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Ein Souvenir aus Paris
Ein Souvenir aus Paris
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eBook260 Seiten3 Stunden

Ein Souvenir aus Paris

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Über dieses E-Book

Meng Xiang hat immer wieder denselben Albtraum. Er ist wieder als Kind in Paris, als plötzlich eine gewaltige Katastrophe die Stadt zerstört. Dieses Erlebnis veranlasste den vermögenden Chinesen und großen Liebhaber Frankreichs dazu, sein Leben dem Wiederaufbau der Hauptstadt zu widmen. Aber das Ergebnis, so originalgetreu es auch sein mag, hat keinen Erfolg bei den Touristen. Die Stadt ist wie Disneyland, ein Ort ohne Seele.

Mithilfe seines Butlers François und des jungen Antiquitätenhändlers Théophile Gautier macht sich der Millionär an eine ehrgeizige Aufgabe: die Ausbildung seiner Mitarbeiter zu Pariser!

Jean Hamants dritter Roman „Ein Souvenir aus Paris“ ist zwischen der Truman Show und Der fabelhaften Welt der Amelie anzusiedeln und zeichnet ein skurriles und satirisches Porträt der Pariser und ihres Images bei ausländischen Touristen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBadPress
Erscheinungsdatum28. Okt. 2018
ISBN9781547549290
Ein Souvenir aus Paris

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    Buchvorschau

    Ein Souvenir aus Paris - Jean Hamant

    JEAN HAMANT

    EIN SOUVENIR AUS PARIS

    aus dem Französischen von

    Merle Köberle

    Für May, meine treueste Leserin.

    Von einer wahren Begebenheit inspiriert ...

    Inhaltsverzeichnis

    1

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    1

    Paris, eines schönen Nachmittags im Juli. Die Stadt gleicht einem Ameisenhügel: quirlig, geschäftig, hektisch. Die Hitze ist drückend, nur eine leichte Brise verschafft ab und an eine kleine Abkühlung. In dieser flirrenden Hitze wirkt die Stadt fremd und unwirklich. Die klebrige Atmosphäre, der lärmende Verkehr und das wuselige Treiben stehen in hartem Kontrast zur würdevollen Gelassenheit der Sehenswürdigkeiten dieser Stadt. Die Seine fließt friedlich wie eh und je, der Eiffelturm thront erhaben über dem Gewusel und die Kathedrale Notre-Dame trotzt der Hitze wie eine Großmutter, die nachsichtig auf ihre sich balgenden Enkel herabblickt.

    Aber eben das ist Paris: ein kontinuierlicher Widerspruch, ein fragiles Gleichgewicht aus beständigem Gesumme und unerschütterlicher Gelassenheit der Gebäude, die dieser Stadt ihren Glanz verleihen.

    Mitten in dem Gewusel aus hektischen Einwohnern und staunenden Touristen steht ein junger Reisender aus China. Vom Gipfel des Montmartres aus bewundert er überwältigt die Szenerie. Er kann sich nicht entscheiden, wohin er zuerst schauen soll, zu zahlreich sind die Wunder. Sein Blick schweift rastlos umher, stets erscheint ein anderer Punkt am Horizont spannender. Die Sonne beginnt bereits, unterzugehen und taucht die Stadt in ein rosa- und orangefarbenes Licht, wodurch ihre Schönheit noch mehr zur Geltung kommt. Auf einen zwölfjährigen Jungen wirkt diese Stimmung verzaubernd. Meng Xiang glaubt zu träumen.

    Drei Tage zuvor ist er mit seinen Eltern, die ihn mit dieser Reise überrascht haben, aus Shanghai nach Paris geflogen. Seitdem waren die Nächte kurz und wegen der Zeitverschiebung und der Begeisterung darüber, an diesem Ort zu sein, geistern die drei ebenso verschüchtert wie viele ihrer Landsleute in dieser weiten, unbekannten Welt umher.

    Während er über das Kopfsteinpflaster der beliebten Viertel hüpft, verpassen seine Mandelaugen in ihrer kindlichen Neugier kein Detail. Bewaffnet mit der Kamera, die er zu seinem letzten Geburtstag bekommen hat, möchte er jeden Winkel für seine Klassenkameraden festhalten. Wie ein Schwamm saugt er die Pariser Atmosphäre auf: die knatternden Motorroller, das Gedränge der gehetzten Einheimischen, der Duft der Süßigkeiten am Stand hinter ihm. Weder die Schreie der Laienschauspieler mit den glänzenden Schnauzbärten noch der Akkordeonspieler, der zum 227sten Mal Mon amant de Saint-Jean spielt, stören seine Freude oder seine andächtige Betrachtung. Sie sind vielmehr Teil der ganzen Atmosphäre.

