Der Skoptimist: Gedankensplitter zur unfertigen Zukunft
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Über dieses E-Book
Klaus-Ulrich Moeller
Dr. Klaus-Ulrich Moeller ist studierter Historiker, gelernter Journalist und war PR-Chef großer Unternehmen (Lufthansa, TUI, PwC) . Heute arbeitet er als Zeitgeist- Forscher & Business KeyNote Speaker, wobei er über die großen gesellschaftlichen Themen der Zeit spricht und sich stets der Frage widmet, wie der Mensch sich in dieser unübersichtlichen Welt zurechtfinden kann. 2017 wurde er Europameister der freien Rede und hat sich einen Namen gemacht als langjähriger scharfzüngiger Kolumnist beim Wirtschaftsmagazin brandeins. "Der Skoptimist" ist nach dem "Konzerthuster" das zweite Buch des Autors.
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Buchvorschau
Der Skoptimist - Klaus-Ulrich Moeller
INHALTSVERZEICHNIS
Haben wir noch eine Zukunft?
Auf der Hornisgrinde
Leberpastete & Lügenpresse
Der Zeitgeist klingelt nicht
Der Skoptimist
Weinfest & Sitzblockade
Die Sache mit den Fakten
Inuit sind keine Eskimos
Die Welt ist schöner als sie ist
Wenn Banker Hebammen retten
Die Beschleunigungs-Schleuder
Machen Kohlrouladen dumm?
Der transhumane Hybrid
Die neue Ahnungsvolligkeit
Beine an die Börse
Weihnachten kommt immer
Blogs for Future (Sammlung)
Schlusswort
HABEN WIR NOCH EINE ZUKUNFT?
Wir wissen, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt. Meistens ist es so ziemlich das einzige, was wir wissen – oder auch nur ahnen. Und in der Globalisierung scheint unser Verständnis der Dinge eher ab- als zuzunehmen. Wir gleichen das zwar dadurch aus, dass wir es bei unserem Bauchumfang genau anders herum halten – aber das kann ja nicht die Zukunft sein, dass sich unser Verständnis der Welt mit unserem Bauchumfang die Waage hält, nur weil das eine im gleichen Maße ab-, wie das andere zunimmt. Willkommen in meinem Buch.
Wenn wieder mal Fußball läuft, wandere ich gerne auf die Hornisgrinde im Schwarzwald, um mir Gedanken über die Welt, das Leben und die Zukunft zu machen. Nicht dass ich was gegen Fußball hätte. Doch spätestens beim Fernsehinterview mit den Akteuren nach Abpfiff denke ich, dass die Welt aus mehr bestehen müsste als aus Sätzen wie „Wir müssen jetzt einfach nach vorne schauen oder „Wir haben das Tor heute nicht getroffen
. Ein Trainer aus der rheinhessischen Kreisklasse toppte diese sinnfreie Sprache kürzlich noch, als er nach dem Spielende wörtlich erklärte: „Die Tore haben heute das Spiel entschieden". Darauf wäre man alleine nie gekommen.
