Endlich Platz im Nest: Wenn Eltern flügge werden
Von Uwe Bork
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Über dieses E-Book
Die leeren Plätze am Frühstückstisch geraten nun zur Grundsatzfrage nach dem Platz im Leben. Amüsant und pointiert erzählt Uwe Bork über die Situationen und Gefühle die Eltern umtreiben und von der unterschiedlichen Wahrnehmung von Müttern und Vätern.
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Buchvorschau
Endlich Platz im Nest - Uwe Bork
Uwe Bork
Endlich Platz im Nest
Wenn Eltern flügge werden
VerlagslogoFür Bruni. Auf uns wartet noch so viel.
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung und Konzeption: Agentur R.M.E
Eschlbeck / Hanel / Gober
Umschlagmotiv: © Mauritius Images
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-33686-7
ISBN (Buch) 978-3-451-61012-7
KAPITEL 1
oder
Lerne loszulassen, das ist der Schlüssel zum Glück.
Siddharta Gautama
Neu angefangen haben wir, als uns unser Kater endgültig verlassen hat. Treulos und launisch ist dieses Tier ja schon immer gewesen, kein Vergleich mit den süßen Kätzchen, die in früheren Jahren unser Sofa und unsere Sessel zerfetzt hatten. Karlo ist anders. Katzenflüsterer würden sagen, er hat Charakter.
Egal. Jetzt ist er weg, abgewandert zu unseren Nachbarn, die eine allzeit offene Katzenklappe in ihrer Tür, einen verlässlich vollen Fressnapf in ihrer Küche und einen abgrundtief hässlichen Kratzbaum in ihrem Wohnzimmer zu bieten haben. Nicht zu vergessen vier eigene Katzen mit ausgewiesener Abneigung gegen Katzenklos und ebenso ausgewiesener Vorliebe für Reihenhausgärten mit halbwilder Vegetation und trittfesten Rasenflächen. Wie unserem.
Geahnt hatten wir es sowieso schon lange: Unser Kater ist nun einmal ein Macho. Wäre er ein Mann, würde er Goldkettchen tragen, einen frisierten GTI fahren und im Stehen pinkeln.
Unsere Nachbarin Gisa, Ehefrau eines aufstrebenden und körperlich wie geistig meist abwesenden Mitglieds des mittleren Managements, stört das anscheinend nicht im geringsten. Sonst würde sie nicht eines Sommerabends vor unserer Haustür stehen und uns ein betörendes Angebot machen: »Ich wollte nur mal fragen«, beginnt sie und dreht dabei verlegen den Hausschlüssel in ihren Händen. »Ich wollte nur mal fragen, ob ihr uns vielleicht euren Kater überlassen würdet. Wir würden ihn gern adoptieren. Gewissermaßen.«
Die Frau, mit der ich seit einem sonnigen Freitag irgendwann in den Achtzigern Tisch, Bett und Leben teile, stößt mir ihren Ellenbogen äußerst heftig in die empfindlichen Weichteile zwischen Hüftknochen und Rippenbogen. Ich keuche kurz und heftig und wende mich ihr zu, wobei ich gezwungenermaßen immer noch die leichte Klappmesserhaltung eines Schmerzensmannes einnehme. Die Augen meines Schatzes strahlen wie damals, als uns ein offensichtlich von ihrem Charme hingerissener Autohändler für unseren siechen Cinquecento nicht nur das kostenlose Abschleppen zum nächsten Schrottplatz geboten hatte, sondern darüber hinaus auch einen überaus vorteilhaften Ratenvertrag für einen Neuwagen. Vorteilhaft für ihn, nicht für uns, wie sich später herausstellte.
Verwirrt drehe ich meinen Kopf wieder Gisa zu.
»Wie ›adoptieren‹?«, frage ich.
»Ja, ab wann denn?«, fragt meine Frau.
Auch wenn ich es ungern zugebe: Frauen sind in einigen seltenen Ausnahmefällen einfach fixer als wir Männer. Schneller im Begreifen. Und schneller im Entscheiden.
