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Ein Herz mit neun Kammern: Roman
Ein Herz mit neun Kammern: Roman
Ein Herz mit neun Kammern: Roman
eBook199 Seiten2 Stunden

Ein Herz mit neun Kammern: Roman

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Über dieses E-Book

Neun Personen erinnern sich an eine junge Frau – dieselbe junge Frau –, die sie geliebt haben oder die sie geliebt hat. Sie ist der abwesende Mittelpunkt dieses Romans, das Gravitationszentrum, um das die neun Ich-Erzähler kreisen, ohne ihm wirklich nah zu kommen, das Du, in dem sich immer auch das Ich spiegelt. Ob es der Kunstlehrer, der erste Freund, die Kommilitonin oder der verheiratete, ältere Liebhaber ist, jeder sieht nur einen Teil, eine Facette der jungen Frau. Neun Perspektiven, neun Stimmen zwischen Asien und Europa, in namenlosen und doch vertrauten Städten, die einander überlagern, sich ergänzen und sogar widersprechen und die erst im mehrstimmigen Chor vom Leben der Protagonistin erzählen können, von ihrer Erziehung des Herzens.
Ein Herz mit neun Kammern ist der Blick in ein Kaleidoskop, in dem das Objekt der Begierde immer wieder anders, in einem Moment blendend real und greifbar erscheint und es im nächsten Moment wieder verdunkelt und verschwimmt. Janice Pariats brillanter Roman handelt von der vielschichtigen Identität, davon dass andere uns nie ganz sehen, nur Fragmente, und davon, dass wir dazu neigen, zu dem zu werden, was andere von uns wahrnehmen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSecession Verlag
Erscheinungsdatum4. Feb. 2019
ISBN9783906910581
Ein Herz mit neun Kammern: Roman

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    Buchvorschau

    Ein Herz mit neun Kammern - Janice Pariat

    Du bist zwölf, und du verabscheust mich.

    Du weigerst dich, in meinem Unterricht zu malen. Weil deine Bilder hässlich sind, sagst du. Und ich sage dir, wie jeder gute Lehrer es muss, ganz gleich, ob ich es glaube oder nicht, dass du dich mit etwas Übung verbessern wirst. Du bist anderer Meinung. Es macht dich wütend, dass es etwas gibt, das du nicht auf Anhieb kannst, so wie eine Rechenaufgabe oder ein Experiment. Das ist Kunst, sage ich dir, aber ich kann sehen, dass du eine wissenschaftliche Künstlerin bist. Wenn es denn so etwas gibt.

    Die anderen Kinder drängen sich um die Tische, sie malen und zeichnen voller Begeisterung. Einige von ihnen sind ungemein begabt. Du zählst nicht zu ihnen. Instinktiv bewegen sich ihre Hände über Papier und Leinwand, geführt von einem unsichtbaren Geist. Obgleich ich das schmerzvolle Gefühl habe, dass dies das einzige Mal in ihrem Leben sein wird, dass sie »Kunst machen«. Und dass sie heranwachsen und sich in Berufe stürzen werden, die nicht nach Schönheit verlangen.

    Vor beinahe einem Jahr, an meinem ersten Tag hier, in dieser kleinen Schule, in dieser kleinen Stadt im Osten des Landes, trug ich der Klasse auf, einen Baum zu malen.

    »Was für einen Baum?«, hast du gefragt.

    »Irgendeinen«, antwortete ich.

    »Aber es gibt so viele Arten von Bäumen …«

    »Ich bin mit jedem zufrieden.«

    Das gefiel dir nicht. Und während du unentschieden dort hocktest, haben die anderen bereits herumgekleckst und getupft, und mir fiel auf, dass du dich, als du es dann schließlich versuchtest, geschämt hast. Dass du sogar ein wenig gedemütigt warst. Weil dein Baum aussah wie ein grünes Eis am Stiel. Ich machte den Fehler, auf deine Seite des Tisches zu kommen und das Mädchen zu deiner Rechten zu loben.

    »Schau … wie sie etwas Himmel durch das Blattwerk schimmern lässt … So ist es doch, nicht? Ein Baum ist ungleichmäßig, zwischen den Blättern gibt es Lücken.«

    Du sahst mich an mit einem Blick, in dem etwas wie Hass lag.