Fußball und Zukunft haben immerhin eines gemeinsam: Man weiß nie, wie es ausgeht. Da hat man auf ein klares 3:0 gewettet und was passiert? Sehen Sie. Auch die Zukunft kann man noch so gut in Angriff nehmen wollen – irgendwas kommt doch immer dazwischen oder alles ist ganz anders. Etwa wenn wir uns mal ins Jahr 2040 versetzen: Weil die Polkappen schmelzen, stehen darunter in großer Tiefe plötzlich Rohstoffe wie Öl, Kohle und Gas für die nächsten 500 Jahre unbegrenzt zur Verfügung. Die Diskussion um die Endlichkeit von Rohstoffen bricht in sich zusammen. Die Norweger pumpen verflüssigtes CO2 in aufgelassene unterirdische Gas- und Ölspeicher. Verkehrsflugzeuge werden durchweg mit klimaneutralem künstlichem Rohöl betankt, Grillen wurde verboten und die Klimafrage verliert an Dramatik. Sex gilt als veraltete, weil für Frau wie Kind viel zu gefährliche Form der Fortpflanzung, China kapert Afrika, der israelische Geheimdienst Mossad hackt das Weiße Haus und legt Donald Trumps Golfclub lahm. Donald Trump ist derweil Nachrichtensprecher bei Fox News. Die Franzosen verlassen die EU und Wladimir Putin wird endlich Nachfolger von Ursula von der Leyen als EU-Kommissions-Präsident. Beide gehen auf Bärenjagd in Sibirien. Montenegro tritt aus dem Euro aus, der Libri von Facebook ist die Leitwährung der Welt. Die Rolling Stones schicken ihre Roboter-Doubles auf Tournee, ohne dass es jemand merkt. Der Golfstrom gibt seinen Geist keineswegs wie befürchtet auf, sondern wird stärker und die Shetland-Inseln werden das neue Barbados. Deutschland denkt über die Monarchie nach. Die SPD schlägt Kevin Kühnert vor. Die CSU will in diesem Fall die Koalition verlassen. Einen König ohne abgeschlossenes Studium habe es noch nie gegeben. Ein Novovirus wird der veganen Ernährung zugeschrieben und führt zu deren Ende. Wissenschaftler finden heraus, dass Krebs gesund ist, wenn man ihn nur richtig ernährt. In Afrika entwickelt sich Nigeria zur neuen Supermacht, die in Fragen der Nanotechnologie weltweit führend ist und den ersten hybriden Menschen produziert. Spinat gilt als giftigstes Nahrungsmittel überhaupt. Der erste Roboter gewinnt die Tour de France. In Deutschland regieren die Grünen und haben die Autos abgeschafft. Dafür können sich Menschen an jeden Ort der Welt beamen. Die meisten wissen jedoch nicht, wo sie eigentlich seien wollen und lehnen das System ab. Die SPD überspringt in Niedersachsen erstmals wieder die 5-Prozent-Hürde und zieht in den dortigen Landtag ein. Die Auffahrunfälle fliegender Autos in 500 Meter Höhe nehmen dramatisch zu, auch E-Tretroller können jetzt fliegen. In Berlin wird die Ehe mit Tieren erlaubt und der erste Mensch hat sich im Alter von 150 Jahren einfrieren lassen.
Ist all das unmöglich? Oder ist es nur unmöglich, weil wir es bisher nicht gedacht haben? Leider kann es so oder auch anders kommen. Das liegt nicht nur an der Zufälligkeit der Zukunft, sondern auch daran, dass die Zukunft sich einer demokratischen Abstimmung einfach entzieht. Ich zum Beispiel durfte nie darüber abstimmen, ob ich Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Globalisierung und Facebook haben wollte. Irgendwie sind wir mittendrin in allem und werden ungefragt mitgerissen mit dem Strom der Zeit. Urplötzlich ist die politisch korrekte Sprache da, eine 16jährige Schwedin ist charismatischer als Andrea Nahles und ein YouTuber namens Rezo zerlegt mit einem CDU-kritischen Video fast den ganzen Regierungsapparat in Berlin. Wie sollen wir uns auf all das einstellen? Sollen wir mitschwimmen in diesem Strom oder uns am Ufer an einem zackigen Felsen krampfhaft festhalten, um zu überleben und auf bessere Zeiten zu warten? Über unser Smartphone, die Tagesschau, Gerüchte, Bekannte und die BILD-Zeitung kriegen wir so gerade eben noch mit, was da draußen passiert, aber richtig verstehen tun wir das alles nicht mehr. Darin liegt die eigentliche Gefahr: Die Globalisierung erwischt uns ständig auf dem falschen Fuß. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie die Algorithmen bei Facebook funktionieren und auch beim Klimawandel kann kaum jemand die komplexen Wirkungsmechanismen erklären oder, ob nun ein Diesel oder Benziner besser ist. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen. So rum oder anders. Nur wie? Ein Machtwechsel in Venezuela arbeitet sich in der Tagesschau auf Platz 2 der Nachrichten hoch, und wir müssen klammheimlich erst einmal nachgucken, wo Venezuela überhaupt liegt. Wenn ich Menschen bitte, mal in einer Minute zu erklären, wie sie gerade die Welt so sehen, enden wir in der Regel im chaotischen Durcheinander von tausend Gedanken und wenig analytischem Durchblick.