    Seine Eltern lauschen interessiert den Worten ihres Reiseführers, der gerade die Bedeutung des Hügels von Montmartre erklärt, der schon vor Urzeiten eine heilige Stätte war. Mit seiner Geschichte begeistert der Guide besonders die jungen Teilnehmer. Aber Meng Xiang hört nicht sehr aufmerksam zu, er ist im Kopf woanders. Zu seinen Füßen offenbart die Stadt ihre ganze Pracht. Neben dem Karussell am Ende des Hügels lässt sich ein Hochzeitspaar fotografieren. Meng Xiang betrachtet es mit einem wissenden Lächeln. Hier, an diesem heiligen Ort in diesem Augenblick muss man sich einfach verewigen und einen Teil der Seele von Paris einfangen, als sei es ein Segen für die glückliche Vermählung. Für das Paar ist es sicherlich einer der schönsten Momente seines Lebens.

    Aber schon setzt sich Meng Xiangs Reisegruppe wieder in Bewegung. Sie eilen zügigen Schrittes zwischen den Brücken, Straßen und Gebäuden umher, denn keiner will auch nur das Geringste von der Stadt versäumen. Eine gleichermaßen kräftezehrende wie berauschende Tour, bei der jeder einzelne Stein eine Geschichte hat. Auf der Insel Saint-Louis legen sie bei Berthillon, der vom Reiseführer als beste Eisdiele der Hauptstadt gepriesen wird, einen kurzen Stopp ein, damit jeder ein Sorbet probieren kann. Gestärkt setzen sie anschließend ihren Weg über das Pariser Pflaster fort. Der Fotoapparat des Jungen ist ohne Unterlass in Betrieb. Was muss von all dem unbedingt einfangen werden? Hat er das Schönste bereits gesehen oder kommt es erst noch? Jede neue Entdeckung übertrifft die vorherige, allen voran die Buchhändler am Quai des Grands Augustins, diese Hüter der Erinnerung, die ihn so sehr beeindrucken. Meng Xiang hat sich geschworen, all diese Bilder und Eindrücke unversehrt für sich und seine Freunde zu bewahren.

    An der Ecke einer schmalen Gasse betritt die Gruppe einen dieser typischen Souvenirläden, von denen es in diesem Viertel nur so wimmelt. Seine Mutter bleibt vor einer rosafarbenen Handtasche, verziert mit Porträts von modernen Pariserinnen, stehen, während sein Vater den Postkartenaufsteller umrundet, um die lustigste Karte ausfindig zu machen. Der kleine Junge jedoch ist von einer Schneekugel verzaubert, die er immer wieder in seinen Händen dreht, um zuzuschauen, wie die Flocken leise auf die Miniaturausgaben des Arc de Triomphe, der Sacré-Coeur und des Eiffelturms sinken. Eine Welt, die in einer Glaskugel eingeschlossen wurde, um sie für immer zu beschützen. Rein und unversehrt. Möge sich das Universum auch noch so verändern, dieses kleine, einzigartige Stück Frankreich wird davon nicht betroffen werden. Das schwört er sich, während er die Kugel in seinen Händen bestaunt.

    Doch ihr Aufenthalt hier ist schon bald vorbei. Sie haben lediglich drei Tage, um all den Zauber der Hauptstadt zu erkunden! Der heutige Abend, der Abend des 14. Juli, ist bereits der letzte. An diesem für die Pariser so bedeutenden Tag wird die Französische Revolution gefeiert. Damals rebellierte die Bevölkerung und lehnte sich gegen das etablierte Machtgefüge und denjenigen, der diese despotische Macht verkörperte und den hungernden Einwohnern riet, Brioche zu essen, wenn es kein Brot mehr gäbe, auf. Meng Xiang hat diese Anekdote am Abend ihrer Ankunft in einer Broschüre, die an der Hotelrezeption auslag, gelesen.

    Seitdem freut sich der kleine Junge auf diesen 14. Juli und das angekündigte Feuerwerk.

