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Das Jahr ohne Sommer: Die Hungerkrise 1816/17 im mittleren Alpenraum
Das Jahr ohne Sommer: Die Hungerkrise 1816/17 im mittleren Alpenraum
Das Jahr ohne Sommer: Die Hungerkrise 1816/17 im mittleren Alpenraum
eBook250 Seiten2 Stunden

Das Jahr ohne Sommer: Die Hungerkrise 1816/17 im mittleren Alpenraum

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Über dieses E-Book

Die Jahre 1816/17 sahen eine der schlimmsten globalen Hungerkatastrophen der Neuzeit. Der Auslöser war ein Vulkanausbruch in Indonesien. Weltweit berichteten Zeitzeugen über Wetterkapriolen und widrigste Klimaverhältnisse. 1816 blieb als das "Jahr ohne Sommer" in Erinnerung. Anhaltende Regenfälle führten zu massiven Ernteeinbussen. Das Getreide verrottete auf den Äckern, und im Herbst mussten die Kartoffeln aus dem Schnee gegraben werden.
Die Hungerkrise des Jahres 1817 ist als geschichtliches Thema ebenso faszinierend wie bedeutsam. Hier zeigen sich die Auswirkungen einer globalen Naturkatastrophe auf verschiedene Regionen und Gesellschaften – mit allen wirtschaftlichen und demographischen Folgen, mit Not und Leidenserfahrungen, mit sozialen Protesten und Unruhen, aber auch mit Hilfsaktionen, mit politischen und religiösen Bewältigungsversuchen.
Der Band des Arbeitskreises für interregionale Geschichte des mittleren Alpenraums beleuchtet die Ursachen, den Ablauf und die Folgen dieser Krise. Der räumliche Fokus liegt auf Graubünden, Liechtenstein, St. Gallen, Tirol und Vorarlberg. Diese Gebiete waren auf der Alpennordseite mit am stärksten betroffen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Nov. 2017
ISBN9783703009310
Das Jahr ohne Sommer: Die Hungerkrise 1816/17 im mittleren Alpenraum

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    Buchvorschau

    Das Jahr ohne Sommer - Fabian Frommelt

    THÖNY

    Tambora und das Jahr ohne Sommer. Ein Naturereignis mit globalen Auswirkungen

    WOLFGANG BEHRINGER

    Der Vulkanausbruch

    Der Tambora gehört zu den Super-Vulkanen der Subduktionszone entlang der Sunda-Inseln im heutigen Indonesien, mit dem Toba auf Sumatra, der vor 75.000 Jahren beinahe die Geschichte der Menschheit beendet hätte,1 über den Krakatau und den Merapi auf Java bis hin zum Tambora auf der Insel Sumbawa.2 Der Tambora-Ausbruch war nach Ansicht der Vulkanologen am Massachussetts Institute of Technology (MIT) mit Stärke 7 auf dem Vulkan-Explosivitäts-Index (VEI) der gewaltigste Vulkanausbruch der letzten 10.000 Jahre.3 Bis vor wenigen Jahren gab es zwar naturwissenschaftliche Untersuchungen zum Tambora-Ausbruch – Sedimentanalysen, Eisbohrkerne, etc. – aber keine systematische Untersuchung der Folgen für die Gesellschaft.4 Erst jetzt beginnt sich das zu ändern, anlässlich des Gedenkens nach 200 Jahren haben ein Literaturwissenschaftler und ein Historiker die kulturellen Folgen des Ausbruchs untersucht.5

    Dass der Ausbruch des Tambora weltweite Folgen hatte, wurden von den Zeitgenossen noch nicht erkannt. Allerdings gab es 1815 bereits ein relativ modernes Medienumfeld. In Niederländisch-Indien berichteten holländische und englische Zeitungen darüber, die Zeitschrift der Britischen Ostindiengesellschaft berichtete ebenso wie Zeitschriften und Zeitungen in Europa.6 Goethe berichtet in seinem Tagebuch, wie er von dem Ausbruch auf der Insel Sumbawa in seiner Tageszeitung, Johann Friedrich Cottas „Morgenblatt für die gebildeten Stände" las. Alle zeitgenössischen Berichte waren sich darüber einig, dass es sich um einen ganz außerordentlichen Vulkanausbruch handelte, zum Beispiel der Genfer Herausgeber und Autor Marc-Auguste Pictet.7 Und doch kam niemand auf die Idee, dass der Starkregen in Europa oder die Dürre in den USA etwas damit zu tun haben könnte. Der Gedanke an weltweite Klimawirkungen war dem frühen 19. Jahrhundert noch fremd. Erstmals wurde aus Anlass des Ausbruchs des Krakatau im Jahr 1883 eine solche weltweite Wirkung durch eine große Studie der britischen Royal Society nachgewiesen.8 Und da man wusste, dass der Tambora-Ausbruch weitaus größer gewesen musste, machte sich 1913 der amerikanische Atmosphärenphysiker William Jackson Humphreys die Mühe, den exakten Nachweis zu führen.9