Je weniger wir verstehen, was da draußen passiert, umso überzeugter – und das ist das Erstaunliche - treten wir jedoch an Stammtischen, im Netz und in der Familie, sofern diese noch existiert, auf. Wir haben zu allem eine feste Meinung, die wir mit Nachdruck vertreten und die wir uns auch nicht durch Fakten, neue Entwicklungen oder neue Einsichten kaputt machen lassen. Eine feste Meinung zu vertreten gilt uns nach wie vor als höchste Kunst der Kommunikation. Sie stabilisiert die Psyche, sie verschafft uns Anerkennung und ist dennoch ein heikle Angelegenheit in unsicheren Zeiten. Alles könnte sich anders entwickeln, könnte anders kommen und plötzlich gehört man zu den Verlierern, steht auf der falschen Seite der Welt. Soll man nun also fest an etwas glauben, seine Überzeugungen posaunend vor sich hertragen oder eher auch mal zweifeln, vorsichtig sein, immer ahnend, dass es auch irgendwie alles anders kommen kann?
Ich selber habe in den letzten Jahren von keinem einzigen Menschen gehört, dass er zu „neuen Einsichten gelangt und seine Meinung zu diesem oder jedem Thema geändert hätte. Doch selbst die überzeugtesten Überzeugungs-Fetischisten und Moral-Marschierer laufen mit ihren Vorstellungen genauso oft gegen die Wand wie wir selber und sind wohl nur deshalb so selbstsicher, weil man sonst als unsicherer Kantonist, als meinungsloser Sonderling oder als jemand gilt, der gar nix rafft und die großen Herausforderungen nicht versteht, zu denen man, das will der Zeitgeist, angeblich eine feste Überzeugung vertreten muss. In Facebook und Instagram werde ich mit einem „Weiß im Moment nicht
kein einziges „Like einheimsen. Eine feste Meinung ist aber noch kein Rettungsanker oder gar ein Ausweis für Kompetenz. Wie sagte ein Beobachter so schön: „Die Festigkeit, mit der ich eine Meinung vertrete, ist noch kein Beweis dafür, dass sie auch richtig ist
.
Dabei sind die Fragen, um die es in der Zukunft geht, äußerst komplex und klare Antworten ausgesprochen schwierig: Wie können wir Globalisierung, Digitalisierung, smarten Maschinen und Künstlicher Intelligenz begegnen, ohne ständig den Eindruck zu haben, wir hecheln der Zukunft nur noch hinterher und diese macht mit uns sowieso, was sie will? Wir werden in den nächsten Jahren nicht nur erleben, wie intelligente Technologie uns selbst als Menschen verändert, sondern auch, dass Mensch und Maschinen miteinander verschmelzen. Was ein spannendes Projekt sein kann, weil niemand weiß, was dann aus uns wird: Nanotechnologie und Biogenetik werden uns technologisch in einer nie gekannten Art und Weise als Menschen aufrüsten und uns in hybride Wesen verwandeln, eine Mischung aus natürlichem Menschen und Technologie – die nächste Stufe der Evolution.
Dafür haben kluge Geister auch schon einen Begriff gefunden: Den Transhumanismus. Welchen Menschen wollen wir? Welche ursprünglich menschlichen Fähigkeiten nehmen uns intelligente Roboter gerade ab, welche werden, welche müssen wir hinzu gewinnen? Werden wir in den nächsten Jahren dümmer oder klüger? Und welche Fähigkeiten und Eigenschaften helfen uns, die Zukunft zu bewältigen? Das sind so die Dinge, über die ich auf der Hornisgrinde nachdenke. Wer zu alledem schon eine feste Meinung vertritt, den bewundere, nein, den zweifele ich eher an. Wir nähern uns, denke ich, der Zukunft nur, indem wir langsam, Schritt für Schritt, die Füße und Gedanken voreinander setzen und versuchen zu verstehen, was hier in unserer Welt gerade passiert. Ich empfehle Ihnen, dieses Buch von vorne nach hinten durchzulesen. Nur dann können Sie der Verwirrtheit meiner eigenen Gedanken folgen. Sonst nehmen Sie sich einzelne Kolumnen vor, gedankenkondensierte Artikel, die Sie lesen können, wenn das Meeting gerade besonders langweilig ist, in dem Sie sich befinden. Ich habe diese Artikel, die ich in den letzten Monaten veröffentlicht habe, für Sie am Ende des Buches noch einmal zusammengestellt. Ich bin aber sicher, dass Sie lieber meiner wilden Gedankenflut folgen, die ich auf den nächsten rund 200 Seiten vor Ihnen ausbreite.
