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Das Testament des Zauberers Tenor
Das Testament des Zauberers Tenor
Das Testament des Zauberers Tenor
eBook134 Seiten1 Stunde

Das Testament des Zauberers Tenor

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Über dieses E-Book

"Ich dachte, heute sei vergangener Montag" – Nachdem der einsam und verlassen in der Schweiz verstorbene Zauberer Tenor dem Ewigen Buddha seinen letzten großen Trick vermacht hat, muss dieser sich nicht nur mit chinesischen Banken und den elendigen Monotheisten herumschlagen, sondern löst mit diesem Missverständnis eine Kette von Verwicklungen aus. Der große Magier César Aira zimmert ein Wolkenschloss aus echten Illusionen und falschen Budenzaubern, die alle Wahrheiten des Daseins infrage stellen. Ein spektakuläres Verwirrspiel, in dem Groteske und Realität, Philosophie und Pop zueinanderfinden und schließlich kaum mehr zu unterscheiden sind.

"César Airas Texte sind erfrischende Lockerungsübungen. Der Autor resümiert nicht das Gesamte des literarischen Erbes. Seine Sache ist eher, Gedanken wie Luftballons platzen zu lassen. Er ist der Agent der Leichtigkeit." - Eberhard Geisler, NZZ
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Feb. 2019
ISBN9783957577337
Autor

César Aira

César Aira, geboren 1949 in Coronel Pringles, veröffentlichte bisher über 80 Bücher: Romane, Novellen, Geschichten und Essays. Darüber hinaus übersetzt er aus dem Englischen, Französischen und Portugiesischen und lehrt an den Hochschulen von Rosario und Buenos Aires, wo er heute lebt. Aira gilt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Autoren der Gegenwart – und als ihr raffiniertester. Seine Texte überraschen durch Genresprünge, aberwitzige und riskante Erzählkonstruktionen und Plots. 2016 erhielt er den Premio Iberoamericano de Narrativa Manuel Rojas.

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    Buchvorschau

    Das Testament des Zauberers Tenor - César Aira

    VII

    Kapitel I

    Einsam und verlassen starb in der Schweiz, seinem Ruhesitz seit vielen Jahren, der Zauberer Tenor. In dem Bett, an das er seit seinem letzten Anfall gefesselt war, erwartete er das Ende, ohne Hoffnung, ohne Furcht. Letztlich hatte sich alles in der gehörigen Ordnung vollzogen, und das Abtreten von der Bühne war nicht weniger Teil der Handlung als irgendeine der vorangegangenen Episoden. Den Blick ans Fenster verloren, die Gedanken leer. Die Stille staute sich in jenen langen, reglosen Tagen. Von der Dienerschaft war nur die Haushälterin geblieben. Ihre behutsamen Schritte, das Ticken einer Uhr und der verirrte Gesang eines Vogels draußen waren die einzigen Klänge, die bis ins Zimmer des Zauberers drangen. Der Weg aus Küche und Dienstbotentrakt bis zu ihm, die Treppe, die langen, geschwungenen Flure, einst elegant, jetzt bloße Gewohnheit, waren die einzigen Teile des Hauses, die noch betreten wurden. Alles Übrige lag verschlossen und sich selbst überlassen da, die dunklen Salons, Türen und Fenster, die seit Jahren nicht geöffnet wurden, der sich ansammelnde, schicksalslose Staub. Die goldgerahmten Gemälde an den Wänden der Salons tauchten ihre Figuren in ein sehr an sich selbst gewöhntes Halbdunkel. Hätte sie sich jemand angeschaut, wie das gegenwärtig nur ein Gespenst tun könnte, wären im Überleben jahrhundertealter Farbaufträge, im von der Zeit ausgedünnten Öl, das die Kehrseite der verborgenen Wesen für niemanden offenbarte, Szenen gestenreicher Dramen sichtbar geworden. Die Spiegel schauten trübe, die Teppiche wiederholten ihre müßigen Labyrinthe. Auf der Estrade des Musikzimmers hatte ein Flügel um sich herum eine Leere geschaffen, in der er die Taktschläge der Stille zählte. Die Kassettendecken darüber schienen wie würfelförmige Münder herabzustoßen. Die Sessel schrumpften, und Finsternis bemächtigte sich der Billardtische und Marmorskulpturen.

    Unter Bäumen verborgen, lag das Haus inmitten eines ausgedehnten Parks von unregelmäßigen Umrissen, und die wenigen Autofahrer, die auf der unasphaltierten Kantonalstraße vorbeifuhren, mochten von seiner Existenz nichts wissen, denn nicht einmal das Eingangstor war zu sehen: Um es zu finden, musste man einen zwischen Büschen und umgestürzten Bäumen versteckten Abzweig nehmen. Nicht dass der Besitzer den ausdrücklichen Wunsch gehabt hätte, sich vor der Welt zu verbergen; es war lediglich eine Folge der Verwahrlosung, dieselbe, die auch im Park vorherrschte, dessen entlegenere Abschnitte, die weniger entlegenen auch, und eigentlich die gesamte Fläche, in eine Verwilderung wie am ersten Schöpfungstag zurückgefallen waren. Maulwürfe, Kaninchen, Schlangen, der eine oder andere scheue Fuchs teilten sich in diese pflanzlichen Wirrsale, die nie ein menschliches Wesen betrat. Legionen von Ameisen ohne Zahl, von Zweigen hängende Schmetterlingslarven, Schnecken, Motten, Baumspinnen, Wespen in ihren lehmigen Behausungen, Heere des Kleinen und Vielfältigen, Versteck spielend, ohne dass jemand sie suchte.