    Von da an hat es lange gedauert, bis Historiker verstanden, dass das Leid in ihrem Land oder ihrer Region, die sozialen Unruhen und Ausbrüche an Frömmigkeit Teil eines globalen Ereignisses sind, das seine Ursache in einem fernen Vulkanausbruch hatte. Zwar haben wir aus dem ganzen 20. Jahrhundert Untersuchungen, die sich mit dem Leiden der Jahre 1816–1817 beschäftigen, ich nenne nur exemplarisch wichtige Studien zu Frankreich10, Italien11, England12, Spanien13, den USA14 oder einzelne Regionen in Deutschland15 und der Schweiz16.

    Doch es dauerte lange, bis auch in den Aufsätzen oder gar den Aufsatztiteln ein expliziter Bezug des Jammers zu seiner Ursache hergestellt wurde.17 Die Schweiz war bereits zeitgenössisch wegen einiger drastischer Schilderungen der Hungersnot und der Armut in den Kantonen St. Gallen, Appenzell und Glarus mit im Fokus der Aufmerksamkeit.18 Doch erst die Initiatoren unserer Tagung in Chur im November 2016 haben etwa Graubünden auf die Landkarte der Folgenforschung gesetzt. Wie fruchtbar und lohnend diese Thematisierung im regionalhistorischen Rahmen ist, konnte man in den Vorträgen und Diskussionsbeiträgen auf der Churer Tagung erfahren und kann es jetzt in diesem Tagungsband nachlesen.

    Der Tambora galt eigentlich als schlafender Vulkan, doch bemerkten Anwohner und vorbeifahrende Kapitäne seit 1812 eine kleine Wolke am Gipfel, die nicht wieder verschwand. Der Ausbruch im April 1815 war schließlich so heftig, dass die Spitze des Berges abgesprengt und seine Höhe von 4.500 auf 2.800 Meter reduziert wurde. Die Eruptionssäule stieg bis in eine Höhe von 45 Kilometern auf, weit hinauf in die Stratosphäre. Der Ausbruch war begleitet von Erdbeben, pyroklastischen Strömen und einem Tsunami. Asche und saurer Regen fiel in einem Umkreis von einigen tausend Kilometern. Für die Klimageschichte entscheidend: Höhenwinde verteilten die Gase und Aerosole weltweit, und dies verursachte die Klimaturbulenzen, die uns hier interessieren.19

    Unmittelbare Folgen des Vulkanausbruchs: die Tambora-Krise

    In den Regionen, in denen das Sonnenlicht verdunkelt wurde, kam es zu einer signifikanten Abkühlung. Dies führte zur Verkürzung der Vegetationsperiode und zur Gefährdung der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, selbst in südlichen Regionen Europas. Die Abkühlung betraf beinahe alle Teile der Welt. In Nordamerika vernichteten drei Frostperioden im Mai und Juni 1816 große Teile der Ernte.20 In Südafrika und Indien stellten veränderte Niederschlagsmuster das Problem dar. Hier blieb 1816 der Monsun aus und extreme Dürre führte zu Missernten und Viehsterben – in Zukunft wird allerdings zu diskutieren sein, ob bei dieser Dürre auch noch ein El-Niño-Effekt eine Rolle spielte.21 In Zentraleuropa und Südchina beeinträchtigten dagegen unglaubliche Niederschlagsmengen die Ernten und ließen die Flussläufe anschwellen, zum Beispiel von Rhein und Rhone und ihren Nebenflüssen22, oder von den Flusssystemen des Janktsekiang und des Gelben Flusses.23 Katastrophale Überschwemmungen trugen zu Ernteausfällen bei, selbst Heu gab es zu wenig. Vieh und Pferde mussten aus Futtermangel geschlachtet werden. Im Hochgebirge sammelten sich riesige Schneemengen an. Da die Schneeschmelze ausblieb, begannen viele Gletscher in hohem Tempo zu wachsen.24 Frost setzte schon im September 1816 ein und die Kartoffeln und Heu wurden unter Schnee begraben.

