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Kampf um die Weltherrschaft: Deutschland und die Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert
Kampf um die Weltherrschaft: Deutschland und die Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert
Kampf um die Weltherrschaft: Deutschland und die Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert
eBook1.578 Seiten20 Stunden

Kampf um die Weltherrschaft: Deutschland und die Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert

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Über dieses E-Book

Dieses Buch handelt von zwei Hegemonialkriegen, die üblicherweise Erster und Zweiter Weltkrieg genannt werden. Die hier vorgelegte, weithin neue Deutung zeigt, daß beide Kriege als Hegemonialkriege zwischen Deutschland und England entstanden und schon bald, längst vor den eigentlichen Kriegshandlungen, zu deutsch-amerikanischen Hegemonialkriegen wurden. Das Buch liefert eine Erklärung für den Eintritt der Vereinigten Staaten in die beiden europäischen Hegemonialkriege aus der Tradition der amerikanischen Außenpolitik. Beide Weltkriege wurden allein entschieden durch das überragende Wirtschaftspotential der Vereinigten Staaten. Das Ergebnis beider Kriege war eine Position der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten nach 1945, nach 1945 zudem auch eine politische und militärische Hegemonie. Die analyse wird bis zur Gegenwart fortgeführt durch die Darstellung, wie die Vereinigten Staaten ihre hegemoniale Position nach 1945 und mehr noch nach 1990 ausbauten und wie Deutschland in die Hegemonialpolitik der Vereinigten Staaten eingebunden war und ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberHelios Verlag
Erscheinungsdatum28. Okt. 2017
ISBN9783869331904
Kampf um die Weltherrschaft: Deutschland und die Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert

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    Buchvorschau

    Kampf um die Weltherrschaft - Gernot Volger

    Personenregister

    EINLEITUNG: Gegner im Kampf um die Weltherrschaft oder Partners in Leadership?

    1917 und 1989: die beiden Epochenjahre des 20. Jahrhunderts. Wenn sie etwas lehren, dann dies, daß Geschichte kein letztes Ergebnis hat, daß historische Tatsachen nicht unumstößlich sind. Da Geschichte zur Zukunft hin immer offen ist, gibt es stets auch die Möglichkeit der Rücknahme, der Revision.¹ In beiden Epochenjahren sind es die gleichen Akteure, die das weltpolitische Geschehen bestimmen: die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland und Rußland. Doch weder 1917 noch 1989 war Rußland der Angelpunkt des weltpolitischen Geschehens. Noch sind wir zu sehr geprägt von dem, was wir bis vor kurzem durchlebt haben, vom „welthistorischen Gegensatz zwischen dem sowjetischen Kommunismus und den tendenziell offenen Gesellschaften des Westens. Hat dieser Antagonismus in der Kubakrise nicht hart an den Rand des Atomkriegs geführt? Hat nicht bereits Alexis de Tocqueville diesen Antagonismus vorausgesehen, als er vor mehr als 150 Jahren über Rußland und die Vereinigten Staaten von Amerika schrieb, jedes von ihnen erscheine „nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten², daß also die anderen Staaten zu zweitrangigen, abhängigen Mächten absinken würden? Es scheint aber, daß wir den Kalten Krieg, gerade weil wir so sehr in ihn verwoben waren, in seiner Bedeutung deutlich überschätzen.

    Die Verbindung der beiden Epochenjahre 1917 und 1989 läßt sich auch ganz anders lesen – daß nämlich das 20. Jahrhundert vor allem geprägt ist vom Konflikt zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. 1917 standen sich die Vereinigten Staaten und Deutschland erstmals als Kriegsgegner gegenüber; 1989 erklärte die amerikanische Regierung die Bundesrepublik zum partner in leadership, und als im selben Jahr der ökonomische Niedergang der Sowjetunion und der Untergang der DDR den Weg zur deutschen Vereinigung freimachten, war es die Regierung der Vereinigten Staaten, die ihre Interessen gegenüber der Sowjetunion weitgehend durchsetzte.

    Zweimal, seit Anfang 1917 und seit Ende 1941, standen sich im 20. Jahrhundert Deutschland und die Vereinigten Staaten als Gegner in Kriegen gegenüber, die erst durch das Eingreifen der Vereinigten Staaten den Charakter von Weltkriegen annahmen. Weltkriege werden um die Weltherrschaft geführt. Das war ein Novum in der Geschichte, allerdings bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Zeitdiagnostiker Friedrich Nietzsche vorausgeahnt: „Schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft."³ Während der ersten 45 Jahre des 20. Jahrhunderts waren Deutschland und die Vereinigten Staaten die wichtigsten Antagonisten im Kampf um die Weltherrschaft, wenngleich der Konflikt nicht immer manifest war. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war geprägt von der amerikanischen Hegemonialmacht, die ihrem nunmehr vielfältig eingebundenen und kontrollierten ehemaligen Gegner im Schatten des wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Konflikts mit der Sowjetunion Schritt für Schritt ein Wiedererstarken ermöglichte – bis hin zur zeitweiligen rhetorischen Akzeptanz als wichtigstem Verbündeten. Lassen sich also die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und darüber hinaus in die Formel fassen: Von Gegnern im Kampf um die Weltherrschaft zu partners in leadership?

    Die nachfolgende Untersuchung dieser Frage ist an drei Ausgangsüberlegungen orientiert:

    1. Alle staatliche Organisation war ursprünglich militärische Organisation. Die alte Erkenntnis pecunia nervus belli läßt sich zeitgemäß umformulieren: Das wirtschaftliche Potential eines Lands in Zusammenhang mit seiner Fähigkeit, wirtschaftliche Transaktionen eines anderen Lands negativ zu beeinflussen, entscheidet über die Bedeutung dieses Lands in den internationalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen.

    2. Mit dem Übergang zur Industriegesellschaft verändert der Krieg seinen Charakter auf fundamentale Art und Weise. Seit der Industriellen Revolution werden längerwährende Kriege zwischen Industrieländern durch die Mobilisierung industrieller Ressourcen und durch den Einsatz von Technik und industriell gefertigtem Material entschieden, wie bereits der Krimkrieg 1853–56 ⁵, der amerikanische Sezessions-/Bürgerkrieg 1861–1865 ⁶ und später die beiden Großkriege des 20. Jahrhunderts deutlich machten. Kriege zwischen Großmächten sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts industrialisierte Kriege. Dabei revolutionierte die Industrialisierung die Entwicklung der Kriegstechnik – von der Dampfmaschine über die Eisenbahn bis zur Kernspaltung – in bislang ungeahntem Maße. Unter den Bedingungen der Industriegesellschaft hat eine nachhaltig überlegene militärische Schlagkraft stets ein überlegenes Wirtschaftspotential zur Voraussetzung. Ein solches Wirtschaftspotential schließt die Verfügbarkeit von Rohstoffen, industrielle Fertigkeiten, ein fortgeschrittenes Technologieniveau sowie eine hochentwickelte Infrastruktur und Logistik ein. Zu den Charakteristika industrialisierter Kriege gehören auch die Möglichkeiten zur Finanzierung solcher Kriege, denn die Kosten industrieller Kriege zwischen Großmächten sind enorm. In summa: Nicht mehr strategische und operative Führungskunst oder soldatische Tapferkeit entscheiden über den Ausgang großer Kriege (eine Entscheidungsschlacht gab es weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg), sondern es sind vor allem die Wirtschaftsleistung der beteiligten Länder sowie die Fähigkeit zur optimalen Mobilisierung aller wirtschaftlichen Ressourcen. Die Wirtschaft wird zur kriegsentscheidenden Waffe.

    Das galt jedenfalls bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Seither hat die Entwicklung von Nuklearwaffen sowie der zugehörigen Trägersysteme den Krieg abermals revolutioniert mit der Folge, daß Nuklearwaffen, über die mit Ausnahme Deutschlands und Japans alle großen Industrieländer verfügen, Kriege zwischen Industrieländern bei Strafe des Untergangs verhindern. Gleichwohl wurde auch der Kalte Krieg in den Produktionsstätten und Werkhallen entschieden. Seitdem hat sich die Bedeutung des Industriepotentials für das Führen von Kriegen abermals verschoben: Heute führt die größte und technologisch am weitesten entwickelte Volkswirtschaft High-Tech-Kriege mittels fortgeschrittenster Militärtechnologie auf der Basis avancierter Wissenschaft und Technik.

    3. Die Vereinigten Staaten waren bereits vor dem Sezessions-/Bürgerkrieg wirtschaftlich eine Großmacht ⁷; um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert übertraf ihre Wirtschaftsleistung die aller anderen Großmächte deutlich. Auf dem europäischen Kontinent war das Deutsche Reich ungefähr seit der Jahrhundertwende auf dem Weg, ein wirtschaftliches Übergewicht gegenüber der bisherigen Weltvormacht England zu erlangen. Sowohl im Fall der Vereinigten Staaten als auch im Fall Deutschlands bildeten das ökonomische Potential der beiden Länder sowie deren wirtschaftliche Dynamik die Grundlage für die angestrebte politische Führungsposition.

    Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum der Untersuchung:

    1. Welches waren die Gründe für die Entfesselung der europäischen Kriege 1914 und 1939, und gab es strukturelle Parallelen im Hinblick auf die Gründe?

    2. Wie reagierten die Vereinigten Staaten auf die europäischen Kriege von 1914 und 1939, und gab es strukturelle Parallelen im Hinblick auf ihr Handeln?

    3. Was waren die Gründe, die die Vereinigten Staaten zum Eingreifen in die europäischen Kriege veranlaßten, und gab es strukturelle Parallelen in der amerikanischen Politik zwischen dem Beginn der europäischen Kriege und dem amerikanischen Eintritt in diese Kriege? Extrem einfach formuliert: Warum traten die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert zweimal in europäische Großkriege ein?

    Anmerkungen Einleitung

    1„Die Weltgeschichte als das Weltgericht…, das keinen seiner Urteilssprüche ohne Revisionsmöglichkeit fällt. Helmuth Plessner, „Macht und menschliche Natur – Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt 1981, S. 135–234, hier S. 232 (Hervorhebung im Original). Plessner bezieht sich auf Friedrich Schillers Gedicht „Resignation und auf Hegel, der in seiner „Philosophie des Rechts diese Formulierung aufnahm. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Sämtliche Werke, hrsg. Hermann Glockner, Band 7, Stuttgart 1956, S. 446.