    Die in Nebel gehüllten Bäume öffneten ihr Laubwerk nur gerade eben für eine hindurchschlüpfende Taube oder Katze. Kampferbäume, Pinien, Duft- und Schirmakazien gruppierten sich in asymmetrischer Eleganz, von einem Landschaftsarchitekten vorzeiten ersonnen, dessen Ideen durch das unkontrolliert wuchernde Unterholz unentzifferbar geworden waren. Die Beete waren versunken, und abgestorbenes Gewächs hielt sich aufrecht dank eines Panzers von einander überlagernden Schichten versteinerter Pilze. Hoch oben verflochten sich Geäst und Gezweig. Blätterpolster aus unvordenklichen Jahreswechseln, geheime unterirdische Paläste.

    Es gab Stunden am Tag, in denen das Vogelparadies innerhalb dieser grünen Kammern widerhallte. Kaum ein Laut drang aus der Abgeschiedenheit: Nur wenn sich hin und wieder ein Pfeifen lang genug hinzog, gelangte es an das reglose Ohr des Zauberers. Die Amseln spazierten umher wie Wachsoldaten, hatten sich Schneisen ins hohe Gras gebahnt. Der hinreißende Gesang der Nachtigall verbarg sich am tiefsten Scheitelpunkt dieser Spirale der Einsamkeiten.

    Auch die Steinbänke waren versunken. Ebenso der Sockel einer Sonnenuhr, deren Zifferblatt dadurch in Schieflage geraten war, die weiße Marmoroberfläche fleckig von den Rückständen welker Blätter, die sich ihr in allen Details von Umriss und Äderung eingeprägt hatten. Mit Fäulnis angefüllte Vogelbecken standen in violetter Pilzblüte. Eine Pergola war vollständig unter wildem Efeu verschwunden, das haltlose Linien in die Luft zeichnete. Die unteren Äste der Bäume schufen, faul zu Boden gesunken, dunkle Landschaften, die sich unterirdisch fortzusetzen schienen. Schamhaft verbargen die Statuen sich im üppigen Laub, eine Diana, ein Herkules, ein Jäger Hubertus, in einem Jahrzehnte währenden Schwanken, ohne dass jemand sie sah. Der große steinerne Brunnen mit seinen Delphinen in akrobatischen Bögen und den vervielfachten Neptunen, jeder mit seinem Gefolge von Nereiden, war von samtenem Moos, gelbzüngigen Flechten, Ranken und Sprösslingen überzogen. Eine Kröte herrschte unter diesen Baldachinen.

    Der künstliche See hatte sich mit Tigerlotus überzogen, und darunter tummelte sich eine überbordende Aalpopulation. Sonnensegelbewehrte schwimmende Inseln, die einst elegante Feste und Kammerorchester getragen hatten, rotteten schiffbrüchig vor sich hin, und ihre aufgeweichten Bohlen krümmten sich wie kranke Glieder. Bötchen ohne Boden soffen sich in die grüne Grütze des Wassers.

    Der Flügelschlag eines Vogels, ein Zwitschern, das Fallen eines Pinienzapfens interpunktierten die Stille des Parks. Wäre ein unwahrscheinlicher Besucher in ihm unterwegs gewesen und bis an seine Grenzen gelangt, hätte er allenfalls das dumpfe Ploppen einer Partie Tennis im benachbarten Park vernommen, sonst nichts. Und es war sogar ungewiss, ob es solche Nachbarn gab. Die schroffe Flanke eines Tals mit jähen Fernen vermittelte ein Gefühl von Einöde. Der Landstrich war Zufluchtsort für Menschen, die sich vor der Welt zurückzogen, um ihr Geld zu beschützen (ausgerechnet eines, das die Welt hätte kaufen können). Die exklusiven schweizerischen Aussichten lockten eine kosmopolitische Elite an, die einzig und allein durch das Brummen ihrer teuren Autos ungewollt auf sich aufmerksam machte. Heerscharen von Gärtnern stutzten und bewässerten die Parks, modellierten ihr pflanzliches Weichbild, sorgten vor allem aber für die Unsichtbarkeit der dort Anwesenden. Dieser Einrichtung wegen war das Haus des Zauberers Tenor ein Geheimnis geblieben, das wenige teilten, zumal diese wenigen sich schon nicht mehr dafür interessierten, was es insgeheim ausmachen mochte.

