Psychologie der Schwangerschaft: Veränderungen bewusst erleben und sich selbst verstehen
Von Luis Alvarez und Véronique Cayol
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Buchvorschau
Psychologie der Schwangerschaft - Luis Alvarez
Luis Alvarez | Véronique Cayol
Psychologie der Schwangerschaft
Veränderungen bewusst erleben und sich selbst verstehen
Aus dem Französischen von Antje Peter
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, München
ISBN (E-Book) 978-3-451-80994-1
ISBN (Buch) 978-3-451-61387-6
Inhalt
Impressum
Vorbemerkung
Einführung
Erster Teil: Eltern werden
Kapitel 1: Weshalb wünschen wir uns Kinder?
Kapitel 2: Das Baby von gestern in den Eltern von heute
Die elterliche Funktion
Die mütterliche Funktion
Die väterliche Funktion
Bindungstheorie, Differenzierung und Ablösung
Kapitel 3: Der Kinderwunsch – ein Ausweg aus dem Konflikt mit den Eltern
Warum spielen kleine Kinder Eltern?
Kapitel 4: Der Kinderwunsch macht es möglich, Geschlechterdifferenz und Generationenunterschied zu überwinden
Die Geschlechterdifferenz
Der Generationenunterschied
Die Theorien zur infantilen Sexualität
Kapitel 5: Der Kinderwunsch und das Kind der Träume – von der Kindheit zur Elternschaft
Trauma und traumatische Erkrankungen
Das Schocktrauma
Das sekundäre Trauma
Die Anhäufung von Mikrotraumata
Die Latenzperiode
Trauer
Trennungen, Brüche und Bindungsdiskontinuitäten
Inzestuöses familiäres Klima, Inzest und sexueller Missbrauch
Inzestuöses familiäres Klima
Inzest und sexueller Missbrauch
Die Entdeckung von Liebe und Sexualität im Jugendalter
Die Entdeckung von Liebe und Sexualität
Inzestuöses familiäres Klima in der Jugendzeit
Sexuelle Übergriffe
Schlussbemerkung zum ersten Teil
Zweiter Teil: Das Seelenleben in der Schwangerschaft
Kapitel 6: Warum ist die Schwangerschaft eine Krise?
Große körperliche Veränderungen in einer kurzen Zeitspanne
Der Generationswechsel
Ein Wandel der Identität
Die Suche nach einer Bezugsperson
Kapitel 7:»Hilfe, ich werde nicht schwanger!« – das Warten auf die Schwangerschaft
Das Warten auf die Schwangerschaft
Die psychologischen Faktoren der Unfruchtbarkeit
Psychologische Aspekte der verschiedenen Formen von Unfruchtbarkeit
Primäre Unfruchtbarkeit
Sekundäre Unfruchtbarkeit
Die Feststellung einer organischen Anomalie
Der Weg der künstlichen Befruchtung
Kapitel 8:»Hilfe, ich bin schwanger!« – Wie es sich anfühlt, wenn man eine Schwangerschaft feststellt
Der Wunsch, schwanger zu werden
Was geschieht im Moment der Befruchtung?
Die Ambivalenz: »Bin ich sicher, dass ich ein Kind will?«
Die Angst: »Wird mein Körper die Schwangerschaft bewältigen?«
Die Unsicherheit: »Werde ich eine gute Mutter sein? Wird unsere Beziehung das aushalten?«
Kapitel 9:Wie das erste Schwangerschaftsdrittel erlebt wird – »Ich fühle mich nicht schwanger!«
Was passiert beim Test auf Trisomie 21?
Müdigkeit, Schläfrigkeit und Übelkeit
Kapitel 10:Die psychologischen Herausforderungen des Ultraschalls
Die Begegnung mit dem Baby von drinnen
Das grundlegende Missverständnis
Der Ultraschallarzt aus Sicht der schwangeren Frau
Vorstellung und Anamnese
Die Untersuchung
Was die schwangere Frau sieht
Die mütterlichen Träume
Fötus, Kind der Träume, Baby?