    2Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835), Band I, Zürich 1987, S. 614. Allerdings findet sich bei Tocqueville nicht die Folgerung, daß sich die beiden Mächte feindlich gegenüberstehen müßten; Tocqueville war nicht der Prophet des Kalten Kriegs, als der er allzu häufig fehlinterpretiert wurde. Ähnliche Formulierungen über die Weltvorherrschaft der Vereinigten Staaten und Rußlands finden sich bei Friedrich Melchior Baron von Grimm (ab 1748 Literaturkritiker und später, ab 1776, Gesandter des Herzogs von Gotha in Paris), bei Friedrich List (Ökonom und – in heutiger Begrifflichkeit – Politikwissenschaftler, Universitätsprofessor in Tübingen und amerikanischer Konsul in Deutschland, Unternehmer und Journalist in den USA sowie Vorkämpfer des deutschen Eisenbahnbaus und der politischen Einigung Deutschlands) sowie bei Bruno Bauer (einem Intellektuellen, Philosophen, Religionshistoriker und – in heutiger Begrifflichkeit – Politikwissenschaftler um die Mitte des 19. Jahrhunderts). Der Ökonom List hat später seine Einschätzung hinsichtlich Rußlands revidiert.

    3Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Werke, hrsg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band VI,2, Berlin 1968, S. 144. Dieser Kampf würde sich unter den europäischen Großmächten abspielen, an die Vereinigten Staaten dachte Nietzsche gewiß nicht.

    4Das ist, es versteht sich von selbst, eine extreme Reduktion von Komplexität. Es ließen sich auch weit elaboriertere und komplexere Macht-Indizees bilden. Für die Phase der wirtschaftlichen Entwicklung, die in der nachfolgenden Untersuchung von Bedeutung ist, verschlägt das nichts. Für die Welt des 21. Jahrhunderts müßte ein Machtindex das Produkt aus den zu gewichtenden Faktoren Bruttosozialprodukt, Technologieniveau, Militärausgaben und evtl. Bevölkerungszahl sein.

    5Im Krimkrieg wurden erstmals Schnellfeuergewehre, Telegraphie, Photographie und Massenkommunikation (zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung) eingesetzt.

    6Der Sezessions-/Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten wurde primär unter Einsatz wirtschaftlicher Instrumente, mit wirtschaftlicher Zielsetzung (Abnutzungskrieg, Nachschubunterbrechung des Gegners) und mittels der nunmehr industriell gefertigten Flotte geführt: das erste gepanzerte, schraubengetriebene Dampfschiff, erste Explosivgeschosse, erste Tretminen wurden eingesetzt. Neue technologische Entwicklungen wie das Unterseeboot, Panzerschiffe und Torpedos sowie der Telegraph wurden damals erstmals eingesetzt; die Existenz der Eisenbahn ermöglichte Truppen- und Materialtransporte in bis dahin unbekannten Größenordnungen.

    7Großmacht sei hier verstanden als ein Staat, der über die Fähigkeit verfügt, das internationale politische System nicht unerheblich zu beeinflussen und der damit seine Interessen international stärker durchzusetzen vermag als andere Mächte. Das internationale politische System wird in hohem Maße von den Großmächten geprägt. In militärischer Hinsicht vermag eine Großmacht andere Mächte zu bedrohen, und sie kann sich gegen andere Mächte militärisch behaupten.

    KAPITEL I: Zwei führende Wirtschaftsmächte

    Wirtschaftliche Grundlagen

    Was bedeutet Industrialisierung?

    Seit Jahrtausenden wirtschafteten die Menschen, um ihren Bedarf oder den ihres Haushalts zu decken. Noch die Frühmoderne ist als eine Welt des Mangels zu charakterisieren. Wirtschaftsunternehmen waren agrarisch, ländlich und klein, allenfalls kommerziell orientiert. Bereits vor der Industriellen Revolution hatten sich als unabdingbare Voraussetzungen für deren Entstehen eine rationale Buchführung als Kapitalrechnung und ein rationales Recht herausgebildet. Modernes Wirtschaften bedeutet, für andere, in der Regel für „den Markt", zu produzieren. Der wirtschaftende Mensch entdeckte die Kapitalbildung durch Sparen, also die Schaffung von Anlagekapital, in der Erwartung zukünftig höherer Erträge. Dieses Anlagekapital findet in Form von Maschinen Verwendung in arbeitsteilig organisierten Unternehmen, wobei es fortschreitend menschliche Arbeitskraft ersetzt. Im industriellen Kapitalismus ist das hervorstechende Charakteristikum die Mechanisierung der Produktion in Fabriken, in Großfabriken zumal, in einer städtischen Umgebung mittels einer der militärischen Disziplin ähnlichen Arbeitsdisziplin. Unabdingbar notwendig waren auch drei Ausgangsmaterialien: Eisen (transformiert in Stahl), fossile Brennstoffe (also gespeicherte Energie) und Gummi.

    Der industrielle Kapitalismus ist ein evolutionäres System beständiger wirtschaftlicher Neuerung; mit seinem Entstehen seit dem späten 18. Jahrhundert revolutioniert sich die Wirtschaft unaufhörlich aus sich selbst heraus. Dabei geht es um die Entwicklung neuer Konsumgüter (zudem auch neuer intermediärer Güter), doch gleichermaßen um neue Produktions- und Transportmethoden, die Gewinnung und den Einsatz neuer Rohstoffe, um neue Formen der industriellen Organisation, die Erschließung neuer Handelswege und neuer Märkte.¹ Als ein System beständiger Neuerung hat die Industrielle Revolution ausschlaggebend dazu beigetragen, die geistige Haltung der modernen Wissenschaft herauszubilden: Wissenschaftliche Forschung liefert die Grundlagen für die Entwicklung neuer Rohstoffe, Verfahren und Produkte. Wissenschaft und Technik bilden den Motor der industriellen Produktion; technischer Fortschritt treibt die wirtschaftliche Entwicklung vorwärts. Produktivitätsgewinne ermöglichen die massenhafte Produktion von Gütern zu sinkenden Preisen. Der industrielle Kapitalismus zielt au fond auf Massenkonsum: Konsumtion ist das „eigentliche" Ziel allen industriell-kapitalistischen Wirtschaftens, nahezu alle Menschen wollen fast ständig und immer mehr konsumieren (Konsumwünsche werden auch von den Anbietern stimuliert, um Nachfrage für neue Produkte zu schaffen.) Wirtschaftliche Entwicklung verläuft nicht linear, sondern in Wellen. Krisen, in denen nicht mehr ertragreiches Kapital oder Überkapazitäten aus dem Produktionsprozeß ausgeschieden werden, gehören daher zum industriellen Kapitalismus. Sie werden überwunden durch die erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen, Erfindungen, Verfahren, und Produkte.

    Zuerst in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in einigen Ländern Westeuropas und in den Vereinigten Staaten setzte sich die industrielle Produktionsweise durch. Es waren die industriellen Aktivitäten, die die agrarisch orientierte Handelswirtschaft in eine moderne Industriewirtschaft transformierten. Fortan bestimmten die durch eine größere Effizienz der Produktion erzielten Produktivitätsfortschritte – erlangt in der Regel über technischen Fortschritt – das Wachstum der Wirtschaft. Der industrielle Sektor erzielt in modernen Industriewirtschaften die größten Wachstumsraten. Innerhalb des Industriesektors² kommt dem produzierenden Gewerbe die größte Bedeutung zu. Die immer stärkere Ausweitung des industriellen Sektors und der Anstieg der Produktivität führten zu einer deutlichen Vergrößerung des Pro-Kopf-Einkommens. Die Industrialisierung vergrößerte in enormer Weise die Möglichkeiten für den Handel der Länder untereinander, aber auch für den internationalen Kapitalverkehr und die internationale Migration. Die wirtschaftliche Verflechtung der Staaten untereinander nahm rapide zu.

    Im Verlaufe dieser Entwicklung veränderte sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Struktur der Wirtschaftsunternehmen in den Industrieländern auf fundamentale Weise. Mit der Ausrichtung auf industrielle Unternehmen und mit der damit einhergehenden Bildung von größeren und Großunternehmen, die Skalenvorteile erzielten (d. h. bei der Herstellung eines Guts sinken die Stückkosten, je größer die Gesamtproduktion ist), bedurften diese neuen Unternehmen erstens eines größeren Kapitalstocks, zweitens der Entwicklung und Umsetzung von Marketing- und Absatzstrategien, sowie drittens einer stärkeren Arbeitsteilung im Bereich der kaufmännischen Verwaltung. Die letzte Entwicklung führte zur Anstellung von Kapitalverwaltern oder managers, da der Unternehmer nicht mehr imstande war, alle Sparten eines Großunternehmens – Einkauf, Produktion, Verpackung, Transport, Absatz, Marketing, Finanzierung – zu leiten. Im managerial capitalism werden die Entscheidungen über Produktion, Unternehmenswachstum und Investitionen von Managern getroffen. In den die Vereinigten Staaten, aber auch im Deutsche Reich und zum geringen Teil in England, den Vorreitern der Industriellen Revolution, war diese Entwicklung am deutlichsten sichtbar.

    Der industrielle Kapitalismus verändert mit seiner immer stärker werdenden Dynamik nicht nur das gesamte Wirtschaftsleben, einschließlich der Landwirtschaft, grundlegend, vielmehr reichen die Wirkungen dieses Prozesses weit in Gesellschaft, Politik, Krieg und das Alltagsleben hinein. Seit der Seßhaftwerdung des Menschen und der Erfindung des Ackerbaus zwecks Nahrungsbeschaffung durch bewußt betriebene Produktion vor rund 11 000 Jahren im Nahen Osten – ein sich über mehrere Jahrtausende hinziehender Prozeß – hat nichts das Leben des Menschen so nachhaltig verändert wie die Industrielle Revolution.

    England: Pionierland der Industrialisierung

    Ungefähr um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gelang England als erstem Land der Übergang von einer agrarisch bestimmten Handelswirtschaft zu einer Industriewirtschaft. Im 19. Jahrhundert war England die größte und dynamischste, die am weitesten entwickelte und die am stärksten industrialisierte Volkswirtschaft der Welt. Um die Mitte es 19. Jahrhunderts entfielen rund 21 Prozent der Weltindustrieproduktion auf England, gefolgt von Frankreich mit 17 Prozent und Deutschland mit 16 Prozent.³ Kurz nach der Jahrhundertmitte entfiel die Hälfte der weltweiten Eisen- und Textilproduktion auf England. Um 1870 war England die größte Produktionsstätte (workshop of the world) mit 32 Prozent der Weltindustrieproduktion, gefolgt von den Vereinigten Staaten mit 23 Prozent und Deutschland mit 13 Prozent. Seine Überlegenheit als industrielle Pioniermacht trug in hohem Maße dazu bei, ein Weltreich (empire) zu erobern und zu beherrschen, das in seiner Hochzeit rund ein Viertel der Welt umfaßte. Als führende Industriemacht verfügte es über die Flottentechnologie, um dieses weltumspannende Reich aufrechtzuerhalten. Durch seine industrielle Überlegenheit beherrschte England den Weltmarkt: es war die größte Handelsmacht, auf die rund ein Viertel des Welthandels entfiel.