    In Europa kamen praktisch alle Agrarprodukte – Getreide, Obst, Gemüse, Wein – in verringerten Mengen und schlechter Qualität auf den Markt, ebenso in Nordamerika, Südafrika, Indien und China. Die Folge waren rapide Preissteigerungen. Der Freihandel, dem alle Regierenden in Europa und Amerika im Anschluss an Adam Smith anhingen, konnte entgegen der Theorie den Mangel nicht ausgleichen. Der Brotpreis stieg teilweise auf das Zehnfache des vorher „Normalen" an. An manchen Märkten wurde der Handel im Sommer 1817 mangels Angebot ganz ausgesetzt. Und selbst nach der Ernte blieben die Lebensmittelpreise hoch. Im Ancien Régime – also der Zeit vor der Französischen Revolution – wären jetzt die Kornkästen geöffnet und Brot ausgegeben worden, Almosenstiftungen und Klöster hätten die Speisung der Armen übernommen, ebenso die kommunalen Selbstverwaltungen. Allerdings waren alle diese Institutionen der Sozialunterstützung während der Revolutionsperiode abgeschafft worden. Weil keinerlei Unterstützung zu erwarten war, setzte eine Kettenreaktion ein: Handwerker und Bauern entließen ihre Dienstboten. Diese verloren mit der Arbeit auch gleich die Unterkunft, so dass in kurzer Zeit Massen an Bettlern die Straßen bevölkerten. Die Nachfrage nach Konsumgütern brach zusammen. Darauf schlossen Fabriken und Manufakturen, Arbeiter und auch viele Handwerker wurden arbeitslos. Wo das Ersparte aufgezehrt war, begann man, Besitz zu veräußern, zuerst Mobilien und dann Immobilien. Massenarbeitslosigkeit und eine rasche Verarmung bürgerlicher Schichten setzte ein. Dazu gibt es erschütternde Berichte.

    Damit begann die Geschichte des Pauperismus. Nicht die Industrialisierung brachte ihn hervor, sondern die Tambora-Krise.25 In New York wurde 1817 die erste Society for the Prevention of Pauperism (S.P.P.) gegründet26 und viele amerikanische Städte folgten diesem Beispiel.27 Der Pauperismus hatte unmittelbare Folgen auf vielen Gebieten, ich greife hier drei heraus: Biologie, Migration und Politik.

    Zunächst (1) die Biologie. Die Mangelernährung führte zu einer raschen Ausbreitung von Krankheiten, Mangelkrankheiten wie dem Hungertyphus28 oder besonders in Italien der Pellagra29, aber auch von unspezifischen Epidemien, allen möglichen Arten von Fiebern30 oder den Pocken31. Gesondert erwähnen möchte ich den direkten Hungertod, der unter dem Begriff Limoktonie eindrucksvoll beschrieben wurde, mitten in Europa, zum Beispiel in der Schweiz.32 Durchfallkrankheiten waren bei Hungerkrisen immer verbreitet, aber 1817 entstand – vielleicht durch Mutation – die Cholera33, eine tödliche Seuche, die sich in den nächsten Monaten von Bengalen über ganz Südostasien bis China,34 und über ganz Indien bis nach Arabien und Ostafrika35, sowie über Afghanistan und Persien in das Osmanische Reich und nach Russland verbreitete,36 und danach in mehreren Wellen den ganzen Globus umrundete.37

    Damit kommen wir zum Impact des Tambora-Ausbruchs: In der Literatur und natürlich im Internet findet man viele dilettantische Versuche, die Opferzahlen zu messen. Üblicherweise landen die Autoren bei 100.000 Toten auf den kleinen Sundainseln Sumbawa, Lombok und Bali – Zahlen, die einfach dem Reisebericht des Schweizers Heinrich Zollinger entnommen wurden, der 1847 als erster den Tambora bestiegen hat.38 Diese Zahlen sind aber schon für das indonesische Archipel absurd. Nehmen wir aber die weltweiten Hunger-, Überschwemmungs- und Seuchenopfer hinzu, dann landen wir bei vielen Hunderten von Millionen Opfern. Dies sind mehr Tote als der 1. und der 2. Weltkrieg zusammen gefordert haben. Der Impact der Tambora-Krise kann allenfalls mit dem der Großen Pest im Mittelalter verglichen werden. Kein anderes rekonstruierbares Ereignis hatte ähnlich entsetzliche Folgen.