Schlussbemerkung zu Kapitel 10
Kapitel 11:Wie das zweite Schwangerschaftsdrittel erlebt wird – »Endlich sieht man, dass ich schwanger bin, auch wenn es nicht so ist, wie ich dachte«
Die psychische Durchlässigkeit der schwangeren Frau
Die Hinterfragung des körperlichen Ich-Bewusstseins der schwangeren Frau
Die Besetzung des Kindes: zwischen Wirklichkeit und Imagination
Die Neuordnung der Identität der schwangeren Frau
Die psychische Undurchlässigkeit
Die zweite Härteprüfung: Der Ultraschall im zweiten Trimester – Mädchen oder Junge?
Stress, Arbeit und Schwangerschaft
Kapitel 12:Wie das dritte Schwangerschaftsdrittel erlebt wird – »Ich kann nicht mehr! Was erwartet mich?«
Die körperliche Erfahrung des Schwangerschaftsendes
Primäre Mütterlichkeit (PMP)
Die Antizipation der Geburt
Der Weg des Babys von drinnen zum Baby von draußen
Kapitel 13:Sind die Männer »schwanger«?
Rund um die Zeugung
Während der Schwangerschaft
Das Couvade-Syndrom
Das Ende der Schwangerschaft, die Geburt und die Begegnung mit dem Kind
Schlussbemerkung zu Kapitel 13
Kapitel 14:Unsere Familie verändert sich
Die elterliche Funktion: Was heißt eigentlich Elternsein?
Die Lage der Geschwister: Was wird aus den älteren Kindern?
Die Erwartung eines Geschwisterkindes im zweiten Lebensjahr
Die Erwartung eines Geschwisterkindes zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr
Die Erwartung eines Geschwisterkindes zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr
Die Erwartung eines Geschwisterkindes im Jugendalter
Kapitel 15:Ich erwarte Zwillinge
Der Zweifel
Zwillinge! Wie kann das sein?
Der Schock der Erkenntnis
Die Entwicklungskrise der Schwangerschaft wird intensiver
Das Ende der Schwangerschaft und die Begegnung mit den Kindern
Kapitel 16:Eine unglückliche Schwangerschaft
Fetalpathologie
Der Moment der Mitteilung
Die Anomalie verstärkt die für jede Schwangerschaft typische Angst, Ambivalenz und Unsicherheit
Die Anomalie verknüpft sich mit Ereignissen aus der Vergangenheit
Die Anomalie lässt die Kluft zwischen Fötus und Baby größer werden
Die Anomalie ist ein Angriff auf die psychische Integrität der Eltern
Die Anomalie stellt die Weitergabe des Lebens infrage
Die Zeit für die Fortschritte in der Fetalmedizin
Die Zeit der Entscheidung und der Erstellung eines Geburtsplans
Das Geburtsprojekt
Der Schwangerschaftsabbruch nach medizinischer Indikation
Frühgeburten
Die Situation des frühgeborenen Kindes
Die Begegnung zwischen dem Frühgeborenen und seinen Eltern
Der pränatale Verlust
Die undenkbare pränatale Trauer
Dritter Teil: Die Psyche rund um die Geburt und die Begegnung mit dem Kind
Kapitel 17:Die Geburt steht bevor – »Los, lass uns gehen!«
Die Geburtserfahrung
Kapitel 18:Die erste Begegnung mit dem Kind
Die Zeit unmittelbar nach der Geburt
Die Situation der Mutter
Die Situation des Vaters
Die Situation des Babys
Kapitel 19:Die Rückkehr nach Hause
Die Entdeckung des Babys
Kapitel 20:Stillen und orale Phase
Der Milcheinschuss
Die Illusion, die Schwangerschaft durch das Stillen fortsetzen zu können
Das Thema Unabhängigkeit
Die orale Phase
Das Stillen als unzulässige sexuelle Handlung
Kapitel 21:Der Babyblues
Kapitel 22:Der Verlauf der Mutterschaft oder: Wie vermeidet man die Einsamkeit der Mütter?
Vierter Teil: Psychiatrische Aspekte der Schwangerschaft und der ersten Zeit nach der Geburt
Kapitel 23:Risikofaktoren – Wann sind Frauen gefährdet?
