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Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Aktualisiert und mit einem neuen Nachwort
Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Aktualisiert und mit einem neuen Nachwort
Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Aktualisiert und mit einem neuen Nachwort
eBook364 Seiten4 Stunden

Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Aktualisiert und mit einem neuen Nachwort

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Über dieses E-Book

Diese freche, facettenreiche, lustvoll erzählte Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts, eine Geschichte von Aberkennung und Aneignung, ist längst zum Standardwerk geworden.

Was nicht existiert, benötigt keinen Namen, und was keinen Namen hat, existiert nicht. Das ist die Ausgangsthese von Mithu M. Sanyals bahnbrechender Studie über die Vulva.

Sie sucht nach der Geschichte der Vulva und stößt in vergessenen Quellen auf fast sakrale Wertschätzung genauso wie auf hasserfüllte Diffamierung. Sie erzählt von Baubo, die in der griechischen Mythologie die Menschheit durch die Enthüllung ihres Genitals rettete, findet zahlreiche Darstellungen selbst in der mittelalterlichen Kunst, geht auf gewaltsame Verstümmelungen ebenso wie auf die Mode der Vaginalverjüngung ein, untersucht Schleiertanz und Striptease sowie die subversiven Performancekünstlerinnen Valie Export oder Annie Sprinkle.

Eine kulturgeschichtliche Pionierarbeit für Leser jeden Geschlechts. Unterhaltsam, intelligent, provokativ, notwendig.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Dez. 2018
ISBN9783803142443
Vulva: Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Aktualisiert und mit einem neuen Nachwort
Autor

Mithu M. Sanyal

Dr. Mithu M. Sanyal, Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin und freie Journalistin für zahlreiche Medien, verfasste u.a. die Sachbücher »Vulva« (Wagenbach, 2009) und »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« (Nautilus, 2016), das mit dem Preis Geisteswissenschaften international ausgezeichnet wurde. Ihr Debütroman »Identitti« (Hanser. 2021) wurde mit dem Ernst Bloch Preis und dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2022 erschien »Mithu Sanyal über Emily Bronte« bei KiWi.

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    Buchvorschau

    Vulva - Mithu M. Sanyal

    Anatomisch betrachtet besteht das primäre weibliche Geschlechtsorgan aus drei Einheiten:

    – dem sichtbaren, äußeren Teil: der Vulva,

    – der Körperöffnung, die den äußeren und den inneren Teil miteinander verbindet: der Vagina,

    – sowie dem inneren, nicht sichtbaren Teil: dem Muttermund, der Gebärmutter und den Eierstöcken. In Umgangs- und Fachsprache kommt die Vulva jedoch nahezu nicht vor. Stattdessen wird der Begriff Vagina verwendet. Dadurch bleibt von dem sichtbaren weiblichen Genital nur ein Loch übrig.

    Montage von Christian Ahlborn: Vulva = Loch (Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers)

    E-Book-Ausgabe 2018

    Vulva erschien erstmals 2009 im Verlag Klaus Wagenbach in Berlin.

    © 2009, 2017 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Str. 40/41, 10719 Berlin Umschlaggestaltung Julie August unter Verwendung der Photographie Judith von Georg Bochem. Reihenkonzept: Rainer Groothuis. Das Karnickel auf Seite 1 zeichnete Horst Rudolph.

    Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

    Alle Rechte vorbehalten.

    Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 9783803142443

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 9783803127693

    www.wagenbach.de

    Einleitung

    Dies ist eine kleine Kulturgeschichte des Abendlandes – allerdings anhand der Darstellung des weiblichen Genitals in Alltag, Folklore, Medizin, Mythologie, Literatur und Kunst. Das mag auf den ersten Blick irritierend erscheinen. Reicht es nicht, dass es Kulturgeschichten des Küssens oder der Teekanne gibt? Welcher Erkenntnisgewinn soll nun durch die Vulva erzielt werden? Auf solche Einwände lässt sich erwidern, dass zwar jeder sein eigenes Konzept des Küssens oder der Teekanne haben mag, allerdings kaum jemand leugnen würde, dass es diese Phänomene gibt. Anders beim weiblichen Genital, so schreibt der Psychoanalytikerstar Jacques Lacan:

    Strenggenommen, werden wir sagen, gibt es keine Symbolisierung des Geschlechts der Frau als solches. Auf jeden Fall ist die Symbolisierung nicht die gleiche, hat nicht die gleiche Quelle, hat nicht die gleiche Zugangsweise wie die Symbolisierung des Geschlechts des Mannes. Und das, weil das Imaginäre nur eine Abwesenheit liefert, dort wo es anderswo ein sehr hervorragendes Symbol gibt (Abb. 1).¹

    Oder in einem Satz: Hast du keinen Penis, hast du kein ›richtiges‹ Geschlechtsorgan. Eine Aussage, die so offensichtlich falsch ist, dass sie schon wieder einen gewissen absurden Charme hätte, wenn Lacan damit nicht in einer Linie mit den prägenden Denkern des Abendlandes stünde. Nach Aristoteles verfügte nur der Mann über genug Energie, um vollständige Geschlechtsteile zu entwickeln. Galen sah das weibliche Genital als invertiertes männliches Genital. Und Sigmund Freuds Haltung kann man auf die Formel bringen: Man nehme einen Menschen – also einen Mann –, entferne den Penis und erhalte so eine Frau. Auch aktuellere Theoretiker wie etwa Jean Baudrillard und Roland Barthes erklären, wenn sich Frauen öffentlich entkleiden, wie etwa beim Striptease, könnten sie dabei nicht ihr Geschlecht, sondern einzig und allein ihren Mangel enthüllen, sprich das Fehlen eines Phallus. Die Vulva wird als Loch, Leerstelle oder Nichts beschrieben. Im besten Fall fungiert sie als ungenügender Penis.

    Je nach Temperament mag Frau das amüsant oder ärgerlich finden. Doch was bedeutet die Leugnung einer biologischen Tatsache wie der Vulva für die Wahrnehmung ganz konkreter Körper? Bei einer Versuchsreihe, die ich an verschiedenen Gruppen von Wissenschaftlerinnen durchführte, stellte ich fest, dass sie alle Penisse zeichnen konnten, jedoch keine eine wiedererkennbare Vulva zustande brachte. Das faszinierte mich. Wieso konnten diese hochgebildeten Frauen problemlos männliche Genitalien reproduzieren, während ihre eigenen Genitalien für sie so fremd und geheimnisvoll waren, dass sie sie nicht einmal rudimentär nachzeichnen konnten? Dabei fiel mir auf, dass sie und auch ich Bilder der Vulva – abgesehen von medizinischen Illustrationen – nur als Produkte der Porno- oder Hygieneindustrie zu sehen bekommen. So beschloss ich, mich auf die Suche nach dem symbolischen Ort zu machen, den die Vulva in unserer Kultur besetzt.

    Als Erstes sprang mir der eklatante Widerspruch ins Auge, dass das weibliche Geschlecht einerseits gar nicht da sein oder doch zumindest unbedeutend und unsichtbar sein soll, während es gleichzeitig als ›schwarzes Loch‹ und ›klaffender Abgrund‹ erscheint, als »Tor zur Hölle, Quelle allen Zwists und Ärgers auf der Welt und möglicher Untergang des Mannes«.² Die eindringlichste Illustration dafür ist die mit spitzen, blutbeschmierten Zähnen bewaffnete Vagina, die derart häufig in Mythen und Legenden auftaucht, dass sie sogar einen eigenen Namen hat: vagina dentata. Wo immer die vagina dentata auftaucht, droht sie den Penis zu dem zu machen, wozu der phallische Blick die Vulva degradiert hat, nämlich zu einer Absenz, einem Loch, einer Leerstelle – indem sie ihn abbeißt. Wie kann etwas, das vermeintlich gar nicht existiert, eine solche Gefährdung darstellen? Wir haben es hier mit etwas zu tun, das ich ein ›kulturelles Flimmern‹ nenne: Wenn zwei Konzepte konträr zueinander stehen – wie Farben, die sich am entgegengesetzten Ende des Spektrums befinden –, erzeugen sie, sobald sie zusammenkommen, eine ständige Irritation. Das sind immer hochspannende Phänomene, die darauf hinweisen, dass sich dahinter noch andere Schichten verbergen.