    Um das Jahr 1880 waren in England dann nur noch 15 Prozent der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt⁴, in Deutschland immerhin noch 42 Prozent (oder, nach neueren, präziseren Zahlen 48 Prozent), in den Vereinigten Staaten 52 Prozent.⁵ Diese Entwicklung – verminderte volkswirtschaftliche Bedeutung des Agrarsektors und vermehrte Bedeutung des industriellen Sektors – wurde ausschlaggebend gefördert durch einen starken Rückgang der Transportkosten. Dieser ermöglichte es, Getreide seit Mitte der 1870er Jahre billiger zu importieren als in England anzubauen; seit Mitte der achtziger Jahre wurden 65 Prozent des englischen Getreidebedarfs eingeführt. Zudem gab es, anders als in allen anderen europäischen Ländern, keine Zölle, die die Einfuhr von Agrargütern hätten behindern können. Die englische Volkswirtschaft war bereits damals in weit höherem Maße als ihre Konkurrenten am Grundgedanken industrieller Wertschöpfung orientiert, wozu gehört, daß Nahrungsmittel nicht mehr heimisch erzeugt, sondern importiert werden. Im Kriegsfalle bedeutete eine solche Abhängigkeit von Getreideimporten allerdings potentiell eine deutlich höhere Verwundbarkeit, wie der politischen Klasse Englands stets bewußt war.

    Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte sich das Bild in mancherlei Hinsicht geändert. In den damals technologisch am weitesten fortgeschrittenen Industrien, nämlich Elektrotechnik, chemische Industrie und der Anwendung des Verbrennungsmotors, war England deutlich weniger modern als Deutschland oder die Vereinigten Staaten. In kaum einem Industriezweig mit fortgeschrittener Technologie – sei es Werkzeugmaschinen, Kugellager oder Chemieanlagen – gelang es, den heimischen Bedarf decken, geschweige denn nennenswerte Exporterfolge erzielen. Dagegen bestanden 70 Prozent der Exporte aus Textilien, Kohle und Eisen/Stahl, also den „alten" Gütern, die die Frühphase der Industrialisierung bestimmt hatten. Als Folge der technologischen Überalterung der englischen Industrie nahm die internationale Wettbewerbsfähigkeit Englands immer mehr ab: wertmäßig wurden mehr Güter importiert als exportiert. Das so entstehende Handelsbilanzdefizit wurde ausgeglichen durch die Zinszahlungen des Auslands auf die riesigen englischen Finanzanlagen in Übersee.

    Für die geringere Dynamik des englischen Industriesektors in den Jahren zwischen 1870 und 1914 im Vergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland waren vier wesentliche Gründe maßgebend: (1) Marktgröße: Der industrielle Sektor Englands war überwiegend auf die Produktion von Konsumgütern ausgerichtet, doch war der heimische Markt für Konsumgüter nicht so groß, daß er jene Skalenvorteile ermöglicht hätte, die für das Entstehen von Großunternehmen nötig sind. (2) Unternehmensstruktur: Englische Unternehmen waren immer noch weit stärker als in den Vereinigten Staaten oder in Deutschland an der Figur des Unternehmer-Eigentümers ausgerichtet, managerial capitalism bildete sich nur in geringem Umfang heraus. Die Folge war, daß kleinere und mittlere Unternehmen die Wirtschaft prägten. (3) Exportstruktur: Industrielle Fertigprodukte lieferte England in beträchtlichem Maße (in vielen Sparten zwischen 67 und 55 Prozent) in seine Kolonien, die unterindustrialisiert gehalten wurden. Die Folge war, daß die englische Produktionsstruktur in erster Linie auf traditionelle Güter ausgerichtet war, die sich in den wirtschaftlich von England kontrollierten Kolonien keinem Wettbewerb stellen mußten. Das führte zu wenig Innovation und zu einer geringen wirtschaftlichen Dynamik (4) Bildungsvoraussetzungen: Das englische Bildungsideal war „humanistisch orientiert, also an der Ausbildung in alten Sprachen, nicht an Naturwissenschaft und Technik. Daher fehlten in dieser Phase der wirtschaftlichen Entwicklung der englischen Volkswirtschaft die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen und deren technische Anwendungen. Das Ingenieurwesen war im Vergleich zu Deutschland und den Vereinigten Staaten wenig entwickelt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die englische Industrie mit ihrer technologischen Überalterung „in vielerlei Hinsicht ein in Betrieb befindliches Museum industrieller Archäologie⁶. Das wurde aber weder von den englischen Unternehmern noch von der politischen Klasse des Lands so gesehen – im Gegenteil, man sah das Land immer noch als industrielle Führungsmacht.

    Ganz anders verlief dagegen die Entwicklung des Finanzsektors. Als erstes Land entwickelte England in dieser Zeit einen modernen internationalen Dienstleistungssektor in den Bereichen Bankwesen, Seetransport und Versicherung; in diesen Branchen nimmt England auch heute noch eine Spitzenstellung in der Welt ein. Von herausragender Bedeutung war die Funktion, die England in dem sich damals herausbildenden internationalen Währungssystem wahrnahm. The City of London war der Finanzplatz, wo Kreditgeschäfte aller Art zwischen Kaufleuten aller Länder getätigt wurden: ein multilaterales, weltweit ausgerichtetes Abrechnungssystem, ein kompetent gesteuerter internationaler Kreditmechanismus, der auf informelle Art so etwas wie eine Weltzentralbank bildete. Der größte Anteil des Welthandels wurde in London finanziert und abgerechnet. Der größte Anteil internationaler Anleihen wurde am Londoner Kapitalmarkt aufgelegt: im Jahre 1913 entfielen 44 Prozent aller Direktinvestitionen im Ausland auf England, die restlichen 56 Prozent auf Frankreich, Deutschland, Belgien und die Niederlande.⁷ Viele damalige Entwicklungsländer, vor allem südamerikanische Länder, legten Anleihen am englischen Kapitalmarkt auf, in erster Linie, um die Schaffung ihrer Infrastruktur (Eisenbahnen und öffentliche Versorgungsunternehmen) zu finanzieren. Das lag, nebenbei, im höchsten Maße im Interesse der englischen Ex- und Importwirtschaft, die zuerst die Materialien für den Eisenbahnbau, bis hin zu vollständigen stählernen Bahnhöfen, lieferte und später die Rohstoff- und Nahrungsmittelexporte dieser Länder aufnahm. Abgesehen vom Gold wurde der größte Anteil internationaler Währungsreserven in Pfund Sterling gehalten. Das englische Pfund war die einzige wirklich internationale Währung. „London war der Mittelpunkt eines Finanzimperiums, das internationaler und in seiner Mannigfaltigkeit ausgedehnter war als das politische Imperium, dessen Hauptstadt es war."⁸

    Die Industrieproduktion der Welt 1870 bis 1913

    Nach dem Pionierland England entwickelte sich, mit etwas Verzögerung, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich und deutlich später in Deutschland allmählich die industrielle Produktionsweise. Bis ungefähr 1860/65 lag der Industrialisierungsgrad in Frankreich höher als in den deutschen Ländern. Doch ungefähr seit der Jahrhundertmitte beschleunigte sich die industrielle Entwicklung Deutschlands beträchtlich. Von 1850 bis 1913 verfünffachte sich das deutsche Inlandsprodukt, und die Produktionsleistung pro Kopf wuchs in dieser Zeit um 250 Prozent. Damit nahm auch Deutschlands Anteil an der Weltindustriegüterproduktion stetig zu; kurz nach der Jahrhundertwende übertraf der deutsche Anteil den englischen. Die Vereinigten Staaten vergrößerten seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mittels ihrer höheren Produktivität, transformiert in höhere Raten des Wirtschaftswachstums, ihren Anteil beständig, so daß am Vorabend des Ersten Weltkriegs 36 Prozent der Weltindustrieproduktion auf die Vereinigten Staaten entfielen. Das entsprach der Industrieproduktion der drei nächstwichtigen Industrieländer England (14 Prozent), Deutschland (16 Prozent) und Frankreich (6 Prozent) zusammengenommen. Setzt man die industrielle Produktion der Industrieländer am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Beziehung zueinander mit der Industrieproduktion Englands als Referenzgröße (100 Prozent), so erreichte Deutschland damals 122 Prozent der englischen Industrieproduktion, während auf die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer größeren Bevölkerungszahl bei ungefähr gleichem wirtschaftlichem Entwicklungsniveau 241 Prozent entfielen.⁹ Andererseits: Konstruiert man einen Index der industriellen Produktion pro Kopf für das Jahr 1913, so erscheint die deutsche industrielle Leistung nicht mehr ganz so beeindruckend. Setzt man die Vereinigten Staaten mit 100 Prozent, so erreichte England 90 Prozent dieser Leistung und Deutschland (an vierter Stelle nach der kleinen Volkswirtschaft Belgien und gleichauf mit der kleinen Volkswirtschaft Schweiz) 64 Prozent.¹⁰ Das Pro-Kopf-Einkommen Deutschlands lag im Jahre 1913 (abgesehen von den kleineren Volkswirtschaften Belgien, Dänemark und der Schweiz) an dritter Stelle in der Welt, wobei zu berücksichtigen ist, daß England sein Sozialprodukt mit einer deutlich geringeren Bevölkerungszahl als Deutschland erstellte (45 zu 65 Millionen Einwohner) und das Finanzzentrum der Welt bildete.

    Tabelle 1

    Verteilung der Weltindustrieproduktion 1870–1913

    (in Prozent)

    Quelle: W. W. Rostow, The World Economy – History & Prospect, Austin (Texas) 1978, S. 52–53.