Die Krankengeschichte und die Schwangerschaft
Körperliche Krankheiten bei den Eltern
Psychosoziale Faktoren
Kapitel 24:Grundsätzliches zur Psychopathologie der Schwangerschaft
Kapitel 25:Die Psychopathologie der Schwangerschaft
Vorgeburtliche psychosomatische Krankheiten
Hyperemesis gravidarum – schwere Schwangerschaftsübelkeit
Die drohende Frühgeburt
Anpassungsstörungen an die Situation der Schwangerschaft
Depressionen in der Schwangerschaft
Der wehmütige Blick zurück, die Ambivalenz und die normalen Ängste jeder Schwangerschaft
Das Eintreten einer ersten depressiven Episode
Die Verleugnung der Schwangerschaft
Kapitel 26:Die Psychopathologie in der ersten Zeit nach der Geburt
Das posttraumatische Belastungssyndrom (PTBS) nach der Geburt
Die postnatale Psychose
Die postnatale Depression (PND)
Schlussbemerkung
Literatur
Informationen zu den Autoren
Vorbemerkung
Dieses Buch handelt von den psychischen Veränderungen, die mit der Weitergabe des Lebens verbunden sind. Es geht also um die Situation von Frauen und Männern während der Schwangerschaft, während der Geburt und bei der ersten Begegnung mit dem Kind. Dabei bestand unsere Aufgabe darin, die äußerst komplexe Funktionsweise der menschlichen Psyche während dieser Lebensphase für jedermann verständlich darzustellen, ohne die Zusammenhänge allzu sehr zu vereinfachen und auf unsere klinischen Erfahrungen zu verzichten. Dazu ein paar Worte vorab.
Es erschien uns notwendig, zuerst die wichtigsten Etappen zu erläutern, die zur Konstituierung der erwachsenen Persönlichkeit führen. Und zwar aus zwei Gründen: zunächst, um den für jeden Menschen einzigartigen Weg zu beschreiben, der von der Kindheit zur Elternschaft führt; und dann, um deutlich zu machen, inwiefern er während einer Schwangerschaft erneut an Aktualität gewinnt. In diesem Sinne bilden die hier vorgestellten theoretischen Konzepte gewissermaßen die Grundlage dafür, die vielfältigen Erfahrungen besser zu verstehen, die Körper und Seele durchleben, dann gedanklich strukturiert werden und die Menschen schließlich auf unterschiedliche und einzigartige Weise zu Eltern machen. Es geht hier also bewusst nicht um einen modellhaften, normativen Weg zur Elternschaft.
Die Einsicht, wie komplex die Zusammenhänge tatsächlich sind, soll uns auch davor bewahren, allzu simplifizierende und beschränkte Schlüsse zu ziehen und eine unmittelbare, eindeutige Beziehung zwischen einem Ereignis aus der Vergangenheit und den Erfahrungen der Gegenwart abzuleiten. Eine solche Sichtweise würde uns an die guten oder schlechten Aspekte der Vergangenheit ketten und uns zugleich – durch die Konstruktion eines alles begründenden Determinismus – jeder Freiheit berauben. Unser Ziel ist vielmehr, den Leserinnen und Lesern dieses Buchs Einblick in die komplexen Zusammenhänge der menschlichen Seele zu gewähren, die aus einem fortwährenden Ineinandergreifen der Erlebnisse der Gegenwart und der Ereignisse in unserer Vergangenheit hervorgeht – dergestalt, dass die Gegenwart Einfluss darauf nimmt, wie wir die Vergangenheit interpretieren und wie unsere Vergangenheit wiederum unsere Vorstellung von der Gegenwart bestimmt. Dieses Ineinandergreifen hat einerseits zur Folge, dass unsere Erinnerungen die Gegenwart bereichern; andererseits schützt uns der sich verändernde Blick auf die Vergangenheit davor, zu Gefangenen unserer eigenen Geschichte zu werden.
Wir hoffen, dass wir den werdenden Eltern mit diesem Buch eine Art Reiseführer zum eigenen Kind mit auf ihren Weg geben können, auf dem sie die Hauptfiguren sind. Durch die persönlichen Erfahrungsberichte wird sich die schwangere Frau ebenso wie der künftige Vater angesprochen fühlen, und beide können sich über ihre eigene Situation klar werden. Auch wenn dieses Buch keine Konsultation eines Fachmanns für pränatale Psychopathologie ersetzen kann, so darf es doch als Hilfestellung für all jene gelten, die in einem entscheidenden Moment ihres Lebens zu Recht nach Hilfe suchen: dem Moment, in dem sie zu Eltern werden.