    Ein Blick, an den ich mich in den kommenden Monaten gewöhnen sollte. Alles, was ich sagte, ob zu dir oder zu einem Mitschüler, schien explosiv zu sein. Eines offensichtlichen Vergehens hast du dich nie schuldig gemacht, nichts, wofür ich dich aus der Klasse werfen oder in das Büro des Rektors hätte schicken können. Was es vielleicht einfacher gemacht hätte. Stattdessen war es eine heimliche, eine schwelende Meuterei. Du hast nur das absolut Notwendige an Arbeit geleistet. Den Großteil der Unterrichtsstunde warst du damit beschäftigt, apathisch vor dich hin zu starren oder auf Toilette zu gehen, um dann erst kurz vor dem Läuten der Pausenglocke zurückzukommen. Du hast dich nicht darum geschert, mitzumachen oder Fragen zu beantworten. Und alles, wonach ich dich direkt gefragt habe, wurde mit einem launischen »Weiß ich nicht« quittiert.

    So schleppten wir uns durch das Jahr.

    Und noch heute begegnet mir derselbe, von Abscheu erfüllte Blick. In der Klasse malen wir eine Schneelandschaft. Ich sehe mir dein Bild an und frage scharf: »Hast du in der Natur jemals reines Weiß gesehen?«

    Du schaust finster. »Was meinen Sie damit?«

    »Ich meine … Schnee ist nicht so weiß, oder? Es gibt Nuancen von Blau, von Grau, von Rosa und Gelb, sogar von Violett … Das Weiß käme nicht zur Geltung, wenn es nur weiß wäre.«

    Und dann mache ich den größten Fehler, den es gibt. Ich bessere an deinem Bild nach. Ich tunke den Pinsel ein wenig in das Blau, das Schwarz, dann ins Wasser und führe ihn über deine Landschaft. Hier ein Hauch. Dort ein Strich. Ich habe dein Bild verbessert, dich aber verloren.

    Von nun an weigerst du dich, einen Pinsel anzurühren.

    Selbst wenn ich dir drohe, dich zu bestrafen oder durchfallen zu lassen.

    Du bist die sturste Zwölfjährige, die ich kenne.

    Und du schaffst es, dass ich mich nach den Zeiten der Prügelstrafe sehne.

    Später, als ich die Klasse auffordere, die Arbeiten zur Benotung einzureichen, gibst du ein weißes Blatt ab.

    »Was ist das?«, frage ich verärgert.

    »Weiße Vögel, die durch weiße Wolken fliegen.«

    Ich gebe dir eine Sechs. Dann ändere ich die Note in eine Drei. Eher als dass du versagt hast, habe ich das Gefühl, dass ich es bin, der dir gegenüber versagt hat.

    Wir gehen zu anderen Dingen über. Du bist sensationell unbegabt in allem. Deine skizzierten Stillleben sind schwach, deine Kohlezeichnungen verschmiert. Ölfarben zu benutzen, kann ich dir nicht erlauben, denn sie sind teuer, und ich wurde angewiesen, sie für die »besten« Schüler der Klasse aufzuheben. Acrylfarben sind dir ein Rätsel, du benutzt sie wie Wasserfarben, doch sie trocknen zu schnell und hinterlassen Farbklumpen an den falschen Stellen.

    Vielleicht werde ich später, wenn ich viele Jahre unterrichtet habe, wissen, wie mit Schülern wie dir umzugehen ist. Doch jetzt bin ich ratlos.

    Ich habe das Gefühl, alles versucht zu haben: Drohung, Druck, Gleichgültigkeit, Geduld. Ich habe mit deinen anderen Lehrern gesprochen, und auch sie können es nicht verstehen. In ihrem Unterricht bist du unauffällig und gut. Etwas herablassend der Chemie gegenüber. Begeistert von Literatur. Und von Geschichte. Für Mathematik hast du eine intuitive Begabung. (Aber das wundert mich nicht.)

    Ich habe wirklich das Gefühl, dich verloren zu haben, bis ich dich eines Tages frage, ob du mit Papier arbeiten möchtest.

    »Um was zu machen?« Schon wieder klingst du herablassend.

    »Na ja, für den Anfang können wir Figuren machen …«

    Du scheinst völlig unbeeindruckt zu sein.

    »Hast du je von Origami gehört?«

    Zögerlich schüttelst du den Kopf.

    Wie sehr du es hassen musst, zuzugeben, etwas nicht zu wissen. Beinahe bin ich schadenfroh.