    Über dieses Reich des Vergessens glitten die Tage und Nächte gleichgültig hinweg. Der Blick des Zauberers Tenor vom Sterbebett aus erfasste wegen seiner tiefen Perspektive nur die Kronen der Bäume und an ihnen die Bewegung, in die Wind und Regen sie versetzten. Und im Hintergrund die Farben des Himmels, das Weiß des grauenden Morgens, das Rosa der Dämmerung, zersplittert in den Nadeln einer Pinie. Nichts mehr davon bedeutete ihm etwas. Unmerklich entfernte er sich, vergaß sich zuletzt auch selbst. Nur des Nachts, wenn die alte Haushälterin es versäumt hatte, die Fensterläden zu schließen, setzten die über den Himmel verstreuten Sterne in seinem Kopf einen Gedanken in Gang, ohne dass er wusste, welchen.

    Der letzte Besuch, den er bekam, war der von Gerichtspräsident Hoffmann vom Bundesgericht in Lausanne, der vor vielen Jahren sein Impresario gewesen war. Der Besuch entsprang keiner spontanen Initiative des alten Justizbeamten, vielmehr reagierte er auf ein vor wenigen Tagen erhaltenes Schreiben, eine in antiquierter Höflichkeit und zittriger Schrift abgefasste Bitte auf einer dieser alten Visitenkarten mit dem Emblem seines Berufsstands (Zylinder und Zauberstab), der vergilbte Karton eine echte Reliquie für Sammler von Varieté-Memorabilien. Auf der Fahrt im Wagen zeigte der Präsident sie seinem jungen Begleiter, dem Berner Rechtsanwalt Jean Ball, der ihm bei dieser Gelegenheit assistieren sollte. Er war für die Aufgabe kurzfristig zugezogen worden, und erst jetzt, auf dem Rücksitz des Wagens, wurde er durch die monotone Stimme des Präsidenten mit den Eigentümlichkeiten des Falls vertraut gemacht. Er sei, sagte Hoffmann, der Rechtsvertreter des Zauberers gewesen, der Einzige, der sich nach dessen Rückzug von der Bühne um seine Angelegenheiten gekümmert habe. Nicht dass er damit viel Arbeit gehabt hätte, fügte er hinzu, nicht mehr als ein geschäftlicher Vorgang alle fünf Jahre, immer derselbe übrigens, und auch diesmal werde es wohl wieder darum gehen. Ursprünglich, sagte er, habe er die Aufgabe aus Neugier übernommen, ihres exotischen Reizes wegen, und weil sie ihm Einblicke in eine Welt gewährte, die sich einem Juristen sonst nicht böten. Mit den Jahren, als seine Verpflichtungen bei Gericht stetig zunahmen, hätte er sie eigentlich abgeben müssen, es dann aber doch nicht getan, aus Loyalität und weil er zu faul war, einem Kollegen den Mechanismus seiner Aufgaben zu erklären, vor allem aber wegen der langen Zeiträume, die zwischen seinen Einsätzen lagen, und weil jeder der letzte zu sein schien. Diesmal war er von dem Gesuch überrascht worden, als hätte es ihn gleichsam aus einer anderen Welt erreicht, weil sein Klient sich seit Jahrzehnten nicht mehr gemeldet hatte. Er meinte sich zu erinnern, etwas von Krankheit oder Rückzug aus der Welt gehört zu haben, und etwas in den Tiefen seines Bewusstseins war zu dem Schluss gekommen, der alte Zauberer sei gestorben. Was offensichtlich nicht der Fall war. Selbst von den Jahren gebeugt, würde er die Reise nicht unternommen haben, wenn er nicht Grund zu der Annahme gehabt hätte, dass es um eine letzte Abwicklung, um Abschied ging. Hinzu kamen, wie schon zu Anfang, die Neugier und ein vages Interesse, von Pflichtgefühl ganz zu schweigen, das bei einem Calvinisten alter Schule zuletzt erlischt.

    Er dachte zurück an vergangene Zeiten, als der Zauberer Tenor eine bescheidene Berühmtheit gewesen war, sehr bescheiden, aber auch wiederum nicht so sehr, dass er am beweglichen Firmament der eleganten Heilbäder und Kurorte Mitteleuropas nicht doch einen gewissen Bekanntheitsgrad besessen hätte. Dass sein junger Begleiter den Namen noch nie gehört hatte, wunderte ihn nicht. Berühmtheit war ein ephemeres Gut in diesem Beruf, der der Geschichtsschreiber entbehrte.

    »Das müsste nicht so sein«, sagte Jean Ball. »Sie hätten eine hochinteressante Geschichte zu erzählen, wegen der vielen Reminiszenzen und Anekdoten. Es wäre auch ein beredtes Zeugnis der Zeit, ihrer tiefsten und markantesten Strömungen, ist es doch gerade das Ephemere, das sie offenbart.«

    »Alles eine Frage der Faktenlage, der Dokumentation. Die Geschichtswissenschaft arbeitet mit Realitäten, und auf diesem Gebiet ist die Realität schlüpfrig oder schwer zu fassen oder abgekartet … ich finde nicht das richtige Wort.«

    »Aber es war real. Auch wenn es keine materialen Spuren hinterlassen hat.«

    »Eine Realität in Anführungszeichen«, sagte der Gerichtspräsident,

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