Dieses Buch ist die Frucht einer langjährigen Zusammenarbeit zwischen einer Geburtshelferin und einem auf das ungeborene Kind spezialisierten Psychiater – eine Zusammenarbeit, bei der es gleichermaßen um das Wohl der schwangeren Frau, das Wohl des Paares und des Babys geht. Bei der Arbeit an diesem Buch haben wir daher versucht, die Verschränkungen zwischen Körper und Seele sowie die ungemein intensiven Bindungen, die zwischen dem Baby und seinen Eltern auf dem Weg ins Leben entstehen, zu berücksichtigen. Indem wir Körper und Psyche als Einheit verstehen und achtsam mit den sich frühzeitig entwickelnden Beziehungen umgehen, eröffnet sich uns ein ebenso umfassender wie respektvoller Blick auf das überwältigende Ereignis der Geburt eines Kindes.
Einführung
Die Möglichkeit, schwanger zu werden, ein Kind auszutragen und auf die Welt zu bringen, es anschließend zu ernähren und großzuziehen, ist nicht nur eine der größten Herausforderungen für jede Frau, sondern auch für das Paar und nicht zuletzt für den Erhalt unserer Art insgesamt. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Licht- und Schattenseiten weiblicher Fruchtbarkeit, die die Geschichte der Menschheit begleiten, schon immer zugleich Gegenstand von Faszination und Schrecken gewesen sind. Wie sehr man vom Geheimnis der Weitergabe des Lebens, von Mütterlichkeit, Abstammung, Vererbung und der Ausbildung eines Gedächtnisses fasziniert war, so sehr war man auch erschreckt vom Schatten der Unfruchtbarkeit, einer unglücklichen Schwangerschaft und dem Leiden und Tod während der Geburt. In der Kunst findet man einen Widerhall jener Faszination für die Fruchtbarkeit, wie dies etwa die sinnlichen Venusstatuen aus Elfenbein bezeugen, die unsere Vorfahren geschaffen haben, ebenso wie die unzähligen Gemälde, deren Gegenstand Mariä Verkündigung oder Mariä Heimsuchung sind. Auch in vielen mythologischen und religiösen Erzählungen besitzt die Geburt einen zentralen Stellenwert.
Unsere moderne Gesellschaft ist nicht mehr ganz so tolerant. Sie basiert auf Eile und Unmittelbarkeit, verherrlicht den Individualismus und nährt so die Illusion, man habe das Leben unter Kontrolle. In diesem Zusammenhang hat sich der Platz, den die Frau, der Mann und das Kind jeweils einnehmen, grundlegend verändert. Die Frau muss einen Kompromiss finden zwischen ihren beruflichen Zielen, ihrer Weiblichkeit, dem Paar- und Beziehungsleben – ein Umstand, der häufig dazu führt, dass sie die Entscheidung für ein erstes Kind immer weiter hinauszögert. Männlichkeit wiederum ist heutzutage nicht mehr so sehr an Attribute wie Kraft und Virilität gebunden. Männer erlauben sich viel eher, ihre Neugier, das heißt ihre Lust auf feminine Verhaltensmuster auszuleben, was dazu führt, dass einige von ihnen mit ihrer Partnerin förmlich um die Mutterstellung rivalisieren. Nicht zuletzt haben auch die Fortschritte in der Medizin, die zu deutlich mehr Sicherheit bei Geburt und ärztlicher Versorgung geführt haben, der verbreitete Gebrauch von Verhütungsmitteln und die erst später vorhandene Bereitschaft, Eltern zu werden, dazu beigetragen, dass sich unter den Paaren die Illusion verbreiten konnte, die Weitergabe des Lebens liege ganz in ihrer Hand. Aus diesem Grund und im Gegensatz zu vorangegangenen Generationen fühlen sich heute viele Eltern nicht mehr so verantwortlich für die Erziehung ihrer Kinder. Im Übrigen scheinen sie auch weniger bereit, eigene Bedürfnisse mit denen der Kinder abzustimmen. Mehr noch: Einige Kinder werden nur deshalb in die Welt gesetzt, um die Bedürfnisse der Erwachsenen zu befriedigen – eine heikle Konstellation, da die Verletzlichkeit dieser Kinder, ihre Schwäche und Abhängigkeit von der Erwachsenenwelt, leicht missverstanden werden können. Die sich verändernden Beweggründe, einen Kinderpsychiater zu Rate zu ziehen, spiegeln diesen Wandel in den familiären Strukturen. Sie reichen von: »Herr Doktor, unser Kind hat Probleme in der Schule« über »Was haben wir als Eltern falsch gemacht?