, auf ein fremdes Kind aufzupassen?«

    »Es ist weniger das Geschlechter-Ding, eher der Umstand, dass Sie Lucho und seine Schwester großgezogen haben, und zwar ganz allein, seit die beiden Babys waren.«

    »Jetzt wollen Sie mich einlullen, Doktor. Ich soll ihn wohl zu mir nach Hause mitnehmen, was?«

    »Bei mir ist es nicht so kinderfreundlich.«

    Lydia verdrehte die Augen. »Nur der liebe Gott weiß, was Sie da oben treiben. Spricht der Junge überhaupt Englisch? Bei der Mutter waren Sie sich nicht sicher.«

    »Sie hat mich verstanden.«

    Lydia schüttelte den Kopf und seufzte. »Bis Montag.«

    »Spätestens Dienstag.«

    »Dafür stelle ich Ihnen Überstunden in Rechnung«, sagte Lydia. »Mindestens das Anderthalbfache.« Sie schaute zu Arthur. »Und glaubt ja nicht, dass ihr mir nicht zu helfen braucht. Ich schreibe euch eine Einkaufsliste für den Supermarkt.«

    »Nichts, wo Nüsse drin sind.«

    Sie nickte. »Ja, ich …« Und dann blieb ihr flackernder Blick am Laptop hängen. Ihre Miene verdüsterte sich abermals. »Als hätten wir nicht schon genug Ärger. Was will denn der Pirat hier?«

    Ich schaute zum Bildschirm und auf die drahtige Gestalt darin; sie stand vor der Klinik und lächelte entspannt in die Kamera. Im nächsten Moment durchquerte ich das Wartezimmer und ließ Ben Sutter herein.

    »Wie sieht’s aus, Bruder«, sagte Sutter statt einer Begrüßung, »ist dir nach einem abendlichen Hausbesuch zumute?«

    3. KAPITEL

    Die 101 sei dicht, sagte Sutter, deshalb nahmen wir die Ausfallstraßen nach Norden und Westen, während der Himmel von rötlich auf purpurfarben wechselte und in der Stadt die Lichter angingen. San Pedro zur First; First zur Beverly; Beverly zur Vermont zur Franklin und Outpost und weiter in die Berge. Wie alles an Sutter war sein Fahrstil fließend und lässig, nur wenn man darauf achtete, bemerkte man seine Präzision und Geschwindigkeit.

    Er war fünfunddreißig, fünf Jahre jünger als ich, und mit eins achtzig drei Zentimeter kleiner. Sein biologisches Erbe war ein unglaublicher Mix – afrikanisch, asiatisch, indianisch, vielleicht auch hispanisch. Sutter behauptete, die genaue Mischung nicht zu kennen, aber wie sie auch sein mochte, das Resultat war beeindruckend. Seine Gesichtszüge waren scharf und markant, wie aus kaffeebraunem Stein gemeißelt, zum Leben erweckt von einem beweglichen Intellekt und einer zuweilen gnadenlosen Scharfzüngigkeit, entschärft von den Lachfalten am Mund und den hellen Augen.

    Der Rest waren Muskeln. Er war von Kopf bis Fuß damit vollgepackt, und als ich ihn das erste Mal zusammengeflickt hatte, wunderte es mich, dass überhaupt irgendetwas diesen Muskelpanzer hatte durchdringen können. Aber drei Patronen und einige hässliche Granatsplitter hatten es geschafft. Doch selbst schwer verwundet hatte er gewartet, bis seine verletzten Kameraden und die geretteten Kinder versorgt waren – ein Junge und ein Mädchen, beide acht, mit Asche und Schlamm bedeckt, soeben aus den Überresten eines Flüchtlingslagers herausgeholt –, ehe er sich vom mir hatte behandeln lassen.

    Das war vor sechs Jahren gewesen, in einer Außenstation von Doctors Transglobal Rescue in der Zentralafrikanischen Republik, auf halbem Weg zwischen Bangui und Berbérati. Ich leitete die Station – kaum mehr als ein Schuppen mit Wellblechdach und Planen als Türen. Sutter hatte die Special Forces verlassen und war ins private Sicherheitsgeschäft eingestiegen und pamperte gerade ein paar deutsche Geologen. Sie hatten den Angriff unverletzt überstanden, beschwerten sich aber in einem fort über Umwege und Verspätungen, und ehe ich ihm die erste Kugel herauspulte, drohte Sutter den Deutschen, sie zu erschießen, wenn sie nicht endlich die Klappe hielten.

    Er fuhr nach rechts auf den Mulholland, ließ das Fenster herabgleiten und steckte den Ellbogen hinaus. Es war ein lauer Abend, die Luft roch nach Eukalyptus und Staub. Ich trommelte aufs Armaturenbrett, und Sutter schaute herüber. Seine grauen Augen schimmerten hell.