    Die Ursache der relativen Verschiebungen in der Weltindustrieproduktion bilden die unterschiedlichen Wachstumsraten der Volkswirtschaften: diese betrugen preisbereinigt im Zeitraum zwischen 1870–1913 in England 1 Prozent, in Deutschland 1,6 Prozent und in den Vereinigten Staaten 1,8 Prozent pro Kopf jährlich.¹¹ Noch deutlicher wird die Diskrepanz der Wachstumsraten der drei Volkswirtschaften, wenn man lediglich den Zeitraum von 1890 bis 1913 betrachtet: England 1,7 Prozent, Deutschland 2,9 Prozent, Vereinigte Staaten 3,9 Prozent pro Jahr.¹² Dieses Wirtschaftswachstum wurde vor allem von der Dynamik des Industriesektors getragen, nämlich von dessen Produktivität, wobei die Produktivität einen Indikator des technischen Fortschritts bildet. Allerdings war die deutsche Produktivität geringer als die englische oder die amerikanische: Deutschland erreichte im Jahre 1870 lediglich 70 Prozent der Produktivität der Vereinigten Staaten, während England damals die amerikanische Produktivität um 15 Prozent übertraf. Im Jahre 1913 hatte sich die Relation zwischen der deutschen und der amerikanischen Produktivität nicht verändert, wohingegen die englische Produktivität auf 86 Prozent der amerikanischen zurückgegangen war.¹³ Dabei handelt es sich um ein durchaus nicht ungewöhnliches Phänomen, denn in der Regel weisen jene Länder, die beginnen, einen industriellen Sektor herauszubilden, größere Raten des Wirtschaftswachstums auf als weiter entwickelte Volkswirtschaften. Der Grund für die geringeren Wachstumsraten der englischen Volkswirtschaft lag nicht darin, daß das Land wirtschaftlich stagnierte, sondern daß die deutsche und die amerikanische Industrie dynamischer und moderner waren und daher höhere Raten des Wirtschaftswachstums aufwiesen. Dynamischer waren die amerikanische und die deutsche Volkswirtschaften, weil sie flexibler auf wirtschaftliche und technologische Veränderungen reagierten und solche Veränderungen in größerem Maße selbst generierten. England hatte bereits Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts seine industrielle Spitzenstellung an die Vereinigten Staaten verloren und war in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts industriell auf den dritten Rang unter den Volkswirtschaften zurückgefallen.¹⁴ Zudem trug gerade die Möglichkeit, auf die Ressourcen des Kolonialreichs zurückgreifen zu können, in hohem Maße dazu bei, eine Umorientierung der englischen Volkswirtschaft, hin zu den höherwertigen, oftmals durch Forschungs- und Entwicklungsleistungen gewonnenen Produkten zu verhindern. So war das englische Empire unter langfristigen Gesichtspunkten bereits damals nur noch in direkter finanzieller Hinsicht – die Erträge der City of London in ihrer Funktion als virtuelle Weltzentralbank – ein wirtschaftliches Aktivum, in industrieller Hinsicht verhinderte die Existenz des Empire einen rechtzeitigen Strukturwandel.

    Insgesamt war der Zeitraum 1870 bis 1913, und vor allem der Zeitraum ab1890, durch ein starkes Wachstum der industriellen Produktion in den wirtschaftlich wichtigsten Ländern gekennzeichnet („stark" bezogen auf die niedrigen vorindustriellen Raten des Wirtschaftswachstums). Vielleicht bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, spätestens jedoch 1870, waren die Vereinigten Staaten zur größten Volkswirtschaft der Welt geworden, um 1880 wurden sie dann auch, die bisherige weltwirtschaftliche Vormacht England überholend, zum größten Produzenten von Industriegütern. Dies vor allem deshalb, weil die Vereinigten Staaten gegen Ende des Jahrhunderts sowohl technologisch wie auch, damit zusammenhängend, in der Produktivität die erste Stelle in der Welt einnahmen.

    Das Weltwirtschaftssystem des späten 19. Jahrhunderts ist durch ein starkes Wachstum des Welthandels charakterisiert, das rund 20 Prozent höher lag als das Wachstum der Weltproduktion. Der umfangreichste und wichtigste Teil des Austauschs fand zwischen den Industrieländern statt. Doch auch der Kapitalexport nahm beträchtlich zu. Zwischen 1870 und 1914 investierte England (mit großen Fluktuationen) durchschnittlich mehr als 5 Prozent seines Bruttosozialprodukts im Ausland; Frankreich und Deutschland, die beiden anderen großen Kapitalexportländer, investierten, mit deutlich niedrigeren Beträgen, 4 Prozent beziehungsweise 3 Prozent.¹⁵ Als Folge des Kapitalexports war im Jahre 1914 mehr als ein Viertel des gesamten englischen Volksvermögens von rund 14,3 Milliarden Pfund – 4 Milliarden Pfund – im Ausland angelegt, die Hälfte davon im Empire.¹⁶ Die Erträge aus diesen Auslandsinvestitionen waren beträchtlich: sie betrugen rund 4 Prozent des Volkseinkommens in den 1880er Jahren, 7 Prozent im Jahre 1903 und knapp 10 Prozent am Vorabend des Weltkriegs.¹⁷ Dieses Weltwirtschaftssystem funktionierte, weil alle Regierungen, jenseits der überkommenen merkantilistischen Vorstellungen, kaum wirtschaftspolitische Vorstellungen entwickelten und daher an einer politischen Steuerung des Weltwirtschaftssystems wenig Interesse zeigten.

    Die amerikanische Volkswirtschaft

    Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten dynamischer entwickelt als die Englands. Zwar warf der Sezessions-/Bürgerkrieg die Vereinigten Staaten in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurück, doch in der Periode des Wiederaufbaus und danach machte die amerikanische Industrie stürmische Fortschritte; ab 1866 nahm das amerikanische Wirtschaftswachstum stark zu. Das wirtschaftliche Handeln unterlag keinerlei staatlicher Kontrolle oder Einschränkung. Eine ungeheure technische und wirtschaftliche Dynamik brach sich Bahn, angetrieben von einer skrupellosen Erwerbsgesinnung. Tycoons („Industriekapitäne oder „Industriemagnaten) bauten ohne Rücksicht auf die menschlichen „Kosten" riesige Unternehmensimperien auf, wohingegen ein unternehmerischer Mittelstand sich weder damals noch später in nennenswertem Ausmaß herausbildete. Bereits in den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stiegen die Vereinigten Staaten zur ersten Industriemacht der Welt auf mit einem Anteil von 29 Prozent der Weltindustrieproduktion und ließen dabei England mit einem Anteil von 27 Prozent hinter sich zurück. Allerdings produzierten die Vereinigten Staaten in erster Linie für den großen heimischen Markt; auf sie entfielen daher um diese Zeit nur 11 Prozent des Welthandels.

    In der Frühphase der Industrialisierung der Vereinigten Staaten trieben deren reiche Ausstattung mit Land, Bodenschätzen, Energieressourcen und die immense Einwanderung die wirtschaftlichen Entwicklung voran. Nachdem Mexiko 1848 riesige Gebiete mit Gewalt entrissen worden waren, darunter auch das nördliche Kalifornien, bildeten im besonderen die Funde des kalifornischen Goldrauschs zwischen 1848 und 1855 – es wurden rund 12 Millionen Unzen Gold im heutigen Wert von 8,5 Milliarden US-Dollar gefunden – eine höchst wichtige Bedingung für die Herausbildung des Kreditwesens und damit eine wesentliche Grundlage der Industrialisierung, nämlich deren Finanzierung. Eine expandierende Volkswirtschaft bedarf einer beständigen Versorgung mit zusätzlichem Geld, und damals wurden amerikanische Münzen in Gold und Silber geprägt. Darüber hinaus waren die Goldfunde auch für die wirtschaftliche Entwicklung des amerikanischen Westens von größter Bedeutung. Von ebenso großer Bedeutung war der beständige Zustrom von Einwanderern, billigen Arbeitskräften; das ganze Jahrhundert hindurch gab es keine Beschränkung der Einwanderung. Nach dem Sezessions-/Bürgerkrieg nahmen die Einwandererzahlen aufgrund der Umstellung auf Dampfschiffe in den Industrieländern deutlich zu. Es waren, abgesehen von sozialen Randexistenzen, vor allem die Wagemutigsten und die Unternehmungsfreudigsten, die Europa verließen, um in den Vereinigten Staaten ihre Zukunft zu gestalten. Nach Ableistung ihres Loyalitätseids bei der Einbürgerung wurden sie, mit Ausnahme von Juden und Asiaten, als Gleiche unter Gleichen akzeptiert. Diese Einwanderer waren als Arbeitskräfte für das industrielle Wachstum von höchster Bedeutung, vor allem in den Wachstumsindustrien Stahl, Bergbau, Eisenbahnbau, Textilien, Fleischverpackung und Bau.

    Indes bedurfte die unter ständigem Kapitalmangel leidende amerikanische Volkswirtschaft zur Finanzierung der Industrialisierung, zur infrastrukturellen Erschließung des Lands und zur Finanzierung der permanenten Verschuldung der Bundesregierung eines beständigen Kapitalimports, der beinahe ausschließlich aus England kam; daher gab es vielfältige Verbindungen zwischen amerikanischen und englischen Großbanken. Auch wenn die Vereinigten Staaten England als führende Volkswirtschaft um 1880 ablösten, blieben sie, wie vorher schon, in Finanz-, Währungs- und Handelsfragen auf vielfältige Art in das von England dominierte Weltwirtschaftssystem des 19. Jahrhunderts eingebunden. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs entfiel der größte Einzelposten englischer Investitionen im Ausland auf die Vereinigten Staaten: 754 Milliarden Pfund von insgesamt 1,9 Billiarden Pfund, also 39 Prozent. (Zum Vergleich: auf Deutschland entfielen gerade mal 0,3 Prozent, auf Rußland 2,3 Prozent.)¹⁸ Allerdings änderte sich die Situation ungefähr vom Beginn des 20. Jahrhunderts an allmählich. Seitdem entwickelten sich die Vereinigten Staaten in zunehmendem Maße zum Kapitalexportland, mehr und mehr liehen amerikanische Banken Gelder in alle Welt, auch nach England. Hier deutete sich eine Entwicklung an, die später durch den Ersten Weltkrieg stark beschleunigt und erst danach vollständig sichtbar wurde.