    Ich gebe dir einige Bogen Papier und eine Anleitung für Anfänger. (Ich habe das Gefühl, das ist dir lieber, als Anweisungen von mir entgegenzunehmen.) Gedankenverloren inspizierst du die Seiten und wählst ein Muster. Es ist erstaunlich. Du bist großartig darin. Deinen Fingerspitzen entspringen Kraniche und Kästchen, Frösche und Schmetterlinge, Krebse und Blüten. Elegant und filigran. Die Linien geknickt und gefaltet mit emsiger Sorgfalt und Präzision. Bravourstücke der Genauigkeit sie alle. Eine jede Figur dieselbe Größe und Form wie die übrigen. Du sitzt in der Ecke des Klassenzimmers, faltest und knickst geduldig und stellst sie in einer Reihe auf, wenn sie fertig sind. Ich will dir sagen, dass sie schön sind, aber ich befürchte, das könnte dich davon abbringen, also beobachte ich nur und biete keine Hilfe an.

    Danach vollzieht sich ein grundlegender Wandel.

    Du bist die Erste, die in die Klasse kommt, und die Letzte, die geht.

    Deine Augen folgen mir, während ich von einer Gruppe zur nächsten gehe. Und wenn jemand an mein Pult kommt, um nach Hilfe zu fragen. Nach der Stunde bleibst du länger und zeigst mir alles, was du an diesem Tag gemacht hast. Begierig, wenn ich mich nicht irre, nach meiner Anerkennung.

    Zunächst bin ich nicht ganz sicher, wie ich reagieren soll. Zeige ich mich zufrieden? Ignoriere ich nun dich? Ich denke, in meiner Verwirrung ist es ein bisschen von beidem. Aber das hält dich nicht zurück. Wenn überhaupt, dann scheint es dich sogar noch entschlossener zu machen. Du überraschst mich auf den Gängen und in der Bibliothek. Manchmal auf dem Rasen. Und beginnst dann die schmeichelhaftesten, alltäglichsten Gespräche. Wir sprechen über das Wetter, das Mittagessen, ob ich lieber Katzen oder Hunde mag.

    »Hunde«, sage ich.

    »Katzen«, sagst du.

    Und auf alles, was ich antworte, folgt ein »Warum?«.

    Warum mag ich Erbsen lieber als Kartoffeln? Warum habe ich lieber ein Fahrrad als ein Auto? Warum Hunde? Warum bin ich Vegetarier? Warum mag ich dunkle Schokolade? Warum lese ich Lyrik? Stelle ich dir diese Fragen, reagierst du zu meiner Überraschung, zu meiner Freude, impulsiv. Du lässt dir keine Zeit. Du magst Rote Bete ihrer Farbe wegen, Katzen wegen ihrer Augen, weiße Schokolade, weil sie nicht wirklich Schokolade ist. Lyrik verwirrt dich. Du antwortest aus dem Bauch heraus. In deinem Alter ist alles Instinkt.

    Du zeigst mir Klassenarbeiten und Aufsätze, Arbeiten, für die du ausgezeichnet wurdest. Ich lobe dich so, wie ich mir vorstelle, dass Eltern es täten. Du magst Sport nicht so sehr, erzählst du mir. Trotzdem zwingt man dich, zu rennen, zu werfen, mitzumachen. Du magst Musik, hast aber keinen Hang dazu, ein Instrument zu spielen.

    »Ich singe gern«, sagst du mir schüchtern.

    »Dann sing mir was vor.«

    »Einfach so?«

    »Einfach so.«

    Wir sind draußen und spazieren einen Weg auf dem Schulgelände entlang.

    »Was soll ich Ihnen vorsingen?«

    »Irgendwas.«

    Du nimmst dir einen Moment Zeit für deine Wahl und beginnst dann zu singen, so leise, dass ich mich in deine Richtung lehnen muss, um dich zu hören. Es ist ein altes Lied aus den 1970er-Jahren. Ich frage mich, woher du es kennst. Vielleicht spielen es deine Eltern zu Hause, und du bist mit dem Lied im Ohr aufgewachsen. Es ist ein Lied über einen Mann, der jemanden anruft, den er geliebt hat und der ihn verlassen hat. Es ist süß und albern und von dir gesungen auch unpassend; aber du singst es bis zum Ende, und ich applaudiere.

    Einmal schenkst du mir eine Blume. Eine volle, schwere Magnolienblüte. Im Regen war sie auf den Boden gefallen und liegt nun nass glitzernd in meiner Hand. Ein pudriges Rosa, satter werdend in der Mitte, am blassesten an den wächsernen Rändern der Kronblätter. Ich stelle sie in eine mit Wasser gefüllte Flasche und nehme sie am Abend mit nach Hause.