#zukunftskunst 1: Eine feste Meinung zu etwas zu haben, ist keine gute Voraussetzung für eine sich schnell wandelnde Zukunft. Vielmehr ist die Fähigkeit, seine Überzeugungen zu verändern, flexibel zu sein und neue Entwicklungen und Tatsachen sofort in seinem Mindset zu verarbeiten, die eigentliche entscheidende Fähigkeit, um Zukunft zu bewältigen.
2. DIE HORNISGRINDE
In der Zukunft weiß jeder etwas anderes. Denn niemand googelt wie sein Nachbar. Das ist nicht weiter schlimm, solange wir wissen, dass es so ist. In so einer Situation sind Ratgeber sehr gefragt. Ihre Autoren scheffeln Millionen. Dabei sind die Ratgeber oft flacher als die Sohle eines Badelatschens. Deshalb habe ich mich entschieden, keinen Ratgeber zu schreiben.
Um Ihnen einen Eindruck zu geben, wovon ich spreche und warum Denken gerade dort oben gut funktioniert: Die Hornisgrinde ist mit 1150 Metern die höchste Erhebung des Nordschwarzwaldes. Oben stehen ein Fernsehturm sowie ein Windrad, ein großer und ein kleiner Aussichtsturm mit schmiedeeiserner Wendeltreppe, mehrere Ehrfurcht vor der Natur einflößende Wandertafeln sowie schrottreife Gebäude aus der französischen Besatzungszeit. Den Franzosen selber fällt das nicht auf, da es in ihrem Land überall so aussieht. Weil der Sturm Lothar 1999 erfreulicherweise die sichtstörenden Tannen und Fichten einfach abgeräumt hat wie Pins beim Bowling, öffnet sich einem heute ein weitläufiger Blick auf die rheinische Tiefebene bis nach Straßburg, zu den Vogesen und bei klarem Wetter bis zu den schneebedeckten Alpen. Der nächste Sturm wird hoffentlich auch noch das unerbittlich surrende Windrad sowie den Bratwurststand am Mummelsee schlucken.
Sie sollten vorab auch wissen, dass der Auerhahn der typische Vogel für den Nordschwarzwald ist, der Dreizehenspecht wieder Fuß gefasst hat, was beim Specht durchaus wörtlich zu nehmen ist, und seit 2016 zwei große Gebiete als Nationalpark ausgewiesen wurden, deren Kern darin besteht, dass man den Wald einfach vor sich hin wuchern lässt in den nächsten 200 Jahren, wild, urwüchsig, ohne dass der Mensch in ihm rumhantiert. Ich glaube, das ist auch besser so. Man kann sich als Ranger ausbilden lassen und führt dann Wandergruppen durch den Nationalpark, beschützt die Ameisenhügel und nimmt all jene in Gewahrsam, die anfangen, das Badener oder Schwarzwald-Lied von 1865 zu intonieren.