    Zwischen 1866 und 1890 war der Eisenbahnbau der Schrittmacher des Wirtschaftswachstums; in den Jahren 1869, 1881 und 1883 wurden drei transkontinentale Eisenbahnlinien fertiggestellt, finanziert durch europäisches, hauptsächlich englisches Kapitel. Die Eisenbahn bildete wiederum eine wichtige Voraussetzung für eine Besiedlung und schnelle Entwicklung des Agrarsektors im Mittelwesten und Westen, denn die Eisenbahnbauunternehmen waren auch Grundstückserschließungsunternehmen, die das ihnen vom Staat geschenkte Land an Neusiedler verkauften. Um jene Zeit bestanden die Exporte der Vereinigten Staaten zu mindestens 75 Prozent aus Agrarerzeugnissen, wovon der größte Teil nach Europa verkauft wurde. Ab Mitte der neunziger Jahre ging die Bedeutung des Eisenbahnbaus zurück. Die achtziger und die frühen neunziger Jahre waren eine Zeitspanne großer Prosperität.¹⁹ In dieser Zeit gingen amerikanischen Unternehmen zur Massenproduktion über. Dann gab es eine zweite Phase starken Wirtschafswachstums zwischen 1897 und 1908. Während dieser Zeit nahm die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Agrarsektors, wie üblich in einer sich industrialisierenden Volkswirtschaft, ab: im Jahre 1900 trug die Landwirtschaft gerade noch 14 Prozent zur Erstellung des Sozialprodukts bei²⁰, wohingegen der Anteil in Deutschland mehr als das Doppelte, nämlich knapp 30 Prozent betrug.²¹

    Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stiegen die Vereinigten Staaten zur führenden Technik- und Industrienation auf. Ein großer Teil der Forschungs- und Entwicklungsleistungen wurde nun in den Laboratorien von Großunternehmen durchgeführt; bereits im Jahre 1876 errichtete das Unternehmen Bell Telephone Company das erste industrielle Forschungslabor in den Vereinigten Staaten. Das größte Bruttosozialprodukt der Welt in Verbindung mit hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten sicherte den Vereinigten Staaten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert den ersten Platz in der Weltwirtschaft. Aufgr- und der deutlich höheren Wachstumsraten der amerikanischen Volkswirtschaft gegenüber der englischen vergrößerte sich der wirtschaftliche Abstand zwischen beiden Ländern weiter. Im Vergleich zu allen anderen Volkswirtschaften waren die Vereinigten Staaten bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Gigant unter den Ländern der Welt (Peter B. Kenen) und mit Abstand das reichste Land der Welt. Dieser volkswirtschaftliche Reichtum schlug sich, bei starker Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen, in einem höheren Lebensstandard der Amerikaner nieder. All das wurde in Kontinentaleuropa allerdings kaum wahrgenommen (eher schon in England), da die Vereinigten Staaten keine herausragende Rolle im weltweiten Handel der Industriegüter spielten (wenngleich sie, nach England, die zweitgrößte Handelsnation der Welt waren). Insgesamt haben zum dynamischen wirtschaftlichen Aufstieg der Vereinigten Staaten die immensen Ressourcen des Lands, der riesige und durch Einwanderung ständig wachsende Binnenmarkt mit seiner großen Bevölkerung (97 Millionen Einwohner im Jahre 1913) sowie die auf Experimentierfreude und Innovationen gerichteten Werte, Normen und Haltungen ausschlaggebend beigetragen.

    Seltsamerweise fehlte unter den Voraussetzungen des wirtschaftlichen Erfolgs lange Zeit die universale Schulbildung. Während der Kolonial- und Grenzzeit und bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein gab es überhaupt keine staatlichen Schulen, lediglich Schulen unter lokaler kirchlicher Aufsicht. Auch später noch erhielt die Masse der Bevölkerung in den West- und Südstaaten kaum den allereinfachsten Unterricht; kein einziger Südstaat besaß bis zum Beginn des Sezessions-/Bürgerkriegs ein System öffentlicher Volksschulen ohne Schulgeld. Lediglich in den Neuengland-Kolonien gab es im Sinne Calvins, dessen Neigung dem Schulwesen und der Wissenschaft gehörte, eine allgemeine Schulpflicht; Schulgeld wurde nicht erhoben. Allerdings war das Qualitätsniveau der Schulen höchst unterschiedlich: Zum einen wird über Schulpolitik und alles was damit zusammenhängt in den Vereinigten Staaten auf der lokalen Ebene entschieden. Zum anderen waren traditionell die lokalen Kirchen für die Schulbildung verantwortlich, und „der Unterricht, der hier dargeboten wurde, stand ganz im Dienste der herrschenden Kirche, ihres orthodoxen Dogmas, ihrer eigentümlichen Kirchen- und Sittenordnung und ihres engen, unduldsamen, unfruchtbaren, irgendwelcher achtbaren literarischen Leistung unfähigen Geistes"²². Die meisten Colleges – Universitäten gab es bis zum Sezessions-/Bürgerkrieg nicht – wurden von Religionsgemeinschaften gegründet und von klerikalen Ansichten beherrscht, jede Bildung dort stand im Dienste der Theologie. Selbst heutzutage hat an vielen Schulen in den Vereinigten Staaten die Wissenschaft einen schweren Stand gegenüber religiösem Obskurantismus. Später, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, haben dann viele reiche Unternehmer – die tycoons – für Universitäten sowie für technische Schulen und Berufsschulen große Beträge gestiftet. Dabei war die Kultur der Vereinigten Staaten, weit mehr als die Europas, von Anfang an deutlich stärker wissenschaftlich als künstlerisch ausgerichtet, wobei die Wissenschaften vor allem auf technische Anwendungen und wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeiten orientiert waren. Um die Jahrhundertwende gewannen Wissenschaft und Forschung ein immer stärkeres Gewicht, und die Universitäten wurden zu modernen Forschungsstätten um- und ausgebaut. Kein Land meldete damals weltweit mehr Patente an. Zu den Erfindungen, aus denen Konsumgüter entwickelt wurden, gehörten beispielsweise das Telephon, die Schreibmaschine, der Phonograph, elektrisches Licht und das Motorflugzeug. Auch im Ingenieurbau gab es in den Vereinigten Staaten herausragende Leistungen, wie beispielsweise beim Bau von Eisenbahnen, Großbrücken und Hochhäusern; Hochhäuser bildeten damals wie heute die spektakulärsten Bauten moderner Ingenieurskunst. Darüber hinaus setzte sich in den Vereinigten Staaten bereits vor der Jahrhundertwende die Produktionsmethode durch, ein Wirtschaftsgut in viele Einzelteile zu zerlegen, diese Einzelteile in großer Stückzahl herzustellen und dann das Endprodukt zusammenzusetzen.

    Traditionell war die amerikanische Volkswirtschaft überwiegend binnenwirtschaftlich orientiert; der riesige heimische Markt bot vielen Unternehmen ausreichend Absatzmöglichkeiten. Gleichwohl verdreifachten sich die Exporte zwischen 1860 und 1897; in den meisten Jahren gab es einen Handelsbilanzüberschuß. Im Jahre 1893 wurden die Vereinigten Staaten zur zweitgrößten Handelsnation nach England. Doch auch der deutsche Export nahm zu jener Zeit kräftig zu. Im Jahre 1913 betrug der Anteil der Vereinigten Staaten am Welthandel rund 11 Prozent, damit nahmen die Vereinigten Staaten im Welthandel den dritten Platz nach England mit 16 Prozent und Deutschland mit 12 Prozent ein.²³ Betrachtet man allein den Handel mit Industriegütern, so sieht das Bild deutlich anders aus, da die Vereinigten Staaten immer viele Agrargüter exportierten: im Jahre 1913 betrug der Anteil der Vereinigten Staaten am Welthandel mit Industriegütern nur rund 13 Prozent, während auf Deutschland 26 Prozent und auf England 30 Prozent entfielen.²⁴ Trotz der Ausweitung der Exporte war und blieb der Anteil des Exports am Bruttosozialprodukt der Vereinigten Staaten stets relativ niedrig: Zwischen 1900 und 1914 betrug die amerikanische Exportquote rund 6 Prozent; vor der Jahrhundertwende war sie minimal höher gewesen.²⁵ Demgegenüber betrug beispielsweise die Exportquote in Deutschland rund 17,5 Prozent, in England über 22 Prozent.²⁶ Die beiden großen europäischen Volkswirtschaften waren also außenwirtschaftlichen Störfaktoren sehr viel stärker ausgesetzt als die amerikanische Volkswirtschaft.

    Der Export der Vereinigten Staaten entfiel um die Jahrhundertwende zu einem relativ hohen Anteil von 65 Prozent auf Primärgüter (Rohstoffe und Agrargüter); um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte er noch 83 Prozent betragen. Bis 1913 ging dieser Anteil auf rund 50 Prozent zurück. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entfielen auf die Vereinigten Staaten rund zwei Fünftel der weltweiten Getreideexporte (hauptsächlich Weizen), England war das Haupteinfuhrland. Auch Baumwolle war gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiges Exportprodukt. Dagegen betrug der Anteil der Industriegüter am Jahrhundertbeginn rund 24 Prozent und hatte sich bis 1913 auf 32 Prozent der Exporte vergrößert.²⁷ Entwickelte Volkswirtschaften weisen in der Regel einen höheren Anteil verarbeiteter Güter am Export und einen niedrigeren Anteil von Primärgütern auf als das bei den Vereinigten Staaten der Fall war. Der relativ hohe Anteil der Nahrungsmittelexporte weist freilich auch darauf hin, daß die amerikanischen Farmer mit ihrem bereits damals teilmechanisierten agribusiness wettbewerbsfähiger waren als beispielsweise die deutschen Produzenten. Der relativ hohe Anteil von Rohstoffen und Agrargütern (Produkte einer niedrigen Verarbeitungsstufe) und der nicht allzu hohe, wenngleich wachsende Anteil von Industriegütern (Produkte einer hohen Verarbeitungsstufe) am Export der Vereinigten Staaten zeigt an, daß die internationale Wettbewerbsposition der Vereinigten Staaten insgesamt nicht besser war als die ihrer wichtigsten Konkurrenten.

    Die europäischen Länder bildeten die wichtigsten Märkte für den Export der Vereinigten Staaten; doch seit der Jahrhundertwende orientierte sich der amerikanische Export in stärkerem Maße auf die Märkte in Lateinamerika und Ostasien. Im Jahre 1913 gingen 60 Prozent der amerikanischen Exporte nach Europa; auch kamen knapp 50 Prozent der Importe aus Europa. Vor allem der deutsche und der englische Markt waren von großer Bedeutung für die amerikanische Exportwirtschaft: im Jahre 1900 gingen 38 Prozent der amerikanischen Exporte nach England und 13 Prozent nach Deutschland. Bis 1913 hatte sich der Anteil der Ausfuhren nach England auf 24 Prozent aller Exporte vermindert, während auf Deutschland weiterhin 13 Prozent entfielen.²⁸ Die drei am stärksten entwickelten Volkswirtschaften der Jahrhundertwende hatten einen relativ hohen Grad der Verflechtung im Handel, in der Kommunikation und in der Mobilität erreicht. Ein vergleichbares Niveau der internationalen wirtschaftlichen Verflechtung wurde erst wieder um die Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts erlangt.