    So finden sich in den meisten Mythologien Geschichten, in denen die Menschheit mindestens einmal durch die Zurschaustellung der Vulva gerettet wurde. Es gab den festen Glauben, dass Frauen, indem sie ihre Röcke heben, Tote erwecken und sogar den Teufel besiegen konnten. Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort. Die Vulva wurde nicht etwa übersehen, sondern mit gewaltiger Anstrengung zuerst diffamiert und daraufhin verleugnet, bis zu der irrigen und irren Auffassung, sie sei nicht der Rede wert (Abb. 2).

    Zum Glück lässt sich nichts hundertprozentig verdrängen. Sodass ich im Laufe meiner Recherchen Verweise auf das primäre weibliche Geschlechtsorgan plötzlich überall in der Literatur und Kunst des Abendlandes entdeckte, also in jenen Medien, mit denen unsere Kultur sich darstellt und sich selbst erklärt. Allerdings waren diese Verweise meist verzerrt und kaum lesbar. Was jedoch nicht verstanden wird, kann auch nicht gestaltet und vor allem nicht umgestaltet werden.

    Und genau darum geht es in diesem Buch. Es ist der Versuch, die kulturelle Bedeutung des weiblichen Genitals zu rekonstruieren und die Anstrengungen sichtbar zu machen, die unternommen werden mussten, um die Vulva zu verdrängen, da an ihrer Re/Präsentation der Kampf um die Definitionsgewalt über den weiblichen Körper ausgetragen wurde. (Wobei Körper in diesem Fall eine Metonymie für das ist, was wir als ›weiblich‹ definieren. Das ist wichtig zu unterscheiden, schließlich handelt es sich hier um die Untersuchung eines kulturell umkämpften Bereichs und nicht um eine erneute Gleichsetzung der Konzepte ›Frau‹ und ›Körper‹.) Vor allem aber will ich die Gegenbewegungen würdigen, die das ›unsichtbare Geschlecht‹ durch die Jahrhunderte in Wort und Bild sichtbar gemacht haben. Denn, wie der indianische Schriftsteller und Pulitzerpreisträger Natachee Scott Momaday schrieb: »Wir sind unsere Vorstellungen. [...] Unsere schiere Existenz besteht aus den Bildern, die wir uns von uns selbst machen [...]. Das Schlimmste, was uns zustoßen kann, ist, dass es keine Vorstellungen von uns gibt.«³

    Abb. 1 Carolee Schneemann: Vulva’s Morphia, Installation, 1981–1995, 244,8 cm×152,5cm, Textauszug im Bildnachweis S. 244.

    Abb. 2 Charles Eisen, Kupferstich zu einer Fabel von Jean de Lafontaine

    Shaming and Naming

    Die englische Redewendung naming and shaming bedeutet übersetzt: ›öffentliches Bloßstellen‹. In der Regel wird sie noch von einem dritten gleichklingenden Wort begleitet, nämlich blaming, also ›Schuld zuschreiben‹ oder ›verurteilen‹. Die britische Regierung nutzt die Strategie des naming and shaming derzeit extensiv, um Bilder von mutmaßlichen oder tatsächlichen Straftätern in der Presse, auf Webseiten und Baumstämmen zu platzieren, und erzeugt damit keineswegs nachbarschaftlichen Zusammenhalt, sondern vielmehr explosionsartige Gewalt gegen die ›Beschämten‹ (und Menschen, die das Pech haben, ihnen ähnlich zu sehen). Dasselbe geschah im großen Stil mit der Vulva. Nur dass ihre Bilder eben nicht weithin verbreitet wurden, sondern das öffentliche Bloßstellen mit einer öffentlichen Verschleierung und Fehlbezeichnung einherging: ›shaming and re-naming‹ also.