    Und nun ist es endlich soweit! Meng Xiang und seine Eltern haben sich auf dem Place du Trocadéro eingefunden. Vorher hatten sie auf einem Kahn auf der Seine zu Abend gegessen. Natürlich ist der Platz wie jedes Jahr so überfüllt, als hätte sich die ganze Stadt hier verabredet. Die Hitze des Tages weicht allmählich. Meng Xiang mischt sich unter die Schaulustigen, froh, ein Teil der «Pariser Bevölkerung» zu sein. An diesem Abend wird er an den Feierlichkeiten dieser Stadt, die ihn gleichermaßen erdrückt wie begeistert, teilnehmen.

    23 Uhr, das Feuerwerk beginnt. Meng Xiang ist verzaubert. Im Schein der bunten Explosionen offenbaren die Gebäude der Stadt eine andere Dimension und ihre fast schon surreale Schönheit erstrahlt noch eindrucksvoller vor seinen Augen.

    Und plötzlich erstrahlt er: der Eiffelturm. Diese Ansammlung aus majestätischem Altmetall glänzt wie ein heiliger Totempfahl. Die «Stadt des Lichts» offenbart dem kleinen Jungen ihr einzigartiges Wahrzeichen. Er ergreift die Hand seiner Mutter, um diesen Gefühlen, die ihn im Angesicht dieses großartigen Spektakels überkommen, nicht alleine ausgesetzt zu sein. Aber recht bald erinnert seine Kamera als treuer Gefährt den angehenden Weltenbummler daran, dass er auch diese Szenerie noch festhalten muss.

    Er nimmt sie hoch und hält sie vor sein Auge. Das sieht schon nicht schlecht aus, sogar recht gut, aber es gibt sicher noch einen besseren Blickwinkel auf das Geschehen. Er bewegt sich an den Rand des Platzes. Ein blauer Schweif erleuchtet wie ein impressionistischer Pinselstrich die Szenerie. Wird er es schaffen, diesen Moment für immer auf seinen Film zu bannen, obwohl nur noch ein letztes Bild darauf übrig ist? Meng Xiang tritt noch etwas weiter zurück, um eine noch bessere Perspektive zu finden. Eine Gruppe von Zuschauern, die diesen Abend feiern wollen, bleibt direkt vor seinem Objektiv stehen. «Merde», murmelt er ein dem Moment angemessenes französisches Schimpfwort vor sich hin.

    Er tritt ein Stück zur Seite und hofft, dadurch einen besseren Blickwinkel zu bekommen, aber andere Zuschauer, ebenfalls auf der Suche nach einer besseren Sicht, machen dasselbe. Und es werden immer mehr. Ob er es wohl schaffen wird, dieses verflixte Foto zu machen? Das Schicksal scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Meng Xiang flucht innerlich. Wird es ihm gelingen, ein weiteres kleines Stück von Paris für die Ewigkeit festzuhalten, ohne dass die Menge ihm die Sicht verstellt? Wie schaffen es die unbekannten Schöpfer der Postkarten nur, einen solch freien Blick auf die Notre-Dame zu bekommen? Vielleicht das Ergebnis von Fotomontage? Oder warten sie stundenlang auf einen günstigen Moment und beobachten währenddessen jede noch so kleine, menschliche Bewegung, bevor sie endlich im richtigen Augenblick die Sehenswürdigkeit alleine fotografieren können? Der junge Tourist entscheidet sich, einfach sein Foto zu machen, egal, ob es perfekt wird oder nicht. Immerhin hat er alles in seiner Macht Stehende getan und außerdem hat er nicht die Geduld eines professionellen Fotografen.

    Während die Pariser Philharmoniker das Finale des Feuerwerks begleiten, gibt es plötzlich eine riesige Explosion, gefolgt von einem grellen Blitz.

    Ich ließ meine Kamera los, die auf dem Boden zerschellte, erinnert sich Meng Xiang. Als nächstes stießen tausende Menschen gleichzeitig einen markerschütternden Schrei aus. Und dann brach Panik aus. Was war da gerade geschehen?

    Instinktiv schaut sich Meng Xiang nach seinen Eltern um. Er hat sie noch nicht erspäht, als er seine Mutter schon in seine Richtung rufen hört.

    «Xiang! Komm sofort her!»

    Auf dem Platz, auf dem der Junge noch vor einer Sekunde versuchte, das besondere Bild, das das Symbol seiner Reise sein sollte, aufzunehmen, herrscht jetzt Chaos. Ihr Stadtführer, sonst stets fröhlich, ist erstarrt und unfähig, auch nur ein Wort von sich zu geben.