    Jede Industrialisierung erfordert auch Innovationen in der Markterschließung sowie die dafür nötigen Investitionen, was von den Analytikern der Industriegesellschaft oftmals übersehen wird. Die amerikanische Exportwirtschaft agierte selbstbewußt und aggressiv außerhalb ihrer Grenzen. Man fürchtete keinen wirtschaftlichen Rivalen und war überzeugt, sich am Ende jeder anderen Handelsnation als überlegen zu erweisen. „Im Verlaufe unserer Entwicklung sind wir so weit fortgeschritten, bis wir im Handel weit über unseren heimischen Markt hinaus expandiert sind, und wir brechen in jeden Markt auf der Welt ein. Das ist Teil unserer wirtschaftlichen Entwicklung. Wir bewegen uns schnell auf die wirtschaftliche Vorherrschaft der Welt zu."²⁹ Das war, um die Jahrhundertwende von dem einflußreichen Senator Henry Cabot Lodge im Senat vorgetragen, angesichts der internationalen Wettbewerbsposition der Vereinigten Staaten eine eher zurückhaltende Formulierung. Seit den neunziger Jahren wurde der amerikanische Kongreß, bedingt vor allem durch die intensive Einflußnahme (lobbying) der Unternehmer, von wirtschaftspolitischen Interessen dominiert mit der Folge einer extrem protektionistischen Handelspolitik, vor allem im Bereich der Industriegüter³⁰; den europäischen Industrieprodukten wurde mittels Kampfzöllen der Zugang zum amerikanischen Markt stark erschwert. (Eine protektionistische Handelspolitik gewährt den gegen ausländische Konkurrenz geschützten heimischen Unternehmen Zusatzgewinne.) Vielfach waren die Vereinigten Staaten nicht bereit, Handelsverträge mit den darin üblichen Zollpräferenzen abzuschließen. Für diesen industriepolitischen Protektionismus mag es bis ungefähr 1890 wirtschaftliche Gründe gegeben haben, doch danach nicht mehr. In den grundlegenden Zielen der Außenwirtschaftspolitik gab es damals und auch später einen überwältigenden Konsens in der politischen Klasse der Vereinigten Staaten.

    Die deutsche Volkswirtschaft

    Die zweite dynamische und aufstrebende Volkswirtschaft um die Jahrhundertwende war Deutschland. Damals waren die Deutschen das größte Volk Europas (wenn man Rußland für einen Moment nicht berücksichtigt) und das vitalste. Erst ungefähr gegen Ende des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts erreichte die deutsche Wirtschaft abermals das Niveau, das sie bereits vor dem Dreißigjährigen Krieg erlangt hatte. Doch seit Beginn der fünfziger Jahre setzte eine beschleunigte Industrialisierung ein. So betrug bereits zur Zeit der Reichseinigung Deutschlands Anteil am Weltindustrieprodukt 13 Prozent. „Das Deutsche Reich ist eher durch Kohle und Eisen als durch Blut und Eisen errichtet worden", schrieb daher mit aller Berechtigung der Ökonom Maynard Keynes³¹ – weil nämlich die Industrialisierung bereits vorher Fahrt aufgenommen hatte. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts lag Deutschlands Anteil mit 16 Prozent der Industrieproduktion der Welt an zweiter Stelle hinter dem der Vereinigten Staaten. Während Deutschland noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Land von Bauern und Handwerkern gewesen war, hatte es bereits gegen Ende des Jahrhunderts den Übergang von einer agrarisch bestimmten Wirtschaft zur Industriewirtschaft vollzogen. Kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Deutschland zur zweiten führenden Industrienation der Welt aufgestiegen. Das Realeinkommen pro Kopf hatte sich zwischen 1850 und 1913 verdoppelt. Niemals zuvor war es den Deutschen materiell so gut gegangen. Deutlich zeigt sich der deutsche Aufstieg in der Positionsverschlechterung Englands: um 1870 erstellte das Land immerhin noch fast ein Drittel des Weltindustrieprodukts, doch bis 1913 ging dieser Anteil auf 14 Prozent zurück – nicht, weil England jetzt „im Abstieg" gewesen wäre, sondern weil andere Länder, Deutschland zuvörderst, ebenfalls in die Phase der Industrialisierung eingetreten waren und dabei höhere Wachstumsraten als diese bereits etablierte Industriewirtschaft aufwiesen.

    Indes war der Agrarsektor Deutschlands nach wie vor unterentwickelt. Die landwirtschaftliche Produktivität war relativ gering – oder anders ausgedrückt: das deutsche Agrarprodukt wurde durch einen nach wie vor relativ hohen Anteil der gesamten Beschäftigten im Agrarsektor erstellt. Im Jahre 1878 waren in Deutschland 49 Prozent aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, im Jahre 1913 immerhin noch 35 Prozent.³² Die deutsche Landwirtschaft war arbeitsintensiv und wenig mechanisiert. Der Grund dafür lag, zu einem beträchtlichen Teil, in der preußischen Sozialstruktur: der Landadel bewirtschaftete seine Güter extensiv – es handelte sich um eine Junkerklasse, der kaufmännisches Denken in der Regel fremd war und die nicht über das Kapital für eine Mechanisierung der Landwirtschaft verfügte; oftmals waren die Güter überschuldet. Als Folge davon war Deutschland ein Importeur von Nahrungsmitteln. Im Jahre 1914 war das Land der weltweit größte Importeur von Agrarprodukten, die 38 Prozent seiner Einfuhr ausmachten. Deutschland importierte ein Drittel seines Nahrungsmittelbedarfs.³³

    Eine wichtige Voraussetzung für die rapide wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands war die Abschaffung der vielfältigen, auf der politischen Fragmentierung Deutschlands beruhenden Zollgrenzen gewesen; ab 1834 bildete der von Preußen geführte Deutsche Zollverein, der alle deutschen Territorien (also ohne Österreich-Ungarn) umfaßte, den Kern einer deutschen Freihandelszone, die ein schnelles Wirtschaftswachstum ermöglichte. Die um 1850 einsetzende stürmische Industrialisierung führte dazu, daß die deutsche Wirtschaftsleistung seit den sechziger Jahren kontinuierlich zunahm, zuerst bestimmt von der Roheisengewinnung, dem Eisenbahnbau und der Textilindustrie (vor allem der Baumwollverarbeitung); später wurde der Maschinenbau zur Schlüsselindustrie. Zwischen 1895 und 1913 gab es dann ein veritables „Wirtschaftswunder" mit einer exorbitanten Zunahme des Wirtschaftswachstums um 3 Prozent jährlich.³⁴ Schrittmacher waren in dieser Zeit die chemische und die elektrotechnische Industrie sowie, zu einem etwas geringeren Teil, der Maschinenbau und die metallverarbeitende Industrie, die vor allem Investitionsgüter produzierten. Überhaupt liegt der Unterschied in der Entwicklung der amerikanischen und der deutschen Volkswirtschaft in erster Linie darin, daß die amerikanische Volkswirtschaft auf den Konsumgütermarkt orientiert war (was vor allem auf den großen Binnenmarkt zurückzuführen ist), während die deutsche Volkswirtschaft strukturell investitionsgüterorientiert war. In diesem Bereich waren die Innovationen in Deutschland vielfältiger und zahlreicher als in den Vereinigten Staaten. Ein wichtiger Grund dafür war, daß einige Großunternehmen Forschungslaboratorien einrichteten und damit eine Verbindung zwischen Forschung und technischer Anwendung – vor allem im Bereich der chemischen und der elektrischen Industrie – schufen, wo Deutschland um die Jahrhundertwende führend war. Zwischen 1890 und 1913 erreichte die Elektroindustrie jährliche Zuwachsraten von 9,75 Prozent, im Zeitraum zwischen 1900 und 1913 betrug das Wachstum sogar 15,7 Prozent jährlich. Die Chemieindustrie wuchs zwischen 1890 und 1913 mit einer Rate von 6,4 Prozent jährlich; der Maschinenbau verzeichnete in diesem Zeitraum immerhin ein Wachstum von knapp 6 Prozent.

    Ein wichtiger, vielleicht der wichtigste Bestimmungsgrund überhaupt für Deutschlands wirtschaftliche Vormachtstellung in Europa lag in seinem hochentwickelten Bildungswesen, damals aus drei Säulen bestehend: (1) allgemeine Schulpflicht ohne Schulgeld, darauf aufbauend eine gründliche Handwerksausbildung mit den Stufen Lehre/Gesellenzeit/Meister, (2) Realschulen als „mittlere" Bildung, darauf aufbauend Handels- und Ingenieurschulen, (3) Gymnasien als Vorbereitung auf die Universität. Aus der Handwerkstradition und den Ingenieurschulen bildete sich sehr schnell ein hochentwickeltes Entdecker- und Erfinderwesen heraus. In Deutschland wurde der Verbrennungsmotor erfunden (1876 von Nikolaus August Otto, 1892 von Rudolf Diesel) und ebenfalls das Automobil (1886 der Motorwagen von Carl Benz). Verbrennungsmotor und Automobil haben nahezu alle wirtschaftlichen Tätigkeiten fundamental revolutioniert; in der Rückschau symbolisieren sie die technische Modernität der deutschen Volkswirtschaft jener Zeit. Bezogen auf die Bevölkerungszahl wurden bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland deutlich mehr Naturwissenschaftler und Techniker ausgebildet als in England. Wahrscheinlich waren die deutschen Universitäten gegen Ende des 19. Jahrhunderts für ein, zwei Generationen die besten der Welt. Der Hauptgrund dafür lag in der Säkularisierung, die sich seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland vollzogen hatte. Wissenschaft und Bildung wurden in immer geringerem Maße von religiösen, politischen und gesellschaftlichen Vorgaben bestimmt, sondern entwickelten aus sich heraus Normen, die Innovation und die Unabhänghängigkeit wissenschaftlicher Forschung legitimierten und prämiierten. (Allerdings schlossen im autoritär verfaßten Preußen nach wie vor jüdische Herkunft oder sozialdemokratische Überzeugung eine Karriere im staatlichen Bildungssystem, ebenso wie in der staatlichen Verwaltung, aus.) Die Schaffung einer forschungsorientierten Universität bildete, auch in den sich um die Jahrhundertwende an den Universitäten etablierenden Sozialwissenschaften, den wichtigsten Grund für Deutschlands kulturelle und wissenschaftliche Modernität bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.