    »Lydia schien sich noch weniger als sonst zu freuen, mich zu sehen«, sagte er. »Ist was im Busch bei euch?«

    Ich berichtete ihm von dem Jungen, der weggelaufenen Mutter und den beiden Männern vor der Klinik. Er blinzelte, und ich erzählte ihm von Lydias Impuls, das Jugendamt einzuschalten, und meinem Widerspruch.

    Er lupfte eine Augenbraue. »Völlig falsch liegt sie nicht.«

    Ich zuckte mit den Schultern. »Ich möchte ihn nicht diesen Clowns übergeben, nur wenn es nicht anders geht.«

    Sutter lächelte. »Brauchst du Hilfe bei der Suche nach der Mutter?«

    »Ich gebe dir Bescheid.«

    Wir fuhren eine Weile schweigend durch die gewundenen Straßen.

    »Kaum zu glauben, dass sie mich noch immer nicht mag«, sagte Sutter. »Nach all den Jahren.«

    »Lydia mag mich auch nicht besonders, und ich bin derjenige, der ihr Gehalt zahlt.«

    »Was dich zu einem Mitglied der herrschenden Klasse macht. Ich aber bin ein einfacher Arbeiter. Außerdem weiß ich mit Menschen umzugehen.«

    »Und bescheiden bist du auch.«

    Ich schaute aus dem Fenster auf die dunklen Hügel und Canyons entlang des Mulholland Drive. Dann öffnete ich die schwarze Tasche, die zwischen meinen Füßen stand.

    Es war eine Notaufnahme in einer Hockeytasche: Operationsbestecke, Anästhetika, Schmerzmittel, Tranquilizer, steriler Verbandsmull, Gipsschienen, Klebeband, Dutzende von OP-Handschuhen, Infusionssets, Ringer-Laktatlösungen und beutelweise Kochsalzlösungen. Ich zählte noch einmal die Operationsbestecke durch, dann schaute ich nach hinten auf die Rückbank. Dort lag eine identische Hockeytasche, darin ein chirurgischer Tacker, eine Manschette zum Blutdruckmessen, ein tragbares EKG, ein tragbares Sonogramm, ein Laptop und noch mehr Verbandsmull und Handschuhe. Neben der Tasche stand eine kleine Kühlbox mit Eisbeuteln und drei Beuteln 0-Negativ-Blut. Ich öffnete beides und prüfte den Inhalt.

    Sutter beobachtete mich. »Du siehst jetzt zum vierten Mal nach.«

    »Ich bin ein nervöser Typ.«

    Er schnaubte. »Von wegen.«

    »Was soll das heißen?«

    »Es soll heißen, dass ich für nervöse Typen und für adrenalingeile Typen gearbeitet habe, ich kenne den Unterschied. Ich würde mich besser fühlen, wenn es dich etwas weniger anmachen würde, in einen Raum voller bewaffneter Kerle reinzumarschieren.«

    Ich seufzte. Dieses Gespräch hatten wir über die Jahre bereits einige Male geführt. »Ich dachte nicht, dass es heute so eine Nummer wird.«

    »Es kann immer passieren.«

    »Bei einem reichen Söhnchen in den Hollywood Hills?«

    »Man weiß nie

    »Normalerweise schießen meine Patienten eh nicht auf mich, denn sie brauchen mich ja.«

    »Aber es kommt der Moment, wenn sie dich nicht mehr brauchen.«

    »Kommst an der Stelle nicht du ins Spiel – sicherstellen, dass ich nicht erschossen werde, dass ich bezahlt werde?«

    »Es ist einfacher, wenn du nicht so übereifrig bist.«

    Ich zuckte mit den Schultern.

    Diese nächtlichen Jobs mit Sutter machte ich jetzt seit über drei Jahren, seit ich die Klinik vom steinalten Dr. Carmody übernommen und nach dem ersten Monat herausgefunden hatte, dass ich entweder die Gehälter zusammenbekam oder die Miete, aber nicht beides. Sutter, ganz der Geschäftsmann, hatte die Lösung. Das Arrangement war simpel: Hausbesuche gegen Bares, nur gegen Vorauszahlung, keine Fragen außer den medizinischen. Nichts wurde aktenkundig – weder bei der Polizei noch sonst wo – über Schusswunden oder eine Überdosis, über Geschlechtskrankheiten oder über Patienten von besonderem polizeilichem Interesse, die in Verbindung standen mit … was auch immer. Und Namen wurden auch keine genannt – nicht ihre, nicht unsere, niemals.

    Für einige

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