Das öffentlich vorgetragene Schwarzwaldlied gehört zu den schlimmsten Ruhestörungen im Nordschwarzwald, denen man fast regelmäßig ausgesetzt ist, wenn Betriebsausflüge in die Gegend einfallen: Die zahlreichen „Schnapsbrunnen, die, tiefer im Tal gelegen, den Weg säumen, legen, gerade bei warmem Wetter, entsprechende Marschpausen nahe. Wenn man dann ganz oben ankommt, ist man bereits schwer alkoholisiert, kann den Fichtenstamm nicht mehr von der Kollegin aus der Buchhaltung unterscheiden, hält Lothar nicht für den Sturm, sondern den Chef und erheitert die schenkelklopfenden Kollegen mit der Frage, wo man seine Alkoholfahne auf der Hornisgrinde denn nun hissen kann. Da die „Schnapsbrunnen
auf dem Rückweg automatisch alle noch einmal an einem vorbeikommen, ist der Weg in die postfaktische Welt nicht mehr weit: Man fühlt sich am Ende des Ausflugs absolut großartig, ist aber sturzbesoffen.
Es soll in diesem Buch um die Frage gehen, wie wir ein gutes Verhältnis zur Zukunft bekommen. Wie wir das, was auf uns zukommt, am besten bewältigen. Sollen wir grundsätzlich skeptisch sein gegenüber allem und jedem – in Zeiten von Fake News und manipulierten Facebook-Videos sicher keine schlechte Sache. Oder wollen wir uns den stets frohgelaunten Berufsoptimisten in den Unternehmen anschließen, die uns mit Tschaka-Kursen vorantreiben, damit wir bloß nicht auf die Idee kommen, uns zu fragen, ob man den Schmonzes, der da tagtäglich produziert wird, wirklich braucht. Vor kurzem wurde im Supermarkt eine „Toilet Brush Gun" angeboten, eine zum Maschinengewehr umgebaute Klobürste. Ich habe keinen Test gemacht. Meine Vorstellungskraft reichte aber aus, mir das Badezimmer vorzustellen, nachdem man mit dem Maschinengewehr in der Kloschüssel rumhantiert hat.
Ist es richtig, grundsätzlich misstrauisch zu sein oder hilft uns nur grenzenloses Vertrauen weiter, um mit dem Rest der Menschheit langfristig zu überleben? Sollen wir einem Migranten an der Grenze aus humanitären Gründen vorbehaltlos Glauben schenken oder seine Angaben anzweifeln? Oder ist es eben letztendlich gar nicht wichtig, woher er kommt und welche Angaben er macht, weil ihm einfach geholfen werden muss? Sollen wir die Welt rational erklären, helfen uns Zahlen und Statistiken weiter oder sind „gefühlte Tatbestände viel wichtiger? Was zählt: Ob es in unserer Gesellschaft ungerecht zugeht oder ob es sich nur ungerecht anfühlt? Ist wichtiger, ob Mitarbeiter bei einem Workshop wirklich etwas gelernt haben oder ob sie danach einfach nur ein „gutes Gefühl
haben, es sich „gut anfühlt"?
Sollen wir den Anfängen wehren oder erst mal abwarten, wie sich viele Dinge entwickeln? Etwa panisch eine Datenschutzgrundverordnung in die Welt setzen, die niemand versteht – oder wäre es nicht besser, an die persönliche Verantwortung jedes Einzelnen zu appellieren, auf sensible Daten aufzupassen? Brauchen wir mehr Staat oder weniger? Kognitionswissenschaftler haben uns ja kürzlich erklärt, dass es „DIE Welt nicht gibt, dass jeder eine andere und sehr subjektive Wahrnehmung der Welt hat. Es gibt also leider kein Nachschlagewerk, in dem Sie nur das Vorwort lesen müssten, um zu begreifen, wie die „wirkliche Welt
aussieht, quasi der Holzpfahl im Wattenmeer, an den wir uns klammern können, wenn die Flut kommt – oder wenn wir die Welt gleichzeitig für gut und schlecht, Steuern für sinnvoll und gleichzeitig zu hoch, den Partner für liebenswert, aber völlig bescheuert in einem halten. Ist die AfD das größte Unglück in der deutschen Nachkriegs-Geschichte oder rüttelt sie die etablierten Parteien endlich mal wach? Sind die Veganer eine unbedeutende schmarotzende Minderheit oder zeigen sie uns, wie die Welt gerettet werden kann?
