Sagte mal ein Dichter: Holger Biege. Die Biografie
Von Wolfgang Martin
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Biege schildert Wolfgang Martin die "Achterbahnfahrt" des Lebens seines Freundes Holger Biege.
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Buchvorschau
Sagte mal ein Dichter - Wolfgang Martin
Prolog
Es war der 26. April 2018, ein Donnerstag, morgens, als ich in den Nachrichten des rbb hörte, HOLGER BIEGE sei gestorben, am Tag zuvor, am Mittwoch, den 25. April 2018, »nach langer schwerer Krankheit im Alter von nur 65 Jahren«.
Ich war im Auto unterwegs und musste erst einmal rechts ranfahren und anhalten, um die Tränen aus den Augen zu wischen und zu realisieren, was ich da soeben gehört hatte. Im Abstand von jeweils 30 Minuten hörte ich die Meldung – jedes Mal ein wenig anders formuliert – auf vier Hörfunkwellen des rbb: auf Radio Eins, Antenne Brandenburg, Inforadio und Radio Berlin 88,8. Im weiteren Verlauf der Programme wurden auch Lieder von ihm gespielt.
Aber da war ich längst zu Hause und hatte mir schon die Schallplatten und CDs von Holger Biege aus dem Regal genommen, um sie eine nach der anderen gemeinsam mit meiner Frau zu hören. Ich hatte sie lange nicht gehört, das letzte Mal 2013, nachdem mich Holger und seine Frau Cordelia gebeten hatten, den Booklet-Text für die von Jörg Stempel (dem letzten AMIGA-Chef) veröffentlichte 5-CD-Box Holger Biege – Die Original-Alben zu schreiben. Das war ein Jahr nach der ersten furchtbaren Nachricht, dass Holger einen Schlaganfall erlitten hatte, am 20. Juni 2012, und darum sämtliche geplante Projekte rund um seinen 60. Geburtstag, ein neues Album und Konzerte, verschieben musste.
Trotz zwischenzeitlicher Erhellungen und Verbesserungen seines Gesundheitszustandes mussten Holger und seine Familie immer wieder Rückschläge hinnehmen, von denen er sich leider nicht mehr erholte.
Immer wieder schimmern Tränen durch beim Hören seiner Songs, wandern die Gedanken zurück zu gemeinsam Erlebtem, vor allem an den Anfang unserer Freundschaft Ende der 1970er Jahre … manchmal unterbrochen durch das nochmalige Hören einiger Lieder, deren Texte so viel aus dem Inneren des Menschen und Künstlers Holger Biege hervorbringen. Geschrieben wurden sie in der ersten Hälfte seines künstlerischen Schaffens von anderen Autoren, von INGEBURG BRANONER und FRED GERTZ für die ersten beiden AMIGA-Platten. Für seine erste ›West‹-Platte schrieb Erfolgsautor MICHAEL KUNZE die Texte, der vor allem für seine großartigen Lyrics für UDO JÜRGENS steht, den bedeutendsten deutschsprachigen Interpreten überhaupt.
Nach der Wende wurde zunächst WERNER KARMA, der einzigartige SILLY-Texter, sein Partner, für das 1994 veröffentlichte Album Leiser als laut. Dieses enthielt auch Texte, die Karma schon 1982 geschrieben hatte, für das damals in der DDR geplante dritte Album, das aber nicht zustande kam, weil Holger aus Gründen, die später im Buch eine Rolle spielen werden, seinen künftigen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt von Ost nach West verlegte. Inzwischen schrieb Holger aber eine Vielzahl der Texte selbst.
Schon in frühester Jugend hatte er diesen unglaublich hohen Anspruch an sich selbst und an alle, die mit ihm arbeiteten. Oft gab es auch die Momente großer Unsicherheit und innerer Zerrissenheit in seinem Leben. Das verband Holger Biege mit den ganz Großen der Musikgeschichte, von denen einige zu seinen ›Lehrmeistern‹ gehörten. Daraus schöpfte er seine Kreativität und schließlich so viele zeitlose Lieder, von »Sagte mal ein Dichter« über »Deine Liebe und mein Lied«, »Reichtum der Welt« bis »Will alles wagen«, das als Motto über seinem bewegten Leben stehen könnte:
»Will alles wagen, will mich erkennen,
will mein Leben leben bis zum Grund,
will in die Höhen, will in die Tiefen,
will, dass mir da kein Geheimnis bleibt.«
(Text von Ingeburg Branoner)
Am meisten gelitten hat Holger Biege wohl darunter, dass es immer wieder Umstände gab, die seinem künstlerischen Ehrgeiz und seiner Kreativität buchstäblich im Wege standen, ja manchmal er selbst. Da war diese ständige Unzufriedenheit, es könnte nicht gut genug sein, so dass er sogar fertige Partituren wieder verwarf. Aber am meisten hinderten ihn die äußeren Umstände daran, das Bestmögliche zu schaffen, immer noch besser – und damit meinte Holger Biege vor allem authentischer – zu werden. Auch unverwechselbar. Aber das hatte er eigentlich bereits mit seinen ersten beiden Soloalben Wenn der Abend kommt (1978) und Circulus (1979) geschafft. Kein Journalist sollte fortan mehr Vergleiche mit möglichen Vorbildern finden, denn Holger Biege hatte seinen eigenen unverwechselbaren Stil kreiert. Nur die fehlende Kontinuität, auch wegen der »äußeren Umstände«, sind wohl schuld daran, dass man den Musiker Holger Biege immer wieder – auch längere Zeit – aus den Augen (und Ohren) verlor.