    Zweitens (2), die Migration. Bereits im Sommer 1816 machten sich Auswanderergruppen aus „Deutschland auf den Weg. Ihre Ziele waren die USA oder Russland, und für beides gab es gute Gründe. Ich setze „deutsch in Anführungszeichen, weil Siedlungen wie „Zürichtal" auf der Krim zeigen, dass auch viele Schweizer nach Neu-Russland gingen, wie dieses Gebiet damals genannt wurde.39 Aus ganz West-, Mittel- und Nordeuropa strömten Auswanderer nach Nordamerika.40 Aber hier trafen sie auf ein Problem: Die Immigranten mussten feststellen, dass sich Nordamerika im Aufbruch befand, denn auch in den Neu-Englandstaaten waren Massenarbeitslosigkeit und Pauperismus verbreitet und viele Amerikaner beschlossen, ihr Glück im Westen zu suchen.41 In den sechs Jahren der Tambora-Krise wurde in jedem Jahr ein neuer Bundesstaat der USA gegründet, in schnellerer Folge als je zuvor oder danach. Indiana 1816, Mississippi 1817, Illinois 1818, Alabama 1819, Maine 1820, Missouri 1821, dazu Florida und das Arkansas-Territorium 1819 und Michigan, das allerdings erst 1837 zum Staat erhoben wurde.

    Auf der Suche nach weiteren Auswanderungszielen kam man in Europa auf Südafrika, Brasilien42, Südamerika und Australien, dessen Name just 1817 das alte New South Wales ersetzte, weil unter dem Druck der Tambora-Krise die systematische Deportation aus Großbritannien und die Besiedelung des fünften Kontinents begann.43 Problematisch war auch Südafrika, das selbst von der Tambora-Krise wegen anhaltender Dürre stark betroffen war: Sehr schön illustriert das eine Karikatur von George Cruikshank, der als Auswanderer nach Südafrika von Menschenfressern überfallen wurde und ausrufen ließ: „Ich hätte genauso gut zuhause in England bleiben und an Hunger sterben können". Von einem erhaltenen Votivbild wissen wir von einer größeren Schweizer Auswanderergruppe nach Brasilien, die allerdings bereits auf dem Neuenburger See bei einem Gewittersturm in Seenot geriet und deswegen die Muttergottes Maria – offenbar erfolgreich – um Hilfe anrief.44

    Drittens (3) die Politik. In ganz Westeuropa kam es ab Sommer 1816 zu Protesten, die aber den Brotpreis als Ursache hatten. In Großbritannien drohten Massendemonstrationen mit Parolen wie „Bread or Blood".45 Putschisten planten zwischen 1816 und 1820 gleich mehrmals die Ermordung des Premierministers, Lord Liverpool, des Kronprinzen und des Königs.46 In Frankreich verhinderten Demonstranten mit Straßenblockaden, dass Getreide außer Landes oder nach Paris transportiert wurde. Es wurde im Namen einer Moral Economy47 beschlagnahmt – oder aus der Sicht der Eigentümer geraubt – und an Bedürftige verteilt.48 Die Situation erinnerte an die Grande Peur im Vorfeld der Französischen Revolution.49 Und sie evozierte bei den Regierenden auch sofort das Schreckbild des jakobinischen Terrors. In Deutschland gab es neben derartige Brotunruhen eine Serie von Brandstiftungen, die sich gegen die Profiteure der Lebensmittelteuerung richteten. Die Parolen waren ähnlich drohend wie in England oder Frankreich. In München wurde ein Anschlag auf das Oktoberfest angedroht und bei der Königsresidenz wurde Feuer gelegt.50

    In Deutschland machte man Kornjuden für die Teuerung verantwortlich,51 und der über Monate ansteigende Antisemitismus entlud sich in den sogenannten Hep-Hep-Krawallen, antisemitischen Pogromen, die in Würzburg begannen und sich binnen Wochen von Südbaden bis Dänemark verbreiteten.52 Außerdem wurden Selbstmordattentate verübt, denen bekanntermaßen der Erfolgsschriftsteller August von Kotzebue zum Opfer fiel,53 aber auch der liberale Reformminister von Hessen-Nassau, Carl Emil von Ibell (1780–1834). Morddrohungen erreichten führende Politiker in Wien – etwa Metternich und seinen Berater Friedrich von Gentz – ebenso wie jüdische Bankiers. In Frankreich wurde der Thronfolger ermordet, und in England konnte in letzter Minute ein weiteres Mordkomplott gegen den König und den Premierminister samt Kabinett verhindert werden, die sogenannte Cato Street Conspiracy.54 Man könnte noch andere Länder anführen, das Ergebnis bliebe dasselbe: Der Protest der Tambora-Krisenzeit war gewaltsam und disruptiv.