Wenn sich 100 Menschen daran machen würden, die Realität mit Legosteinen nachzustellen, würde kein einziges Ergebnis dem anderen gleichen. Wir selber sehen die Welt ja schon unterschiedlich, je nachdem in welcher Rolle wir sie gerade erleben: Als Fahrradfahrer, als Autofahrer, als Fußgänger, als Raucher oder als Experte für dies und das. Je nach Blickwinkel, der sich ja fast minütlich verändern kann, ärgern wir uns einmal über zu wenige Radwege, danach über zu lange Rotphasen für unser Auto und schlussendlich über den rücksichtslosen Motorradfahrer, der noch bei gelb über die Ampel brettert und uns fußgängerisch fast von den Beinen holt. Wir vereinen ins uns mindestens 20 unabhängige Beobachter der Welt. Wenn wir mal ins Krankenhaus müssen zu einer urologischen Untersuchung, werden wir den Eindruck nicht los, die halbe Welt leide an Blasenschwäche, so voll ist es. Wenn wir beim Augenarzt ein halbes Jahr auf einen Termin warten müssen, wissen wir, was wir schon immer ahnten: Über die Hälfte der Weltbevölkerung muss an erhöhtem Augeninnendruck leiden. Zeigt uns jemand eine gegenteilige Statistik, wird diese nie eine Chance gegen unseren persönlichen Eindruck haben.
Überdies spielt uns die Tatsache einen Streich, dass wir über keinen einheitlichen Bildungskanon mehr verfügen, sondern uns unsere Informationen wild und zufällig aus dem Netz zusammenklauben. Stellen Sie sich mal vor, 20 Personen bekommen die Aufgabe, im Internet die Frage zu googeln: „Darf ich nach 18 Uhr noch Schafsmilch trinken, ohne meine Verdauung zu gefährden? Schon nach dem ersten Klick schlagen 20 Personen 20 unterschiedliche Pfade ein: Der eine googelt erst mal die Zusammensetzung von Schafsmilch, der Zweite bleibt hängen bei den Grundsätzen der Verdauung, der Dritte wählt sich ein in einen Chat, in dem gerade eine Runde die Kleiber-Diät diskutiert. Da es keine vorgegebenen „Lernpfade
mehr gibt, haben nach spätestens vier Klicks alle 20 Personen ein vollkommen unterschiedliches Bild von der Situation, verfügen über die unterschiedlichsten Informationen und würden die Frage völlig unterschiedlich beantworten. Extrem gesagt entwickeln 3,9 Milliarden Menschen auf dieser Welt, die laut einer Umfrage des Gartner-Instituts jährlich auf Informationssuche im Internet sind, 3,9 Milliarden unterschiedliche Weltbilder. Kein einziger Informations-Status wird sich mehr mit dem des Nachbarn oder einer einzigen Person in dieser Gruppe decken. So wird Wissens-Individualisierung über die Informationsbeschaffung zum festen Markenkern der postfaktischen Welt und der Globalisierung. Den letzten Satz kann man auch einfacher fassen: „Kein Schwein schert wirklich, was du denkst".
Die Ernsthaftigkeit der Themen in diesem Buch soll nicht Hand in Hand gehen mit einem verschwurbelten, besonders komplizierten oder mit Fremdworten gespickten Schreibstil, der Sie glauben machen soll, ich verfügte über die finale Weisheit und setze alles daran, dass Sie zwar beeindruckt sind von dem, was ich schreibe, es aber nicht verstehen. So etwa, wenn Spinoza, ein großer Denker des 17. Jahrhunderts, sagt „Gott ist das Sein, doch ohne Sein ist Gott nichts" – oder so ähnlich. Vor so einem Satz knicke ich geistig vor lauter Hochachtung ein, versuche jedoch verzweifelt zu begreifen, was Spinoza wohl meint. Vielleicht hat es Spinoza ja genau darauf angelegt.
Der Titel meines jüngsten Satire-Programms, mit dem ich auf Kleinkunstbühnen auftrete, lautet „Nichts wird mehr wie morgen sein". Das reicht schon fast an Spinoza heran, denn auch dieser Satz ist