In der DDR waren es vor allem die Künstler-Gängelung, die Ideologisierung der Kunst durch die Prinzipien des Sozialistischen Realismus, die Kontrollmaßnahmen der Zensur durch sogenannte Lektorate sowie die Unlust, jahraus, jahrein seine Konzerte nur zwischen Rostock und Suhl zu absolvieren, obwohl Holger sein Publikum liebte.
In einem Interview mit der Journalistin Waltraud Heinze für die Zeitung Junge Welt am 6. Januar 1990 reflektierte Holger Biege die Gründe für seinen Weggang aus der DDR im Jahr 1983:
»Ich bin nicht wegen der großen Karriere in den Westen gegangen, sondern weil ich den Druck hier nicht ertragen habe. Und da wird es mir ähnlich ergangen sein wie vielen, die im Sommer 1989 über Ungarn in die BRD kamen. Die meisten empfanden doch die Stagnation als unerträglich, diesen Weg in die Leere, alles war vorgeplant, registriert, reglementiert – so sind die Menschen aber nicht! Ich sah 1983 nicht mehr, wie diese Unbeweglichkeit zu durchbrechen ist. Wollte einfach nur so leben, wie ich glaubte, leben zu müssen. Mit meinen eigenen Ordnungsprinzipien. Wesentlich war für mich, dass ich menschlich bleibe und eine Arbeit mache, von der ich überzeugt bin. Aber wer seinen eigenen Kopf hatte, bekam einen Dämpfer. Da wurden Konzerte boykottiert, Interviews verfälscht, da gab’s Psychoterror durchs Telefon oder Auftrittsverbot im Bezirk Neubrandenburg wegen eines Podiumsgesprächs nach einem Auftritt …«
Im Westen waren es andere Gründe, vor allem die von kommerziellen Erwartungen geprägten Marktbedingungen, die einem Künstler wie Holger Biege im Wege standen. Und es darf schon als besondere Tragik eines schwerwiegenden Kapitels der deutsch-deutschen Kulturgeschichte – angefangen November 1976 mit der Ausbürgerung WOLF BIERMANNS bis zum Mauerfall am 9. November 1989 – gewertet werden, dass die meisten Künstler – ob Musiker, Literaten oder Schauspieler – nur für den kurzen Zeitraum ihres ›politisch motivierten Übertritts von Ost nach West‹ im Fokus der bundesdeutschen Medien und damit der gesamtgesellschaftlichen Aufmerksamkeit standen. Dazu gehörten viele einstige Stars der DDR-Musikszene wie die Sängerinnen REGINE DOBBERSCHÜTZ (Soundtrack zu Solo Sonny) und CHRISTIANE UFHOLZ (unter anderem bei KLAUS LENZ und der Gruppe LIFT), die Blues-Musiker JOHANNES BIEBL und STEFAN DIESTELMANN oder der begnadete Komponist, Arrangeur, Pianist und Keyboarder FRANZ BARTZSCH … und eben auch Holger Biege.
1984 gab es wenigstens noch einen verheißungsvollen Anfang, auch in der Zusammenarbeit von Bartzsch und Biege, für das von Polydor veröffentlichte Album Das eigene Gesicht. Andere Künstler, beispielsweise aus dem Umfeld der 1975 in Leipzig verbotenen RENFT-Combo, wie das Liedermacher-Duo PANNACH/KUNERT, fanden neue Nischen oder willigten in einen teilweise schmerzhaften ›Imagewechsel‹ ein, etwa VERONIKA FISCHER.
Trotz toller Jazzalben (unter anderem mit PETER HERBOLZHEIMER) fand die Musikkarriere des DDR-Superstars MANFRED KRUG bis zur Wende im Westen nur wenig Beachtung. Aber natürlich blieb er als Schauspieler – wie auch ANGELICA DOMRÖSE, HILMAR THATE, KATHARINA THALBACH und einige andere – ein erfolgreicher und populärer Künstler. Lediglich NINA HAGEN und ARMIN MUELLER-STAHL schafften nach ihrem Weggang aus der DDR sogar eine Weltkarriere.