    Von deiner Zuwendung bin ich fasziniert und zugleich beunruhigt. Sie ist heftig, wie wenn man in die pralle Mittagssonne kommt. Noch nie war ich bei so etwas auf der Seite desjenigen, der empfängt. Und dann sage ich mir, dass du ein Kind bist. Dass du es nicht besser wissen kannst. Deine Gefühle werden sich in diese Richtungwenden, dann in jene, von Sache zu Sache, von Person zu Person werden sie flattern. Bald schon wirst du all dessen müde werden, und jemand anderes wird dich faszinieren. Doch so schnell scheint sie nicht zu vergehen, deine Zuneigung.

    Ich denke, es ist vielleicht besser, auf Abstand zu gehen, zumindest ein wenig, etwas distanziert zu sein, weniger zugänglich. Schließlich wollen wir nicht, dass du etwas Unberechenbares tust. Also bin ich höflich, aber reservierter. Ich weiche in Räume aus, wenn ich dich den Gang herunterkommen sehe. Ich sage dir, ich hätte zu tun, wenn du mich zufällig in der Bibliothek entdeckst. Ich gehe gemeinsam mit meinen Kollegen aus dem Schulgebäude. Ich sitze vertieft in ein Buch auf dem Rasen. Du scheinst verwundert zu sein, aber keineswegs entmutigt. Doch je mehr du um meine Aufmerksamkeit buhlst, desto weniger schenke ich dir davon. Ein grausamer Tanz, ich fühle mich krank, weiß aber nicht, was ich sonst tun soll.

    An manchen Tagen finde ich Kraniche aus Papier auf meinem Tisch. Manchmal eine Libelle.

    Zunächst habe ich sie gesammelt und auf ein Regal gestellt, ein ungeordneter, unbelebter Zoo. Jetzt versuche ich, dir zu sagen, dass du sie stattdessen mit nach Hause zu deinen Eltern nehmen könntest, um sie zu überraschen, um ihnen eine Freude zu machen. Aber du siehst mich nur schweigend an. Als ich darauf bestehe, sagst du irgendwann, dass du das nicht kannst, und gehst weg.

    Das verstört mich. Aber es ist nichts, wonach ich dich direkt fragen könnte. Zumindest nicht jetzt. Diese Form von Vertrauen haben wir nicht aufgebaut. Ich frage mich, ob wir es je tun werden. Also spreche ich mit den anderen Lehrern, jenen, die dich länger unterrichtet haben, und frage sie, ob sie mehr über dich und dein Leben zu Hause wissen. Es gibt mehrere Vermutungen. Jemand fragt, ob du nicht eine Waise seist. Oder das Kind eines alleinerziehenden Elternteils? Nein, sagen die anderen. Sie glauben, es handele sich um nichts dergleichen. Etwas aber sei ein wenig ungewöhnlich mit den Verhältnissen bei dir zu Hause. Dann ergreift dein Mathematiklehrer das Wort und sagt, dass du, wenn er sich nicht täusche, deine Eltern nicht verloren hast, sondern dass sie woanders leben und du, zumindest während des Schuljahrs, bei deinen Großeltern zu Hause bist. Nicht dass du verlassen wurdest, fügt er hastig hinzu, aber dein Vater arbeitet in einem anderen Bundesstaat, einem mit wenigen, wenn nicht gar ohne Schulen mit gutem Ruf. Mein Herz ist bei dir und deinen Papiergefährten. Seitdem bin ich freundlicher.

    Im Töpfern bist du nicht völlig unbegabt, aber ich ermutige dich mehr, als ich es sonst täte.

    »Das ist eine schöne Kuh«, sage ich lobend.

    Du siehst mich skeptisch an. »Es soll ein Pferd sein.«

    Eilfertig halte ich einen Vortrag darüber, wie Kunst vom Blick des Betrachters abhängt.

    »Also ist es egal, was ich versuche zu machen?«, fragt ein anderer Schüler.

    »Es ist nicht egal. Aber du kannst nicht kontrollieren, für welchen Blick sich andere entscheiden.«

    Du bleibst im Klassenzimmer zurück und drückst dich herum, bis die anderen gehen. Ich frage mich, warum. Dass du mich über die Subjektivität von Interpretationen fragen wirst, glaube ich nicht. Du schlurfst zu meinem Pult, mit Papieren und Büchern in deinen Händen. Dein Haar, für gewöhnlich zu Zöpfen geflochten, ist aufgegangen, die Schleife hängt an deinem Arm. Du bist zwölf, aber deine Gliedmaßen scheinen nicht zu deinem Alter zu passen, so als würden sie sich erst in einem Jahrzehnt angleichen. Du wirst groß sein und schön, dessen bin ich mir sicher, auch wenn du jetzt schlaksig bist, ungelenk und staksig. Du siehst mich an, deine

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