    Panisch und schreiend schiebt die Menge um sie herum und versucht, sich in die nächstgelegene Metrostation zu retten. Glücklicherweise steht der Rachen des Eingangs zur Metrostation Trocadéro weit offen, bereit, die verlorenen Städter zu verschlingen.

    Zum ersten Mal musste ich erleben, dass meine Eltern nicht weiterwussten. Vollkommen fassungslos und unfähig, ihre Gefühle zu kontrollieren, brach meine Mutter in Tränen aus. Diese Reise, die meine Eltern mir geschenkt hatten und die auf dem Höhepunkt meines zwölfjährigen Lebens der Grund für meine tiefe Verbundenheit zu Frankreich und seiner Kultur war, nahm eine dramatische Wendung.

    Meng Xiang und seine Eltern werden, verstört wie sie sind, von den Helfern in den Gängen und auf den Bahnsteigen der Metro bis fast an die Rolltreppen, die das Kind während dieses kurzen Aufenthaltes zum Karussell gemacht hat, zusammengetrieben. Doch jetzt stehen sie still und haben ihren Reiz verloren. Während die Sirenen heulen, erschallen über Lautsprecher Aufrufe, die Ruhe zu bewahren, was allerdings nur dazu führt, dass zur Panik auch noch Verwirrung kommt.

    Mein Vater murmelte Unverständliches vor sich hin. Ich sah meine Mutter fragend an: mein Vater sprach den Dialekt aus Jiangxi, wo er geboren worden war. Dabei hatte Papa sich immer gehütet, diesen Dialekt in unserem Beisein zu sprechen. Die Lage war wirklich sehr ernst.

    Die im Untergrund zusammengepferchten Menschen warten sichtlich verängstigt darauf, wie es weitergeht. Alle Pariser, die während der Explosion auf dem Platz waren, sind ebenso erschüttert wie die Touristen.

    Plötzlich fangen die Wände der Metrostation an, zu wackeln. Ein leichter Erdstoß folgt auf die Explosion. Meng Xiangs Mutter drückt ihren Sohn fest an ihre Brust. Ihre Leidensgenossen halten den Atem an, während die Erde bebt, einige flehen in einem Anflug von Gläubigkeit ein letztes Mal ihren Gott an, sie zu verschonen. Das alles dauert nur wenige Sekunden, fühlt sich allerdings wie eine Ewigkeit an.

    Dann herrscht plötzlich Stille.

    Dröhnende, bleierne Stille.

    Nur unterbrochen vom dumpfen Klicken der flackernden Metrolampen.

    Vorsichtig hob ich den Kopf und sah mich nach meinem Vater um. Er war direkt neben mir. Wir waren am Leben und das war in diesem Moment das Einzige, was zählte.

    Vergeblich versuchen die Menschen, mit Freunden und Verwandten Kontakt aufzunehmen, um Informationen zu bekommen, doch die Leitungen sind tot. Wie durch ein Wunder haben die Mauern dem Erdbeben standgehalten. Und schon bald erheben sich die Stimmen dieser Männer und Frauen, die gekommen waren, um die Revolution zu feiern und die nun 20 Meter unter der Erde festsitzen. Die Situation ist immer noch unübersichtlich, aber eins ist gewiss: Pariser und Touristen sind eingesperrt. Die, die sich an die Oberfläche trauen, müssen viel Mut haben.

    Eine Gruppe von zehn Personen findet sich trotzdem zusammen. Sie wollen herausfinden, was von der Umgebung noch übrig ist. Die Menschen hier unten haben zwar überlebt, aber was ist mit Paris?

    Meine Eltern nahmen mich an der Hand und schlossen sich der Gruppe an. Auf ihren Gesichtern war deutlich ihre Sorge zu erkennen. Was würden wir an der Oberfläche vorfinden? Diese lang ersehnte Reise, deren Highlight dieser 14. Juli sein sollte, wurde zu einem Alptraum. «Trotz allem war es ein unglaubliches Feuerwerk!» glaubte ich einen Mann sagen zu hören, der damit die Ironie der Situation auf den Punkt brachte.

    Die Gruppe machte sich auf den Weg an die Oberfläche.

    Und sah ...

    nichts.

    Denn es war nichts mehr da.

    Ein diabolischer Hauch hatte Paris ausgelöscht.