« bis hin zu: »Mathieu kann nachts nicht schlafen … Ich bin auf der Arbeit müde und ich kann nicht mehr … In der Kindertagesstätte hat man uns geraten, Sie zu konsultieren. Mein Mann hatte übrigens keine Zeit mitzukommen … Ich schicke ihn her, damit er besser schlafen kann.«
Dieser Einblick in den Kontext, in den ein Kind heute hineingeboren wird, ist weniger ein nostalgischer Blick in eine vermeintlich bessere Vergangenheit als ein Hinweis auf die Veränderungen, denen sich Eltern gegenübersehen. Indem wir auf diese Veränderungen aufmerksam machen, wollen wir die Eltern in ihrer wichtigen Rolle bestärken. Sie besteht darin, ihre Kinder zu ausgeglichenen, selbstbewussten Erwachsenen werden zu lassen, zu Bürgern der Welt, in der sie leben.
Bereits vor der Geburt ist die Erwartung eines Kindes ein einschneidendes Erlebnis für die künftigen Eltern. Eltern zu werden ist mit einer tiefgreifenden Veränderung der Identität verbunden, die zum Teil mit den Umbrüchen während der Jugend vergleichbar ist. Der Übergang vom Status, das Kind seiner Eltern zu sein, zur Aussicht, selbst zu Eltern eines Kindes zu werden, ist nicht nur mit körperlichen Veränderungen verbunden, sondern auch mit einem tiefgreifenden Wandel der seelischen Intimität und einer Neudefinierung der familiären Bindungen. Die Bedeutung dieser drei Elemente für die künftigen Eltern kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die körperlichen Veränderungen betreffen sowohl die physischen Umstände, die eine Schwangerschaft zwangsläufig mit sich bringt, das heißt die Entstehung eines neuen Lebens im Mutterleib, als auch die Strapazen der Geburt und des Wochenbetts sowie das Einschießen der Milch. Durch die Veränderungen in der Psyche ist es möglich, mit den körperlichen Strapazen fertig zu werden und sich auf die Geburt und den täglichen Umgang mit dem Neugeborenen einzustellen. All dies ist Teil der Konstruktion einer neuen Identität als Eltern. Die Neudefinierung des Familienzusammenhangs trägt ihrerseits dazu bei, den Platz vorzubereiten, den dieses Kind in seiner Beziehung zur Mutter, zum Vater, in seiner eigenen Geschichte und in der Gesellschaft einnehmen wird. Und noch eine letzte Parallele lässt sich zwischen diesen beiden Lebensphasen beobachten: In beiden Situationen geht es um die Überwindung einer Krise. Wie das Jugendalter, so kennt auch die Schwangerschaft unterschiedliche Formen der Krise, die hinsichtlich Natur und Ausmaß variieren können und von »normalen« Entwicklungen bis hin zu besorgniserregenden Zuständen reichen können. Der Begriff »Krise« ist hier in seiner ursprünglichen Bedeutung (griechisch: krisis) verstanden, das heißt im Sinne einer plötzlichen Entscheidung, die eine Veränderung herbeiführt. In dieser Perspektive werden der Jugendliche wie die schwangere Frau dazu veranlasst, sich für eine größere Veränderung auf ihrem Lebensweg zu »entscheiden«. Der Terminus »Krise«, wie er hier verwendet wird, impliziert daher keinen negativen Ausgang, sondern ist lediglich Ausdruck einer Veränderung.