    Die Journalistin Gloria Steinem erinnert sich:

    Ich komme aus der ›Da-unten‹-Generation. ›Da unten‹, das waren die Worte – nur selten und mit gedämpfter Stimme ausgesprochen –, mit denen die Frauen in meiner Familie alle weiblichen Geschlechtsorgane, innere wie äußere, bezeichneten. [...] [Ich] habe keine korrekten Bezeichnungen gehört, ganz zu schweigen von Wörtern, die Stolz auf diese Körperteile ausdrückten. [...] So wurde mir, ob ich nun sprechen oder schreiben oder Hygiene lernte, die richtige Bezeichnung für jeden unserer wunderbaren Körperteile beigebracht – außer für die in der unaussprechlichen Gegend. Dies machte mich schutzlos gegenüber den beschämenden Ausdrücken und schmutzigen Witzen auf dem Schulhof und, Jahre später, gegenüber dem weit verbreiteten Glauben, dass Männer, ob als Ärzte oder als Liebhaber, mehr über den weiblichen Körper wissen als die Frauen selbst.

    Gloria Steinem wuchs in den 1930er und 1940er Jahren in Ohio auf. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich eklatant von denen später geborener Mädchen, wozu sie als zentrale Figur der Frauenbewegung und Mitgründerin der feministischen Zeitung Ms – benannt nach der damals revolutionären Selbstbezeichnung von Frauen, die sich nicht mehr entweder als ›Miss‹/›Fräulein‹ oder ›Mrs‹/›Ehefrau von‹ anreden lassen wollten – selbst maßgeblich beigetragen hat. Trotzdem erschien noch im März 2006 ein Buch in Deutschland, das doch angeblich so viel weniger prüde ist als Amerika, mit dem keineswegs ironisch zu verstehenden Titel: Ich nenne es Da unten– Frauen erzählen über ihre Vagina, die Lust und den Sex.⁵ Auch die Frauenzeitung Woman bezeichnete das weibliche Genital in ihrem Heft 3/2006 als »Unsere Wissenslücke«⁶ und fuhr jovial fort: »Wir haben uns schlaugemacht in Sachen Bezeichnungen, Funktion und Pflege. Und jetzt bitte nicht verschämt die Beine übereinanderschlagen!«⁷ Bei den Bezeichnungen, mit denen Woman aufwartete, kam ›da unten‹ an erster Stelle, dicht gefolgt von ›zwischen den Beinen‹. Das einzig halbwegs Originelle, mit dem die Journalistinnen, die den Artikel zusammengestellt hatten, aufwarteten, war die Erklärung, warum sie die Bezeichnung ›Vulva‹ ablehnten: Sie erinnerte sie an eine schwedische Automarke.

    Ist der Gebrauch des Wortes Vulva schon schwierig, dann ist derjenige von cunt – oder auf Deutsch ›Fotze‹ – absolut verpönt, wie die Autorin Inga Muscio feststellen musste, als sie unter einen ihrer Artikel die Wortzahl tippen wollte, aber das ›o‹ in word count vergaß:

    Ich betrachtete die beiden Wörter nebeneinander und fand, dass ›word cunt‹, also ›Wort Fotze‹ ein hervorragender Titel für eine Autorin wäre. Die Handvoll Menschen, die meine Originalmanuskripte zu Gesicht bekamen, reagierten entsetzt und fragten, warum ich ausgerechnet diese beiden Wörter unter meine Artikel setzte. Nachdem ich Verlagsassistenten, Redakteuren, Korrekturlesern und Empfangsdamen meine Beweggründe erklärt hatte, begann ich mir Gedanken über die tatsächliche, kontext-unabhängige Macht von ›cunt‹ zu machen.