    Wege aus der Tambora-Krise

    Wie ging man nun mit der Krise um? Überall in den von Klimawandel betroffenen Gebieten, so kann man sagen, kam es zu einem Anstieg der sozialen Spannungen und der religiösen Ängste. In Südostasien machte man die Götter verantwortlich55, in Südafrika kam es zu schweren Hexenverfolgungen.56 In Europa war man seit der Hungerkrise von 1709 von religiösen Erklärungen abgekommen und machte die Regierungen verantwortlich.57 Freilich gab es auch hier einen religiösen Aufschwung, und in Nordamerika ist gar von einem religious revival die Rede.58 In protestantischen Territorien regten sich die Pietisten oder andere Sekten.59 In katholischen Ländern kam es wegen der Forderung nach Prozessionen zu Konflikten.60 Auch Weltuntergangsängste kamen auf, etwa im sogenannten Pöschlianismus,61 sie wurden aber in der Öffentlichkeit wie der Mad Prophet, der das Ende der Welt am 18. Juni erwartete, verspottet und verhöhnt.62

    Die Regierungen in Europa blieben freilich unreligiös und ließen – in ihrer Freihandelsideologie und Friedenseuphorie nach Jahren des Krieges – zunächst jedes Verständnis für das Ausmaß der Krise vermissen. Als sie sich nach monatelanger Verzögerung endlich zur Auseinandersetzung mit der Not der Bevölkerung gezwungen sahen, bemerkte man, dass es an Institutionen zur Bewältigung der Krise fehlte: die früher vorhandenen waren abgeschafft worden – teils im Zuge der revolutionären Prozesse, teils wegen der Verstaatlichung kirchlicher Institutionen, teils wegen der Zusammenlegung von Staaten und der Beseitigung scheinbar überflüssiger Sozialeinrichtungen – und neue gab es nicht. Hier musste also improvisiert werden. Wie ging das vor sich?

    Zunächst waren es vermögende Privatleute, Bankiers oder Fabrikanten wie der Großvater von Friedrich Engels in Elberfeld, die private Hilfsvereine – sogenannte Kornvereine – gründeten und Hilfe organisierten63, zum Beispiel Armenspeisungen in Suppenküchen, Kredite oder Getreidelieferungen aus Russland.64 Auch für die Schweiz war die Konstitution solcher Hilfsvereine charakteristisch.65 In der nächsten Stufe kamen dann die Magistrate, denen die Initiatoren der Hilfsvereine oft angehörten, und die angesichts der aktuellen Not oft in Überschreitung ihrer Kompetenzen kommunale Hilfe organisierten. Erst aufgrund der massiven Proteste und regen öffentlichen Diskussionen,66 manchmal auch erst nach einem Regierungswechsel wie in Württemberg67, oder einem Ministersturz wie in Bayern68, wurden die Regierungen aktiv: Kompetenzen wurden wieder vor Ort verlagert, Selbstverwaltung wieder eingeführt,69 die in der Deutschen Bundesakte versprochenen Verfassungen ausgearbeitet, nach denen lokale Vertreter in Landesparlamente gewählt werden konnten.70 Die Stadt- und Landesregierungen übernahmen auf erweiterter Basis die Methoden der privaten Hilfsvereine.

    Zusätzlich wurden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in großem Stil erfunden: Man wollte nicht einfach Geldhilfen verteilen, sondern die Devise hieß – wie heute noch – Fördern und Fordern. Hilfe sollte es nur gegen Arbeit geben. Besonders beliebt waren – wie nach der Finanzkrise von 2008 – Straßenbaumaßnahmen, bei denen nicht nur einzelne Straßen, sondern oft ganze Straßensysteme geschaffen wurde – etwa in den neuen Königreichen Hannover, Württemberg oder Bayern, aber auch in England, wo John Loudon McAdam (1756–1836) 1817 den nach ihm benannten Straßenbau entwickelte,71 und in den USA, wo endlich die erste Straße über die Appalachen gebaut wurde, mit den entsprechenden Straßennetzen westlich und östlich davon als Folge. Österreich und die Schweiz bauten große Alpenpassstraßen, die Straßenbaudirektion Mailand zum Beispiel die atemberaubende Straße über das Stilfser Joch, die Südtirol mit dem Veltlin verbindet.72

    Beliebt waren auch Flussbegradigungen und Kanalbau, ob Rhein, Main oder Donau.

    Das größte Projekt in Europa dürfte die Rektifikation des Rheins gewesen sein, und man

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