Dieses Buch ist ein Erfahrungsbericht über die Weitergabe des Lebens, der beim Kinderwunsch beginnt und über das Erleben der Schwangerschaft bis hin zur Begegnung mit dem Baby reicht. Dabei wird es zum einen um die üblichen psychischen Veränderungen gehen, die mit der Schwangerschaft verbunden sind; die folgenden Seiten sind also auch als eine Art intimes Reisetagebuch für werdende Eltern zu lesen. Zum anderen soll es um die psychologischen und psychiatrischen Befindlichkeiten gehen, die häufig mit der Schwangerschaft einhergehen. In diesem Sinne können die psychischen Probleme gewissermaßen als eine Steigerung jener Dynamik verstanden werden, die darauf zielt, Eltern auf ihre bevorstehende Rolle vorzubereiten. Bei den psychiatrisch relevanten Problemen muss zudem grundsätzlich zwischen zwei unterschiedlichen Zielgruppen unterschieden werden: zwischen schwangeren Frauen, die bereits vor ihrer Schwangerschaft unter psychischen Störungen litten, und solchen, deren psychische Störungen ausschließlich durch die mit der Schwangerschaft verbundenen Umwälzungen hervorgerufen sind.¹
Wir möchten den Leserinnen und Lesern eine Art psychologischen Leitfaden für den entscheidenden Moment, in dem sie zu Eltern werden, an die Hand geben. Wir möchten, dass die hier behandelten Gespräche mit schwangeren Frauen und werdenden Vätern Ihnen dabei helfen, sich in die Rolle der Eltern zu begeben und die Geburt Ihres Kindes bewusst zu erleben. Unser Anliegen ist also zum einen pädagogischer Natur, zum anderen soll psychischen Störungen, die der Elternschaft vorausgehen können, vorgebeugt werden. In manchen Fällen könnte dieses Buch auch dazu führen, dass sich künftige Eltern über die Instabilität ihrer Situation klar werden und möglicherweise konkrete Hilfe in Anspruch nehmen. Dazu gibt es vielfältige Möglichkeiten. Wir möchten Sie dazu ermutigen, in solchen Fällen einen kundigen Psychologen zu konsultieren, da der Leidensdruck einerseits unvorstellbar groß sein kann und sich Unsicherheit und Ängste andererseits auf das ungeborene Kind übertragen und die Beziehung zwischen ihm und seinen Eltern beeinträchtigen können. Heutzutage arbeiten Hebammen, Geburtshelferinnen und Kinderärzte in pränatalen Netzwerken eng mit Psychologen und Sozialarbeitern zusammen. So kann das Klinikpersonal, das mit der Geburt eines Kindes beschäftigt ist, den Familien bei Bedarf eine angemessene psychologische oder psychiatrische Betreuung angedeihen lassen. Schließlich möchten wir an dieser Stelle dem Wunsch Ausdruck verleihen, dass die Politik in naher Zukunft eine pränatale Gesundheitsvorsorge auf den Weg bringt, bei der die mit der Entstehung neuen Lebens verbundenen Erfahrungen in ihrer ganzen Tragweite und Bedeutung für die Kinder selbst, aber auch für die Eltern, die Familien und nicht zuletzt die Gesellschaft insgesamt gesichert werden.
1 In der französischen Originalausgabe befasst sich ein Kapitel speziell mit Frauen, die bereits vor der Schwangerschaft unter psychischen Störungen litten. Mit Zustimmung der Autoren hat sich der deutsche Verlag entschieden, dieses Kapitel nicht zu übernehmen, da die Fragen dieser Leserinnen und Leser schließlich doch weiter führen, als es ein Kapitel leisten kann. Ebenfalls nicht in die deutsche Ausgabe aufgenommen wurden ein Abschlusskapitel über soziale Hilfsangebote für Schwangere sowie eines über die Psychopharmakologie in der Schwangerschaft, da diese Angebote in Frankreich nicht denen in Deutschland, Österreich und der Schweiz entsprechen.
Erster Teil: Eltern werden
Kapitel 1: Weshalb wünschen wir uns Kinder?