    Tatsächlich ist die Bezeichnung für das weibliche Genital in seiner vulgären Form das heftigste Schimpfwort, mit dem die englische Sprache aufwarten kann. In den Medien ist cunt sogar noch unaussprechlicher als fuck. Man muss nur an die Kontroverse denken, die die BBC im Januar 2005 auslöste, als sie in Jerry Springer – The Opera die Worte »cunting, cunting, cunting, cunting cunt« (Deutsch etwa: hinterfotzige Fotze) als Beschreibung für den Teufel über den Äther schickte. Wenn jedoch nicht einmal der Teufel etwas mit dem weiblichen Genital zu tun haben will, dann muss damit etwas ernsthaft im Argen liegen. Dabei drückte das alte englische Wort cunt in seiner ursprünglichen Bedeutung ›heiliger Ort‹ die höchste Wertschätzung aus; es ist etymologisch eng mit queen, kin und country verwandt – also mit Königin, Sippe und (Mutter-)Land. Nach der Eroberung Englands durch die Normannen wurde cunt offiziell durch den lateinischen Begriff vagina ersetzt, hielt sich jedoch hartnäckig im Sprachgebrauch. Der englische Poet und Philosoph des 14. Jahrhunderts Geoffrey Chaucer benutzte es in zahlreichen Schreibweisen – queynte, queinte – in seinen Canterbury Tales, und in London gab es eine Straße mit dem sprechenden Namen Gropecunt Alley, wo Prostituierte auf ihre Kunden warteten. Erst im frühen 18. Jahrhundert wurde der ›heilige Ort‹ verfemt. Der endgültige Siegeszug der Vagina begann.

    Vagina

    Zusammen mit ihrer direkten Übersetzung ›Scheide‹ ist Vagina auch im Deutschen die häufigste und akzeptierteste Bezeichnung für das weibliche Genital. Wie bereits erwähnt, bezieht sich Vagina jedoch ausschließlich auf die Körperöffnung, die die Vulva mit den inneren Geschlechtsorganen verbindet. Damit wird nicht nur der gesamte sichtbare Teil des weiblichen Genitals sprachlich unsichtbar, es hat so auch keine eigenständige Bedeutung mehr, ist nur ein Loch, in das der Mann sein Genital stecken kann, oder, um im Bild zu bleiben: eine Scheide für sein Schwert. Und genau daher kommt der Begriff, denn in der Anatomie war es üblich, Analogien zur Namensgebung zu verwenden. Der italienische Anatom und Chirurg Matteo Realdo Colombo, der das Wort ›Vagina‹ 1599 in die Medizin einführte, begründete seine Wahl in der Abhandlung De Re Anatomica mit der Beschreibung des weiblichen Sexualorgans als: »desjenigen Teils, in den der Spieß eingeführt wird wie in eine Scheide.«⁹ Das ist umso bemerkenswerter, als von Colombo beispielsweise auch die Bezeichnung labia minora – ›innere Schamlippen‹ – stammt. Offensichtlich war er also durchaus in der Lage, die Vulva zu sehen, zu beschreiben, nicht jedoch zu erkennen. Mit dieser selektiven Blindheit war er nicht alleine. So beschreibt Barbara Walker in ihrer Enzyklopädie des Geheimen Wissens der Frauen:

    [B]ei einem Hexenprozess im Jahre 1593 entdeckte der untersuchende Scherge (ein verheirateter Mann) offensichtlich zum ersten Mal eine Klitoris und identifizierte sie als ein Teufelsmal, sicherer Beweis für die Schuld der Angeklagten. Es war ein ›kleines Stück Fleisch, herausstehend, als ob es eine Zitze sei, ein halber Zoll lang‹, was der Henkersknecht ›beim ersten Blick davon bemerkte, aber es war versteckt, denn es lag an einem sehr geheimen Ort, den anzusehen unschicklich war; jedoch am Ende, da er nicht bereit war, eine derart seltsame Sache zu verschweigen‹, zeigte er dieses Ding mehreren Zuschauern. Die Zuschauer hatten noch nie zuvor so etwas gesehen. [sic!]¹⁰

    Das ist zumindest überraschend, da die Akten der ›peinlichen‹ Befragungen und die Gestaltung von Folterwerkzeugen wie der Vaginalbirne oder der Judaswiege¹¹ zeigen, dass das Interesse an dem tabuisierten Genital enorm war. Der Arzt und Philosoph Ludwik Fleck brachte in den 1930er Jahren den Mechanismus, dass nur wahrgenommen werden kann, was auch wahrgenommen werden darf, auf die Formel: »In der Naturwissenschaft gibt es gleichwie in der Kunst und im Leben keine andere Naturtreue als die Kulturtreue.«¹²