Wie aufs Stichwort taucht jetzt Karlo hinter der Buchsbaumumgrenzung unseres drei Quadratmeter großen parkähnlichen Grundstücks auf und streicht unserer Nachbarin laut schnurrend um die Beine. Lassie hätte sich einen derart würdelosen Partnerwechsel niemals zu Schulden kommen lassen.
»Och, eigentlich könnte er sofort zu uns umziehen. Er ist doch sowieso schon jetzt die meiste Zeit bei uns.«
Stimmt. Unser Trockenfutter ist mittlerweile von einer Staubschicht überzogen und die ›leckere Leber in pikanter Sauce‹ steht unberührt in unserer Küche.
Trotzdem ist aus taktischen Gründen ein leichtes Zögern angesagt.
»Na ja, Gisa, weißt du, irgendwie gehört Karlo doch zu unserer Familie« – manchmal neige ich zugegebenermaßen zu einer Spur Heuchelei – »und außerdem sollten wir vielleicht erst einmal noch mit unserer Tochter …«
Ich lasse das Ende des Satzes betont nachdenklich in der Luft hängen. Unsere Prinzessin ist zwar schon seit über zwei Monaten ausgezogen, um in den blühenden Landschaften des Ostens etwas so zukunftssicheres wie Afrikanistik und Sozialwissenschaften zu studieren, aber mann will schließlich nicht als derjenige in die Geschichte unserer Straße eingehen, der gefühlskalt sein hilfloses Haustier vor die Tür setzt.
Frau kennt diese Bedenken offenbar nicht.
»Warte einen Moment, ich hole eben noch die angebrochene Tüte mit dem Trockenfutter aus der Küche. Die brauchen wir dann ja wohl nicht mehr!«
Das nenne ich Fakten schaffen. Noch ein Schritt weiter und wir würden eine Abwanderungsprämie auszahlen!
»Also dann: Wir wünschen euch viel Spaß mit eurem neuen Mitbewohner!«
So schnell war seit Menschengedenken noch nie jemand in unserem Haus verschwunden und wieder zurück vor der Tür. Gisa bekommt eine noch fast volle Fünf-Kilo-Tüte mit Katzenfutter auf den Arm gedrückt, wir lächeln ihr ein letztes Mal so verlogen zu, als wären wir das Diktatorenpaar einer korrupten Bananenrepublik, das gerade die letzten Oppositionellen ins ferne Exil verabschiedet – und dann werfen wir mit Schwung unsere Haustür ins Schloss. Wir sind allein. Endlich.
In der plötzlichen Einsamkeit unseres Wohnzimmers falle ich rücklings auf unsere Couch und strecke meine Arme Richtung Decke. Geschafft!
Die Frau meines Lebens drückt den Einschaltknopf unseres Radios. Zur hämmernden Klage der Stones, mit Satisfaction sei es bei ihnen schon lange nichts mehr, schießt sie im nächsten Augenblick die Kellertreppe hinab.
Ich stelle grinsend fest, dass Mick Jagger nicht die Bohne Ahnung vom Leben hat und wir alten Säcke sehr wohl noch wissen, was Befriedigung ist. Und jetzt sogar mehr denn je!
Unser Sohn ist als Erster ausgezogen. Schon als er in seinem Zivildienst Fertiggerichte an Rentner verteilte, wollte er nicht mehr zu Hause wohnen.
Wir waren über diese Entscheidung damals nur maßvoll traurig, hatte uns sein zunehmend unabhängiger Lebenswandel doch ebenso zunehmend genervt. Hotel Mama oder Pension Papa: Früher hatten wir das immer für völlig übertriebene Panikpropaganda überforderter Eltern gehalten, die mit ihren älter werdenden Kindern nicht mehr Schritt halten konnten.
Als unsere elterlichen Pflichten irgendwann aber nur noch darin zu bestehen schienen, Berge von Jeans und T-Shirts zu waschen, unseren Kühlschrank stets gut gefüllt zu halten und uns vor allem nicht mehr über die hohe Frequenz wechselnder Schlafgäste beiderlei Geschlechts zu wundern, waren wir umgeschwenkt. Anscheinend lag doch mehr als nur ein Quäntchen Wahrheit in der Rede über die gutmenschlichen Papas und Mamas, die sich von einem Tag auf den anderen zu mehr oder minder unfreiwilligen Hobby-Hoteliers reduziert fanden.