    Forschung im Labor wurde zum Ausweis wissenschaftlicher Tätigkeit überhaupt, denn im Labor wurde nach neuem Wissen gesucht. Im Jahre 1879 wurde in Berlin die Königlich Technische Hochschule (die spätere Technische Universität) gegründet. Im Jahre 1887 wurde die Physikalisch-Technische Reichsanstalt, die erste Großforschungsinstitution der Moderne, errichtet; es ging um experimentelle Physik und Präzisionstechnik. Im Jahre 1911 wurde das Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie gegründet, ein außeruniversitäres Institut der Grundlagenforschung, das schon bald eine internationale Spitzenstellung in der Wissenschaft erlangte; später ging aus ihm die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute Max-Planck-Gesellschaft) hervor. Zwischen 1890 und 1933 hatte Berlin den Ruf des „Mekkas der Wissenschaft". Die Verwissenschaftlichung der Industrie ging Hand in Hand mit der Industrialisierung der Wissenschaft. Wissenschaftlich und technisch war das Deutsche Reich führend in der Welt; die in Deutschland praktizierte Forschungsorientierung fand beinahe weltweit Nachahmung. Die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin entwickelt sich zur Hochschule mit der größten Reputation; sie diente als Vorbild und Modell in Deutschland, an dem andere Universitäten sich orientierten, und sie erlangte weltweite Ausstrahlung. Um die Jahrhundertwende waren auch die deutschen wissenschaftlichen und technischen Zeitschriften, die über die Fortschritte in ihren Fachgebieten berichteten, weltweit führend. In vielen wissenschaftlichen Disziplinen war es für ausländische Forscher und Gelehrte unerläßlich, deutsche Fachzeitschriften zu lesen. Deutsch war die lingua franca vieler Wissenschaftler.

    Für die führende Stellung Deutschlands in den Naturwissenschaften und ihren technischen Anwendungen stehen Namen wie Albert Einstein, Max Planck, Otto Hahn, Max von Laue, Lise Meitner, Werner Heisenberg, Robert Bosch, Walther Rathenau und Werner Siemens. Seit der erstmaligen Vergabe des Nobelpreises im Jahre 1901 bis zum Jahre 1933 vereinigten die Deutschen einen größeren Anteil der wissenschaftlichen Preise (Physik, Chemie, Medizin) auf sich als jedes andere Land: 33 von 100 Nobelpreisen gingen nach Deutschland. Auf England entfielen im gleichen Zeitraum 18 und auf die Vereinigten Staaten lediglich sechs Nobelpreise.³⁵ Auf literarischem und kulturellem Gebiet stehen für Deutschlands führende Stellung Namen wie Sigmund Freud, Thomas Mann, Wassily Kandinsky, Franz Marc, Arnold Schönberg und Bewegungen wie Naturalismus und Expressionismus, die Neue Sachlichkeit und der Konstruktivismus. Mit Fug und Recht läßt sich sagen, daß Deutschland zu jener Zeit das Land der kulturellen Avantgarde war, während die Kultur in England und den Vereinigten Staaten sehr viel weniger „modern war. Deutschland war – wie bereits um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, als Deutschland mit der Fülle seiner intellektuellen Kreativität allen anderen Ländern überlegen war – in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende ein Land immensen Reichtums geistiger Kreativität, von dem eine Vielzahl intellektueller Impulse ausging. Es war das goldene Zeitalter des deutschen Geists. Auf beinahe allen Gebieten war Deutschland damals ein Land der intellektuellen Spitzenleistungen. Der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern sprach von einer „zweiten Geniezeit³⁶. Das deutsche Denken befand sich auf dem Höhepunkt internationaler Wertschätzung.

    Dagegen lebten die Vereinigten Staaten damals von „Kulturimporten" – in erster Linie aus England, in zweiter Linie aus Deutschland. Oder anders formuliert: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten die größte Kolonie deutschen Denkens. Eine nicht unbedeutende Anzahl amerikanischer Forscher und Gelehrter kam im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus Orten wie Heidelberg, Tübingen und Berlin zurück mit dem Ziel, in den Vereinigten Staaten Universitäten nach Art derjenigen zu gründen, die sie in Deutschland erlebt und erfahren hatten. In der Folge wurden die bis dahin religiös orientierten Colleges von Harvard, Yale und Princeton zu Forschungsuniversitäten umgebaut. Die Gründung des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge bei Boston im Jahre 1865 ging auf Eindrücke zurück, die dessen Begründer William Rogers auf einer Europa-Reise zum Studium der führenden technischen Einrichtungen des Kontinents gesammelt hatte; er entschied sich für die seit 1824 bestehende Großherzoglich Badische Polytechnische Schule in Karlsruhe (aus der später die Technische Universität hervorging) als Vorbild. Auch gab es Gründungen neuer Universitäten nach deutschem Vorbild: beispielsweise wurden im Jahre 1876 die Johns Hopkins University in Baltimore (Maryland) und im Jahre 1891 die University of Chicago unter deutschen intellektuellen Einflüssen gegründet. Diese Forschungsorientierung wurde später von den großen staatlichen Universitäten wie beispielsweise in Michigan, Kalifornien und Wisconsin übernommen. Bis in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein stand das amerikanische Universitätssystem unter dem Einfluß des deutschen Bildungs- und Wissenschaftssystems. Aber bereits am Vorabend des Ersten Weltkriegs war die Anziehungskraft Deutschlands verblaßt: Die Zahl der an deutschen Universitäten eingeschriebenen amerikanischen Studenten war stark zurückgegangen, während die Zahl der Studenten, die nach England und Frankreich gingen, zugenommen hatte. Der Grund dafür lag weniger in einer geringeren Reputation der deutschen Wissenschaft als in politischen und gesellschaftlichen Ursachen.

    In ihrer Struktur war die deutsche Volkswirtschaft, mit Ausnahme des Agrarsektors, damals weiter entwickelt als die der Vereinigten Staaten (und erst recht weiter entwickelt als die Englands), da die deutsche Industrie konsequent den technischen Fortschritt vorantrieb. Innerhalb weniger Jahrzehnte hatte Deutschland einen wirtschaftlichen Aufstieg erlebt, der es an die Schwelle zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geführt hatte, denn England hatte es im Hinblick auf die industrielle Dynamik und vor allem in den damals neuen Industrien am Vorabend des Weltkriegs ja bereits hinter sich gelassen. Die damals neuen Industrien waren die chemische Industrie (künstlicher Dünger, Anilinfarben aus Steinkohlenteer, Dynamit, erste Medikamente, Pharmazeutika, Photoplatten) und Elektrotechnik (Telegraphie, Telephon, Glühbirne, Elektromotor). Die herausragende wirtschaftliche Rolle Deutschlands im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts beschrieb später der Wirtschaftswissenschaftler Maynard Keynes: „Um Deutschland als zentrale Stütze herum gruppierte sich der Rest des europäischen Wirtschaftssystems, und das wirtschaftliche Wohlergehen des restlichen Kontinents hing hauptsächlich vom wirtschaftlichen Wohlergehen und vom Unternehmungsgeist Deutschlands ab."³⁷ Deutschland bildete das wirtschaftliche Zentrum des Kontinents.

    Auch die Struktur des deutschen Außenhandels reflektiert das in Deutschland erreichte Niveau der industriellen und technischen Entwicklung. Im Jahrzehnt vor 1913 entfiel mehr als die Hälfte (53 Prozent) des deutschen Exports auf industrielle Fertigwaren, weitere 21 Prozent entfielen auf Halbprodukte, während Rohstoffe nur 15 Prozent und Nahrungsmittel gerade 10 Prozent der Ausfuhren ausmachten.³⁸ Im Jahre 1913 entfielen 28 Prozent des Weltchemieexports auf Deutschland, während auf England, an zweiter Stelle liegend, nur 16 Prozent entfielen. Die deutsche elektrotechnische Industrie besaß im Jahre 1913 einen uneinholbar wirkenden Vorsprung. Der deutsche Export elektrotechnischer Güter übertraf in jener Zeit die elektrotechnische Ausfuhr der Vereinigten Staaten um mehr als das Dreifache. In der Schlüsselbranche des Maschinenbaus entfielen im Jahre 1913 rund dreißig Prozent des Weltexports auf deutsche Unternehmen; damit lag der deutsche Maschinenbau vor dem englischen und selbst vor dem amerikanischen. Im Bereich des Kapitalexports stieg Deutschland mit Auslandsanlagen in Höhe von rund 30 Milliarden Mark bis 1914 zwar zum drittgrößten Gläubigerland auf, blieb jedoch damit gleichwohl weit hinter England zurück. Zu einer internationalen Währung wie das Pfund Sterling wurde die Mark nicht.

    Wahrscheinlich trug gerade die Tatsache, daß Deutschland ein Land ohne nennenswerte Kolonien, ohne ins Gewicht fallendes Imperium war, zur seiner schnellen wirtschaftlichen Entwicklung bei, denn während Frankreich und England Ressourcen aller Art in ihre Kolonien transferierten, konnte Deutschland seine Ressourcen in die Entwicklung seines Industriepotentials leiten. Kolonialimperialismus führt seit der Industriellen Revolution, zumindest jedoch seit der mittleren Phase der Industrialisierung, statt zu einer Vergrößerung der Macht eines Staats eher zu deren Verminderung.