    Doch auch bevor Anatomen und Ärzte das weibliche Genital im 17. Jahrhundert auf die Vagina reduzierten, waren sie keineswegs präziser in Bezug auf den ›unaussprechlichen Bereich‹. Gynäkologische Werke zeichneten sich durch vage Euphemismen wie sinus pudoris – ›Höhle der Schamhaftigkeit‹ – und ernsthafte Begriffsverwirrungen aus. ›Vulva‹ wurde wahlweise entweder für die Vulva, die Vagina oder den Uterus oder für alles zusammen verwandt. Da die Kirche die Auffassung vertrat, die weiblichen Geschlechtsorgane seien ohnehin nur zur Fortpflanzung gut, galt das Hauptinteresse der Forscher der Gebärmutter, wo die Unklarheiten jedoch genauso evident waren. So gab es ernsthafte Beschreibungen, nach denen das Jungfernhäutchen den Penis davon abhalten solle, in den Uterus einzudringen.¹³

    Da Sprache das System ist, mit dem wir uns in der Welt orientieren und Bewertungen vornehmen, geht das Verschwinden von wertschätzenden oder schlicht präzisen Bezeichnungen stets mit dem Verschwinden eines wertschätzenden Umgangs einher, spiegelt dieses wider oder bereitet es vor. Und da Menschen sich so stark über ihre Geschlechtsorgane identifizieren, dass sie sich aufgrund dieser sogar in zwei grundlegende Gruppen unterscheiden – Männer und Frauen –, sind Aussagen über Geschlechtsorgane in der Regel als Aussagen über das gesamte Geschlecht zu lesen. Der römische Arzt Claudius Galenus (129–199 n. Chr.), genannt Galen, der bis in die Renaissance die absolute Autorität auf dem Gebiet der europäischen Gesundheitslehre blieb, erklärte:

    Ebenso wie die Menschheit die vollkommenste aller Tiergattungen ist, so ist innerhalb der Menschheit der Mann vollkommener als die Frau [...]. Die Frau ist in Bezug auf die der Fortpflanzung dienenden Teile weniger vollkommen als der Mann. [...] Natürlich darf man nicht glauben, dass unser Schöpfer die Hälfte der ganzen Spezies absichtlich unvollkommen und, wie es der Fall ist, verstümmelt geschaffen hätte, wenn nicht in solch einer Verstümmelung irgendein großer Vorteil läge.¹⁴

    Dieser Vorteil lag laut Galen in der vermeintlichen Disposition der Frau zur Unterordnung und zum Dienen. Die Überlegenheit der männlichen Geschlechtsorgane erklärte Galen, aufbauend auf Aristoteles, mit der größeren inneren Hitze des Mannes¹⁵ – ein Konzept, das über mehr als tausend Jahre kolportiert wurde und sich zum Beispiel noch in dem mittelalterlichen Kompendium Secreta Mulierum wiederfindet, dessen Autor mahnt, die Frau würde dem Mann beim Geschlechtsakt Wärme – symbolisiert durch den heißen Samen – entziehen, sodass ein Mann, der zu viel Sex mit Frauen hätte, schwach und debil würde.¹⁶

    Zwar sah Galen die Frau nicht als unmittelbare Bedrohung für den Mann, wie sein vehementer mittelalterlicher Kollege Pseudo-Albertus Magnus, dafür aber als schwach, verkrüppelt und im eigentlichen Sinne unmenschlich. Denn nur der feurige männliche Fötus sei in der Lage, seine Genitalien nach außen zu stülpen und damit ein vollständiger Mensch zu werden, während die weiblichen Geschlechtsorgane invertiert und unterentwickelt im Körper verblieben. Pseudo-Albertus Magnus führte diesen Gedankengang weiter: »Wenn bei diesem Prozess ein weibliches Kind entsteht, liegt das daran, dass bestimmte Faktoren die Bestimmung des Körpers verhindert haben, deshalb heißt es, dass die Frau von ihrer Natur her kein Mensch ist, sondern eine Missgeburt.«¹⁷