    Meine Stadt, diese Stadt, die ich so gerne zu meiner gemacht hätte, war verschwunden. Der Eiffelturm, den ich nur wenige Augenblicke zuvor noch bewundert hatte, war vernichtet. Die Nacht offenbarte das grauenvolle Bild eines brennenden Paris‘, das von allen Seiten von Flammen eingeschlossen war. War es ein terroristischer Angriff? Eine göttliche Strafe? Eigentlich war der Grund unwichtig, im Augenblick zählte nur das Ergebnis und das überstieg unser Fassungsvermögen.

    Nichts war übriggeblieben. Paris, seine Geschichte, seine Gebäude, seine alten Steine und seine Bistros, sein Kopfsteinpflaster, wie gemacht dafür, ‘Himmel und Hölle’ zu spielen, seine Tauben, die es von ihrer Größe her locker mit Möwen aufnehmen konnten ... all das war nichts weiter als ein entfernter Traum. Die Reise war schlagartig beendet und Meng Xiangs Welt genauso vernichtet wie seine kindliche Unschuld.

    Ich dachte an das Foto, das ich hätte machen sollen oder das ich wahrscheinlich gemacht hatte. Wahrscheinlich hatte ich es noch geschafft, auf den Auslöser zu drücken. Es war zusammen mit der Kamera unter einem Haufen Asche begraben. Vor meinem geistigen Auge entstand das Bild eines neuen Pompejis. Vielleicht würde mein Foto in einigen Jahrhunderten als archäologischer Fund wiederauftauchen und ein Bild aus einer vergangenen Epoche und von einer Stadt zeigen, die für immer verschwunden geglaubt waren.

    Paris war nicht mehr dasselbe und ich auch nicht.

    Die kurze aber intensive Liebe, die wie eine aufregende Affäre war und die mich mit dieser Stadt verbunden hatte, existierte nicht mehr.

    2

    ––––––––

    Meng Xiang erwacht aus einem unruhigen Schlaf. Er hat immer wieder denselben Albtraum. Es ist der Abend des 14. Juli, er ist wieder zwölf Jahre alt und steht mit seinen Eltern auf dem place Trocadèro und erlebt alles erneut: die Explosion und die darauffolgende Panik, der Zufluchtsort in der nahegelegenen Metrostation, die Entdeckung, dass Paris vernichtet war. Die Apokalypse.

    Mit seinen faltigen Händen nimmt er den Helm ab, den er jede Nacht zum Schlafen trägt. Langsam macht er seine Augen auf und erkennt die Jugendstildekoration seines Zimmers. Diesen Stil mag er besonders, am allermeisten die hübschen Schalen von Emile Gallé. Obwohl der Stil aus einer längst vergangenen Zeit stammt, in der sich technischer Fortschritt subtil mit Kunst und der Orient mit dem Okzident vereinten, ist er doch immer noch aktuell.

    Neben Monsieur Meng liegt eine Sauerstoffflasche, ein Zeugnis seiner schwindenden Gesundheit. Der alte Mann erhebt sich schwerfällig. Das Wachwerden ist jedes Mal unerbittlich. Innerhalb weniger Sekunden verlässt er den Körper eines Kindes und befindet sich in dem eines Greises. Letzte Woche hat er seinen dreiundneunzigsten Geburtstag gefeiert. Eine Zahl, an die ihn seine schmerzenden Gelenke ständig erinnern. Er greift nach seinem Stock und macht ein paar schwankende Schritte. Der alte Mann geht in diesem für ihn alleine viel zu großen Raum auf und ab und versucht, die wenigen angenehmen Momente aus seiner verschwommenen Erinnerung festzuhalten. Das Trauma sitzt tief wie ein Fleck, der nicht weggeht.

    Er tritt ans Fenster, das ihn von den Geräuschen der Stadt abschneidet und betrachtet etwas melancholisch den Horizont. «Dieser Albtraum ... Paris ...», denkt er.

    Seine Kräfte scheinen ihn immer weiter zu verlassen. Und dabei liegt Paris, so wie er es sich immer erträumt hat, dort unten zu seinen Füßen, prachtvoll und zu dieser frühen Stunde noch verschlafen.

    Der Traum seiner Kindheit.

    Er geht zu dem kleinen Sekretär, auf dem sich die kostbarste seiner Erinnerung befindet. Andächtig schüttelt er die kleine Schneekugel und sieht zu, wie die glitzernden Flocken ebenso sanft wie beim ersten Mal auf seinen geliebten Eiffelturm rieseln. Diese für jeden anderen Erwachsenen unbedeutende Beschäftigung bedeutet ihm viel. Das Geschenk seiner verstorbenen Eltern vermittelt ihm das berauschende

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