    Modernität Deutschlands und der Vereinigten Staaten im Vergleich

    Es gibt eine umfangreiche Diskussion zu der Frage, wie modern das Deutsche Reich war. Herkömmlicherweise wurde in der Soziologie – „Moderne bzw. „Modernisierung sind in erster Linie soziologische Begriffe – diese Problematik am dichotomischen Begriffspaar von Tradition und Moderne abgehandelt. Dem lag die Vorstellung zugrunde, es gebe so etwas wie eine einheitliche Moderne. Diese Auffassung ist heute kaum noch aufrechtzuerhalten. Seit einiger Zeit hat sich in der Soziologie die Vorstellung durchgesetzt, daß es eine Pluralität unterschiedlicher Modernen gibt (Europa, Vereinigte Staaten, Japan, China) mit jeweils unterschiedlichen Entwicklungspfaden; es gibt eine Vielfalt der Moderne. Die Entwicklung moderner Gesellschaften konvergiert nur teilweise, auch moderne Gesellschaften bleiben durch ihre jeweils eigenen Traditionen geprägt. Deshalb ist auch „der Westen" als Einheit ein Konstrukt, dessen intensivste Existenzphase in die Zeit des Kalten Kriegs fiel. Definiert man Modernisierung als eine strukturelle Transformation der Gesellschaft, hin zu einer Ausdifferenzierung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Strukturen und Prozesse, läßt sich die Frage stellen, wie modern Deutschland und, im Vergleich, die Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhundert waren. Dazu ist es sinnvoll, den Globalbegriff der Modernisierung in drei Dimensionen aufzuspalten: Industrialisierung, Demokratisierung und Bürokratisierung.³⁹

    Bei der Bürokratisierung war Deutschland führend, im Hinblick auf die Industrialisierung hatte Deutschland innerhalb eines dreiviertel Jahrhunderts einen spektakulären Prozeß vom Entwicklungsland zu einem der beiden führenden Industrieländer der Welt durchgemacht. Selbst bei der Demokratisierung waren die Unterschiede zwischen Deutschland und den anderen Großmächten längst nicht so gravierend, wie es die angelsächsisch (das heißt hier vor allem amerikanisch) inspirierten herkömmlichen Modernisierungstheorien bislang darstellten. Kennzeichnend für das Deutsche Reich war der Konflikt zwischen einer bereits früh einsetzenden Demokratisierung des Wahlrechts (1871) und einem weithin machtlosen Parlament. (Jedes Gesetz und erst recht jedes Budgetgesetz bedurfte der Zustimmung des Reichstags, doch konnte der den Kanzler nicht bestimmen und nicht stürzen.) Dieser Scheinparlamentarismus mit einem weithin machtlosen Parlament, ebenso wie das auf Besitz und Einkommen fußende Dreiklassenwahlrecht zu den Landtagen, vor allem in Preußen, war ein Ausdruck der Tatsache, daß das Bürgertum in Deutschland es nicht vermochte, die Kräfte des ancien régime zurückzudrängen. Diese Kräfte bestanden primär in einer agrarisch-vorindustriellen Klasse, deren wirtschaftliche Grundlagen längst erodiert waren, die aber, gegründet auf ihre Staatsnähe, weiterhin ihre politische Rolle einer Herrenschicht zu konservieren suchte und immer noch den Anspruch auf eine gesellschaftliche Vorrangstellung erhob. Das Bürgertum – nicht nur das staatsnahe Bildungsbürgertum, sondern ebenso das Wirtschaftsbürgertum – war nicht imstande, seinen sozio-ökonomischen Interessen gegen die feudal-junkerliche Klasse nachhaltig Geltung zu verschaffen und paßte sich den politisch und gesellschaftlich vorherrschenden Orientierungen weitgehend an. „Auch die Industrialisierung hat in Deutschland nicht dazu geführt, das Eigengewicht der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Staat durchzusetzen; als Motiv für alle gesellschaftlichen Wandlungen blieb die mächtige Nation in den Köpfen der Politiker, ihrer Ideologen und ihres Publikums lebendig"⁴⁰, urteilte der Soziologe Ralf Dahrendorf.

    Im Vergleich zu Deutschland wiesen die Vereinigten Staaten Defizite in der Bürokratisierung auf. Ein fachlich geschultes Beamtentum wie in Deutschland gab es nahezu überhaupt nicht; vielmehr wurden viele Posten in der öffentlichen Verwaltung nach Wahlen immer wieder neu mit Anhängern der jeweils siegreichen Partei besetzt. Die öffentliche Verwaltung war die Beute der Parteien, die Politik war – jedenfalls in den großen Städten – weithin korrupt. Im Bereich der Demokratisierung waren die Vereinigten Staaten, nimmt man das Wahlrecht als Maßstab, nicht weiter als Deutschland. Die Politik in Großstädten wie beispielsweise New York und Chicago und auch auf der Ebene der Bundesstaaten war in weitreichendem Maße von Korruption durchsetzt (die lokalen Parteiorganisationen, sogenannte politische Maschinen, wurden beherrscht von einflußreichen, korrupten Bossen); Wahlbetrug und Stimmenkauf in unterschiedlichen Formen waren verbreitet, Senatoren und Richter wurden von einflußreichen Wirtschaftsinteressen gekauft. Bei der Industrialisierung befanden sich die Vereinigten Staaten mehr oder weniger gleichauf mit Deutschland. Insgesamt war also Deutschland im internationalen Vergleich etwas moderner als die Vereinigten Staaten und weit moderner als das traditionellere England. Während man in England im Jahre 1897, als Queen Victoria ihr diamantenes Amtsjubiläum feierte, sich auf dem Höhepunkt imperialer Blüte und Machtentfaltung wähnte, handelte es sich tatsächlich nur um deren Schein, denn längst hatten die Vereinigten Staaten und Deutschland England in seiner Wirtschaftskraft und, wichtiger noch, im Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung überflügelt.

    Es bedarf allerdings stets einiger Zeit, ehe eine dynamische Wirtschaftsentwicklung in eine entsprechende politische Position dieses Lands transformiert wird; oftmals wird dieser Transformationsprozeß durch Kriege beschleunigt oder jedenfalls sichtbar gemacht. Das Deutsche Reich hätte seinen dynamischen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Aufstieg fortsetzen können und wäre bald ganz von selbst zur gleichsam „natürlichen" Vormacht Europas herangewachsen – die es latent bereits war. Die politischen Klassen in England und Rußland waren allerdings nicht bereit, die eingetretenen wirtschaftlichen Veränderungen, die Deutschland binnen weniger Jahrzehnte zur Großmacht gemacht hatten, anzuerkennen.

    Politische Grundlagen

    England als Weltvormacht und die Außenpolitik Englands

    England war nicht nur eine unter den Großmächten. Das victorianische England war die erste und einzige Weltmacht. Bereits vorher hatte England eine Vorherrschaft zur See erreicht. Während gegen Ende des 17. Jahrhunderts ein ungefähres Gleichgewicht der Kriegsflotten der drei nordwesteuropäischen Länder England, Frankreich und Holland bestand, verfügte England am Ende des 18. Jahrhunderts über die größte europäische Kriegsflotte, nämlich fast ein Drittel (135) aller Großkampfschiffe, allesamt ausgerüstet mit industriell gefertigten Kanonen aus Stahl – die Industrielle Revolution wurde sofort militärischen Zwecken dienstbar gemacht. Im Jahre 1810, nach beinahe zwanzigjährigem beständigem Kampf auf den Meeren, umfaßte die Royal Navy über 1000 Kriegsschiffe mit insgesamt 142 000 Seeleuten.⁴¹ Zudem verfügte England, gestützt auf die Stärke seiner Flotte, über strategische Stützpunkte in der Nähe aller Ein- und Ausgänge zu den Weltmeeren und an den strategisch wichtigen Meerengen. Diese Stützpunkte waren – sofern sie nicht ohnehin zum englischen Territorium gehörten wie Dover und die Orkney- und Shetlandinseln – entweder auf einer Insel oder einer Halbinsel oder am Fuße eines Vorgebirges gelegen oder an einer isolierten Küste, hinter der sich Wüste, Dschungel oder Berge befanden: Gibraltar, Malta, Akrotiri und Dhekalia (Zypern), Alexandria und Port Said, der Suezkanal und Suez, Aden, Muskat, die Insel von Hormus, Colombo, Singapore, Hongkong, Vancouverinsel, Halifax (Nova Scotia), Kingston (Jamaica), Port of Spain (Trinidad), Bridgetown (Barbados), Georgetown (British Guyana), Falklandinseln, Kapstadt.⁴² Zwischen diesen Schlüssel-Stützpunkten lagen jeweils weitere strategisch plazierte Marinestützpunkte, zumeist auf Inseln. Nach der Eröffnung des Suezkanals im Jahre 1869 war der Seeweg nach Indien und in den Fernen Osten über Gibraltar, Malta, Suez völkerrechtlich eine internationale Wasserstraße, in militärischer Hinsicht jedoch war er faktisch eine englische Domäne. Englands Außen- und Kolonialpolitik wurde im 19. Jahrhundert nahezu ausschließlich vom Grundsatz der Beherrschung der weltweiten maritimen Verkehrswege bestimmt. Wer die Weltmeere dominierte, beherrschte den Weltmarkt. Die Herrschaft über die maritimen Verkehrswege räumte England eine überragende Vormachtstellung in der außereuropäischen Welt ein. Diese Position überwältigender Stärke zur See, in Verbindung mit der Existenz einer Mehrzahl von Großmächten in Europa und dem Fehlen längerwährender Großkriege auf dem Kontinent, ermöglichte es England, für den Zeitraum eines Jahrhunderts die Weltmeere und beträchtliche Teile des internationalen Handels zu kontrollieren - rund ein Viertel des Welthandels entfiel auf England. Das 19. Jahrhundert war das goldene Zeitalter englischer Vorherrschaft auf den Weltmeeren und in der Weltwirtschaft. Die englische Vorherrschaft auf den Weltmeeren („Britannia rules the waves") garantierte deren Freiheit für alle handeltreibenden Nationen – sofern sie sich nicht gegen England wandten. Der internationale Handel über See war abhängig vom Wohlwollen Englands. Im letzten Viertel oder Drittel des 19. Jahrhunderts herrschte England direkt über ein Viertel oder ein Fünftel der Landmasse der Welt, indirekt, wirtschaftlich, über weit mehr. Gestützt auf seine Flotte, sein Kolonialreich, seine Vorreiterrolle in der industriellen Entwicklung sowie auf seine Position im internationalen Handel und in den internationalen Finanzbeziehungen, nahm England ab 1815 eine Weltvormachtstellung ein.

    Es ist eine Illusion anzunehmen, das englische Kolonial-Empire habe seit der Mitte des 19. Jahrhunderts generell zu einer Vergrößerung der Macht Englands beigetragen. Seit dem 19. Jahrhundert bildet das industrielle Potential den ausschlaggebenden Faktor für die Macht eines Lands – auch für dessen militärische Macht. Die englischen Kolonien trugen beinahe nichts zum industriellen Potential Englands bei, kosteten aber immense industrielle Ressourcen. Auch Rohstoff- und Absatzmärkte allein konnten den Kolonialimperialismus nicht rechtfertigen, denn diese Märkte hätte man ebensogut friedlich erschließen und durchdringen können mitsamt den Erträgen aus Kapitalanlagen im Ausland, wie die Wirtschaftsbeziehungen zwischen England und den südamerikanischen Ländern nach 1850 zeigen.⁴³ So urteilt der englische Militärhistoriker Corelli Barnett bereits für die Zeit vor 1914: „Die ganze englische Stellung im Mittleren Osten und in Südasien war tatsächlich ein klassisches, ein gigantisches Beispiel strategischer Überdehnung. Weit davon entfernt, für England eine Quelle der Stärke zu sein, diente Indien nur dazu, unser Land in ungeheurem Maße zu schwächen und abzulenken."⁴⁴ Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lebten die englischen Imperialisten weithin in einer Traumwelt. Freilich: Nicht nur in England, sondern überall lebten die traditionellen Vorstellungen über den Nutzen von Kolonien fort.

    Die

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