    Die Vorstellung des weiblichen Geschlechts als identischer Entsprechung des männlichen, nur eben innerhalb des Körpers, hielt sich hartnäckig. So stellte Andreas Vesalius Mitte des 16. Jahrhunderts in seinem Grundlagenwerk der modernen Anatomie De Humani Corporis Fabrica die gesamten weiblichen Genitalien als riesigen Penis dar, mit der Vulva als Eichel. Und Vesalius’ Nachfolger auf dem Anatomielehrstuhl in Padua, Prospero Borgarucci, hatte auf die Frage, warum »die weise Natur bei den Frauen nicht in gleicher Weise wie bei den Männern die Hoden außen gepflanzt habe«,¹⁸ eine Antwort, die die ›minderwertige‹ Physiognomie der Frau mit ihrer ebenso ›minderwertigen‹ Psychologie verband (Abb. 3):

    Im Wissen um die Unbeständigkeit und den Hochmut der Frau, und um auf diese Weise ihren dauernden Wunsch nach Herrschaft zu unterbinden, beließ die Natur die Frau so, dass jedes Mal, wenn diese an ihren vermeintlichen Mangel denkt, sie im Gegenteil umso sanftmütiger, demütiger und schließlich schamhafter als irgendein anderes Wesen auf der Welt werden müsste. Kein anderer Grund ist dafür anzunehmen, dass die Natur die Geschlechtsteile bei der Frau im Inneren gelassen hat, als dass sie damit deren hochmütiges Verlangen zügeln wollte.¹⁹

    Noch bis ins 18. Jahrhundert wurden die Eierstöcke als ›weibliche Samenleiter‹ beschrieben. »Das bedeutet schlicht, dass eine veraltete und willkürliche Doktrin diktierte, der Mann sei die Norm, an der sich die Frau orientieren müsse, und sein Penis der Maßstab für ihre Genitalien«,²⁰ resümiert Catherine Blackledge in ihrem Buch The Story of V. Strenggenommen müssten wir also sagen, dass der abendländische Diskurs gar nicht auf Zweigeschlechtlichkeit basiert, sondern auf Eingeschlechtlichkeit, da ein Geschlecht gesetzt wurde, nämlich das männliche, und das weibliche ausschließlich in Abgrenzung dazu konstruiert wurde. Damit war die Frau die Trägerin der Geschlechterdifferenz. Sie war – minderwertige – Abweichung von der Norm und – da ein vollständiger Mensch ohne Penis nicht gedacht werden konnte – die Kastrierte.²¹

    Nun passte die Analogie Vagina=invertierter Penis zwar wunderbar ins Weltbild, aber irgendwann nicht mehr zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Ergebnis war, dass nicht etwa das Denkmuster hinterfragt wurde, sondern eine neue Analogie herhalten musste, nämlich Klitoris = kleiner Penis. Diese neue Analogie ging maßgeblich auf den italienischen Arzt und Botaniker Gabriello Fallopio zurück, den ›Entdecker‹ der Eileiter, die seitdem seinen Namen tragen – Fallopische Tuben.

    Fallopio, der 1561 als Erster die Klitoris detailliert beschrieben und durch anatomische Schnitte ihre tieferliegende Struktur offenbart hatte, widersprach Galen an zentralen Punkten, trotzdem übernahm er dessen Gleichung von Klitoris und Penis kritiklos. Das dachte er zumindest. Dabei hatte Galen die Klitoris in seinen Werken überhaupt nicht erwähnt. Doch da die medizinischen Texte des Altertums aus dem Griechischen erst ins Lateinische übersetzt wurden, dann aus dem Lateinischen ins Arabische und schließlich aus dem Arabischen wieder zurück ins Lateinische – und die Bezeichnungen für das weibliche Genital, wie bereits ausgeführt, alles andere als eindeutig waren –, war es kein Wunder, dass sich Übersetzungsfehler einschleichen konnten. Sehr wohl verwunderlich ist dagegen, dass dieser Irrtum bis zum Ende des 20. Jahrhunderts unentdeckt blieb. Dabei ist die einzige Ähnlichkeit zwischen Penis

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