Während Holger Biege in den 1990er und 2000er Jahren vor allem Konzerte gab – auch wieder in seiner alten Heimat – sowie an neuen Songs arbeitete, die er zunehmend komplett allein schrieb und aufnahm, wollte er 2012, im Jahr seines 60. Geburtstages, noch einmal komplett durchstarten. Ein neues Album war fast fertig ebenso wie die Dramaturgie für ein neues Soloprogramm, Termine waren gebucht, Interviews vereinbart, als Familie und Fans die schockierende Nachricht traf, Holger Biege habe einen Schlaganfall erlitten. Alle Projekte mussten verschoben werden, weil die Ärzte eine lange und komplizierte Reha voraussagten. Dass es noch schlimmer kommen würde, ahnte zu dieser Zeit niemand.
Holger starb, ohne seine Projekte vollenden zu können und noch einmal am geliebten Flügel auf den Bühnen des Landes seine wunderbaren Lieder zu singen.
Das tun nun andere, zum Beispiel sein Bruder Christian, bekannt als GERD CHRISTIAN. Ihm bin ich zu großem Dank verpflichtet, ebenso CORDELIA BIEGE, der tapferen Frau an der Seite Holgers. Nur durch ihre Mithilfe, die bereitwilligen und offenen Auskünfte in stundenlangen Gesprächen und Interview-Sessions, war ich in der Lage, dieses Buch zu schreiben: eine biografische Hommage an den großartigen Künstler und Menschen Holger Biege, dem die Karussellfahrten seines Lebens ein häufiges Auf und Ab bescherten.
In seinem größten Hit »Sagte mal ein Dichter« heißt es im Text von Fred Gertz:
»Wie viel Bücher hat die Menschheit
und wie kurz ist so ein Leben!
Nur ein’ Bruchteil davon liest man dann!
Warum denn ein Buch noch schreiben?«
Die Antwort ist einfach:
Weil du, Holger, es verdient hast, weil es sich lohnt – auch für nächste Generationen Musikliebhaber –, die Geschichten aus deinem bewegten Leben aufzuschreiben und vor allem dein musikalisches Vermächtnis mit all diesen wunderbaren Songs zu bewahren.
Ich habe einige, vor allem junge Leute, getroffen, die sich nach deinem Tod für deine Lieder interessierten, weil ihre Eltern nach dieser traurigen Nachricht deine Platten zu Hause auflegten. Und sie wollten mehr wissen über diesen eigenwilligen Künstler und Menschen Holger Biege.
PS: Holgers Bruder heißt laut Personalausweis Gerd-Christian Biege, sein Künstlername ist Gerd Christian und sein Rufname Christian, den ich im Buch als Freund und im Zusammenhang mit den privaten Geschichten verwende.
Wolfgang Martin
Holger im Kinderwagen mit Bruder Gerd-Christian und
Mutter Marianne (um 1953)
1
Greifswald – Berlin
Die Wurzeln
Es ist der 19. September 1952, ein Freitag und ein wunderschöner Herbsttag, an dem Holger Biege im Sternzeichen Jungfrau – knapp zwei Jahre nach seinem Bruder Christian – in der norddeutschen Stadt Greifswald geboren wird. Die Eltern, Marianne und Gerhard Biege, waren zu dieser Zeit noch Studenten. Beider Familien sind nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Stargard (im heutigen Polen) zum einen nach Greifswald und zum anderen nach Stralsund geflüchtet, nicht weit von Greifswald. Und dort haben sich die Eltern im Grunde wiedergetroffen, denn sie kannten sich bereits aus Stargard, wo sie dieselbe Schule besucht hatten. Gerhard Biege war immer schon sehr beliebt beim weiblichen Geschlecht und auch seine spätere erste Frau schwärmte bereits als Kind für ihn.
Beide Hansestädte, die heute zu Mecklenburg-Vorpommern gehören, haben ihren besonderen norddeutschen Reiz mit vielen Sehenswürdigkeiten und der Nähe zur Ostsee. Vor allem Christian haben seine zehn Lebensjahre in Greifswald bis heute geprägt, insbesondere was den plattdeutschen Dialekt betrifft, den er wie kein zweiter Künstler beherrscht. Immerhin hat er als Gerd Christian ein ganzes Album mit plattdeutschen Liedern aufgenommen und trat damit in zahlreichen Sendungen und Liveprogrammen des Norddeutschen Rundfunks (NDR) auf.