Unsere Spezies, die des Homo sapiens, gehört zur großen Familie der Hominiden, von der die Erde seit über 10 Millionen Jahren bevölkert wird. Damit sind wir das letzte Glied einer Kette, die uns mit unseren Vorfahren verbindet, mit deren Lebenshauch uns Erinnerung und Kultur, Schatten und Licht, Ängste und Hoffnungen, Freuden und Leiden weitergegeben wurden. Indem wir unseren Platz im unaufhaltsamen Fluss der Generationen einnehmen, ergreift auch uns, so wie unsere Vorfahren, der Wunsch nach einem Kind, um uns auf diese Weise dem Geheimnis der Weitergabe des Lebens zu nähern. Jorge Luis Borges, der selbst keine Kinder hatte, beschreibt mit der Sprache der Poesie dieses Geflecht von Männern und Frauen, das sich von der unermesslich weit zurückliegenden Vergangenheit über das große Versprechen dessen, was sein wird, erstreckt.
An den Sohn²
Nicht ich hab dich gezeugt. Es sind die Toten.
Mein Vater, sein Vater und seine Ahnen;
die durch ein langes Labyrinth der Liebe
gingen seit Adam und den Wüsten Kains
und Abels, eines Morgens, der so alt ist,
dass er längst der Mythologie gehört,
und kamen, Blut und Mark, auf diesen Tag
der Zukunft, an dem ich dich heute zeuge.
Ich fühle ihre Menge. Wir sind wir,
und zwischen uns du und die künftigen
Söhne, die du noch zeugen musst. Die letzten
und die des roten Adam. Diese andren
bin ich auch. Die Ewigkeit liegt in den
Dingen der Zeit, die hastige Formen sind.
Borges’ Worte zeigen, dass es beim Menschen kein Reproduktionsgesetz gibt – ein Umstand, der dazu führt, dass uns der Mutterinstinkt ebenso abhandengekommen ist wie der Trieb zur Arterhaltung. Der Fortpflanzungstrieb ist dem Tierreich vorbehalten, er gehorcht einem strengen genetischen Determinismus und einer genau festgelegten Abfolge von angeborenen Verhaltensweisen. Wenn die Exemplare einer Art die Geschlechtsreife erreichen und die ökologischen Gegebenheiten es zulassen, veranlasst ihr Erbgut den Eisprung, und sie beginnen mit der Auswahl eines Partners, damit es zur Paarung kommt. Es folgen Trächtigkeit, Gebären und Aufzucht der Jungen. Sobald die Sprösslinge autonom sind, schließt sich, ebenfalls genetisch bedingt, ein weiterer Lebenszyklus an, indem die Jungen durch den brutalen Abbruch jeder mütterlichen Betreuung zu Fremden werden. Anders bei der menschlichen Art: Keine Frau und kein Mann sind in ihrem Verhalten von einem genetischen Determinismus bestimmt, der ihnen etwa den Moment der Fortpflanzung vorschreibt oder ihnen die elterlichen Kompetenzen als angeboren mitgibt. Die Komplexität und der hohe Entwicklungsstand unseres Organismus haben uns von den Instinkten befreit, sodass unsere Existenz vor allem auf der Fähigkeit beruht, Beziehungen aufzubauen, Gefühle zu teilen und mithilfe der Sprache eine Kultur zu begründen. Unser Überleben wird durch die Fähigkeit gesichert, uns in der Gemeinschaft zu konstituieren. In der Konsequenz beruht die Weitergabe des Lebens beim Menschen nicht nur auf der Übereinstimmung passender biologischer Gegebenheiten, sondern auch auf dem aktiven Wunsch und Willen erwachsener Personen, die jeweils vor einem spezifischen familiären, historischen und kulturellen Hintergrund agieren.
Der Wunsch, Kinder zu bekommen, ist für jede Frau und jedes Paar eine einzigartige und persönliche Entscheidung. Daher ist es schwierig, hier allgemeingültige Aussagen zu treffen. Wir werden einige Beispiele für diesen komplexen Zusammenhang in dem Abschnitt untersuchen, der sich speziell mit dem Thema Empfängnis beschäftigt. In diesem Kapitel wird es zunächst um den Kinderwunsch gehen, der als gewaltige Kraft in uns allen wohnt und uns dazu bringt,