Schachthauerkind: Eine Revier-Retrospektive
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Über dieses E-Book
Christine Lindemann hat in ihrem Buch „Bausteine“ dieses Lebensgefühls unaufdringlich-eindringlich zu einer Erinnerung an ihre Kindheit verarbeitet und ein genaues Abbild authentischen Lebens der Sechziger- und Siebzigerjahre geschaffen: unprätentiös, stimmig und wohltuend normal.
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Schachthauerkind - Christine Lindemann
Christine Lindemann
Schachthauerkind
Eine Revier-Retrospektive
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10587 Berlin
Umschlaggestaltung: Bernhard Bönisch, Berlin
Satz & Layout: LATEX (Zapf Palatino) Volker Thurner, Berlin
ePublishing: Benjamin Zuckschwerdt
ISBN 978-3-96543-042-6
www.lehmanns.de
Vorwort
In Bottrop wurde im Dezember 2018 das nun wirklich allerletzte Stück Steinkohle gefördert – mit allen Ehren, großem Tamtam und Polit-Spektakel. Der Steinkohlebergbau in Deutschland, im Ruhrgebiet, ist also unwiderruflich beendet. Und obwohl man im Ruhrgebiet stolz auf Strukturwandel, Industriekultur und Digitalisierung ist, sind die Mythen rund um Zeche, Bergleute, Maloche, Kohle und der damit verbundenen Dingwelt ungebrochen stark!
In den Andenkenshops der Ruhrgebietsmetropolen, aber auch in denen der einschlägigen Museen kann man so ziemlich all das kaufen, was in den 60er und 70er Jahren zu unserem normalen Lebensalltag – nämlich dem der Bergmannsfamilien – ganz unspektakulär dazugehörte: Bergmannsseife, blau-weiße Küchenhandtücher, Kohle- und Koksstückchen, Figürchen der Hl. Barbara, Grubenhemden usw. Zusätzlich stößt man auf so absurde Kitsch-Objekte wie schwarze Nudeln oder schwarzen Zucker, Bonbons in Brikettform.
An sich wäre das Ende der lebensgefährlichen, zermürbenden und dreckigen Plackerei unter Tage doch nichts, dem man nachweinen und hinterhertrauern müsste, dennoch sorgt das Ende der Steinkohlezechen flächendeckend für wehmütige Melancholie. Es gibt mit Sicherheit ein ganzes Geflecht von Deutungen für diese Phänomene, mir scheinen diese hier ganz stimmig:
Der Bergmann ist seit je her quasi der Prototyp des proletarischen Arbeiters, der durch Verausgabung seiner Muskelkraft und seiner gesamten Physis der unberechenbaren Natur, dem dunklen Erdreich sichtbar materielle Schätze abringt – das schwarze Gold nämlich. Ähnlich mythische Bedeutung hat vielleicht nur noch der Stahlwerker, der im Angesicht glühenden Feuers Tag und Nacht rabottet. Geschicklichkeit, Kraft und Zähigkeit schlagen im Verbund mit Arbeitersolidarität den Elementen ein Schnippchen! In der Zeit vereinsamter Clickworker, digitalen Nomadentums und durch die Straßen hastender Paketboten ist die Sehnsucht nach ortsgebundener, erschaffender, physisch erkennbarer (eben „ehrlicher") Arbeit mehr als verständlich – das Verschwinden des Bergmanns mitsamt seinem Habitat, der Zechenkolonie, muss allein aus diesem Grund schon abgrundtief traurig stimmen.
Außerdem geht die Erinnerung an die Blütezeit des Steinkohlebergbaus Hand in Hand mit der Erinnerung an die Wirtschaftswunderstimmung nach dem Krieg. Es ging bekanntlich endlich bergauf und nicht immer nur bergab. Die durch den Krieg vernichtete Warenwelt entfaltete sich wieder, trieb manch wunderliche Blüten und wurde emsig beworben. Zechenhäuser wurden bezogen, Gärten und Trimm-Dich-Pfade angelegt, Kinder – nämlich wir, die Babyboomerkohorte – in die Schulen geschickt. Urlaubsfahrten wurden sogar für die Arbeiterschaft und ihre Familien möglich. Die CDU hatte in ihrem Ahlener Programm von der Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien geträumt, während die Bergbaugewerkschaft IGBE betriebliche Mitbestimmung einforderte und (teilweise) auch durchsetzte. (Die Gewinne aber aus der Schufterei im Schacht wurden privatisiert, während die Verluste durch die Unmengen staatlicher Subventionen auf die Steuerzahler umgelegt wurden.)
Mit ihrer Mischung aus dörflich-ländlichem Idyll und der unmittelbaren Nähe zu den Standorten der urbanen Schwerindustrie waren die Zechensiedlungen, die Kolonien, eine ganz eigene, spezifische und oft skurrile Welt, die unwiederbringlich versunken ist. In dieser Welt bin ich als Tochter eines Bergmanns in Hamm-Herringen aufgewachsen.
Von den verschiedenen Schichtungen und Eigenheiten des Lebens im Ruhrgebiet der 60er- und 70er Jahre will ich berichten; will erzählen, wie es (für mich) gewesen ist, ein Schachthauerkind zu sein. Sie werden allerdings keine historische Dokumentation und auch kein Tagebuch lesen. Es geht mir nicht um historischen Faktenabgleich und schon gar nicht um Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit. Denn genauso oft, wie die Erinnerung spricht und erhellt, trügt sie ja leider bekanntlich auch... Und selektiv ist sie allemal. Wichtig war mir, die Atmosphäre und die Gefühlsmelange meiner Kinder-und Jugendjahre stimmig zu skizzieren, wobei ich ausgiebig mit der damaligen Dingwelt und dem Zeitkolorit jongliert habe.
Dagegen habe ich einer Versuchung erfolgreich widerstanden, nämlich der Verwendung von Brachialhumor und Ruhrpottslang. Also kein Willze, Kannze, Musse, kein Hömma, Sachta, Tuma, Kumma, kein woanders is auch scheiße. Dennoch geht es kurzweilig und amüsant