Gerd Christian erzählt über die Jahre in Greifswald, ihre Eltern und die gemeinsame Kindheit der Brüder:
»Geboren wurden wir beide im Greifswalder Krankenhaus. Da waren unsere Eltern noch Studenten. Unsere Mutter ist Lehrerin geworden und Vater studierte Naturwissenschaften, konkret Biologie, und hat irgendwann später seinen Doktor gemacht, also promoviert. Da arbeitete er bereits an der berühmten Greifswalder Universität in der Forschung. Gewohnt haben wir am Greifswalder Wall, in der Goethestraße 7.
Die Stationen unserer Kindheit verliefen ganz normal, wie bei anderen Familien auch und wie das damals in den 50er Jahren so war in der DDR. Wir gingen in die Kinderkrippe und danach in den Kindergarten. Das war der Universitäts-Kindergarten in der damaligen Wilhelm-Pieck-Straße (heute Bahnhofstraße), ein Kindergarten für die Kinder, deren Eltern an der Universität arbeiteten, also der Akademiker und anderen Angestellten. In Greifswald wurden wir auch eingeschult, gingen bis zu unserem Umzug nach Berlin in die Saarlandschule.
Holger und ich haben uns eigentlich (fast) immer gut verstanden. Ich war ja der Ältere, und das macht mit zwei Jahren Unterschied vor allem in der Kindheit eine Menge aus. So blieb Holger zeit seines Lebens immer der Kleine, auch wenn er ein ganz Großer geworden ist. Aber für mich blieb er nun mal der kleine Bruder.
Holger war – und blieb es eigentlich immer – sehr sensibel. Schon als Kind war er ein zarter Junge, Muttis Liebling. Er hing an ihr wie ein kleines Klammeräffchen. Ich war im Gegensatz zu ihm ein sehr rustikaler Bengel, gesund und furchtbar stark und der Größere. Im Kindergarten und in der Schule war ich immer der Längste, bis zum Schluss. Das verführt natürlich dazu, sich groß und stark zu fühlen. Aber Holger gegenüber habe ich diese Überlegenheit nie ausgespielt. Eher habe ich ihn mit dem Großen-Bruder-Instinkt beschützt.
Was den Unterschied zwischen uns beiden betrifft, fällt mir noch eine Episode aus der Krippenzeit ein: Da bin ich sogar mal – nur in Windeln – aus dem Fenster raus, und alle wunderten sich, wie ich das so unbeschadet überstanden hatte. Ich galt als übervital, heute würde man sagen hyperaktiv. Holger war das ganze Gegenteil, der hätte so etwas nie gemacht. Weil er wahrscheinlich gemerkt hat, dass man dafür Ärger bekommen würde. Auch weil unser Vater sehr streng mit uns war, vielleicht noch nicht während der Krippenzeit, aber später schon.
Ich habe oft Stubenarrest bekommen, wenn ich mal wieder was ›ausgefressen‹ hatte aus der Sicht meiner Eltern. Als wir umzogen, aus der Goethestraße in die Nähe unserer Schule in die Walther-Rathenau-Straße 29 – das war schon ziemlich dicht an Stralsund ran, aber gehörte immer noch zu Greifswald –, wohnten wir Parterre. Das war das Richtige für mich. Statt zur Tür raus bin ich gleich immer aus dem Fenster gesprungen. Das wäre dem Holger nie eingefallen, und Stubenarrest bekam er schon deswegen nicht, weil er ja eigentlich immer in der Wohnung blieb. Holger war sehr introvertiert, als Kind natürlich zurückhaltend, schüchtern, fast ein bisschen ängstlich. Das drückte sich später in der Schule auch in unseren Betragenszensuren aus: Ich hatte immer eine hohe Zahl und Holger hatte immer eine Eins.
Holger als Kleinkind
Familie Biege Anfang der 1950er Jahre
Zu Weihnachten machen die kleinen Brüder große Augen.
Mit Großvater Kaddatz
Holger als ABC-Schütze (1959)
Die Biege-Brüder mit Mutter Marianne und Großmutter Irmgard
Kindheit in Greifswald: Lächeln fürs Foto
Als Kinder sind wir sehr viel nach Stralsund gefahren, weil da unsere Großeltern wohnten, die Eltern unserer Mutter. Für uns Kinder war das natürlich eine große Weite-Welt-Fahrt, 35 Minuten mit der Bahn von Greifswald nach Stralsund. Aber damals waren die Züge immer voll, weil die Leute noch keine Autos hatten.«
Jetzt kommen wir zur Musik. Haben eure Eltern Musik gemacht und ist ein musisches Talent von euch beiden in der Kindheit erkennbar gewesen?
»Unsere Eltern haben keine Musik gemacht. Mein Vater allerdings konnte Klavier spielen, ohne Noten zu können. Wo er das gelernt hat, weiß ich auch nicht. Er