Gefühlt haben wir uns nach dem Auszug unseres umtriebigen Sohnes dann allerdings doch plötzlich wie richtige Hotelbesitzer, denen von einem Tag auf den anderen die Stammgäste wegblieben. Eine gemeinsame Vergangenheit, die auf dem Wickeltisch und mit den ersten mühsam auf babyfreundliches Lauwarm abgekühlten Fläschchen begann, hinterlässt nun einmal Spuren, die tiefer gehen als aller Ärger über Waschzwang und Lieferverpflichtungen im Lebensmittelbereich. Bei unserer Tochter liegt die Sache anders. Einen trotz gelegentlicher Anfälle postpubertärer Zickigkeit überaus süßen Schatz wie sie hätten wir gern noch etwas länger in unseren Räumen verwöhnt – und das sagt nicht nur der immer wieder hilflos um den töchterlichen Finger gewickelte Vater.
Die Fakten wollten es anders: Ein Studienplatz hinter der deutsch-sächsischen Sprachgrenze war einfach ein Argument, gegen das mit Vernunft kaum anzukommen war. Unser gegenseitiger Abschied vor gut zwei Monaten war deshalb auf weiblicher Seite überaus tränenreich ausgefallen, bei der männlichen Hälfte der Erziehungsberechtigten war die Wehmut eher versteckt gewesen.
Doch mittlerweile hat uns nicht zuletzt eine Telefon-Flatrate über den ersten Trennungsschmerz hinweggeholfen. Und es besitzt schließlich ja auch unbestreitbare Vorteile, dieses Leben als Doppelsingle: kein Vor- und Nachbeben mehr rund um die Klassenarbeiten, keine Debatten mehr darüber, ob die Nutzung des familiären Zweitwagens zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehört, und vor allem keine Sorgen mehr, wenn aus den Abenden bei Freunden und Freundinnen immer öfter Nächte werden.
Ich komme ins Träumen und schließe die Augen. Das Lamento der Stones wurde inzwischen abgelöst durch Carlos Santana, der sich mir mit seinem lasziv schlurfenden Samba Pa Ti ins Gehirn schmeichelt. Ich verschränke meine Hände im Nacken und beginne gedankenverloren zu schnurren, als wäre ich eine Art Instant-Ersatz für den entschwundenen Karlo.
Nach ein paar Sekunden werden meine Hände durch ein paar schlanke Finger ersetzt, die zärtlich über den schmalen Streifen zwischen Kragen und Haaransatz streicheln. Ich kenne diese Berührungen, sie lassen sich noch ausbauen.
Gleichzeitig wird mir der Rand eines Glases an die Lippen gedrückt. Ich schnuppere teuren Traubenduft und nippe vorsichtig.
»Hmmm! Guut!«
»Champagner. Habe ich in unserem Keller gefunden. Ich glaube, den haben mir meine Kollegen zu Weihnachten geschenkt.«
Ich unterdrücke die eifersüchtelnde Frage, was wildfremde Männer eigentlich dazu bewegt haben könnte, meiner Ehefrau eine Flasche vermutlich sündhaft teuren Schampus zu verehren, und genieße stattdessen.
»Schatz?«
»Hmmm.« Ich gebe immer noch den verliebten Kater.
»Schatz? Die Kinder sind aus dem Haus, Karlo ist beim Nachbarn, da könnten wir doch …«
Natürlich könnten wir. Auf jeden Fall. Seit ein paar Minuten sind wir schließlich in das Zeitalter unserer zweiten Jugend eingetreten. Wunderbare Zeiten stehen uns bevor.
Ich nehme mein Glas in die Hand und folge der Frau, die für mich nach wie vor die süßeste Versuchung ist, seit mir Schokolade nicht mehr alles geben kann.
Mit unserem Karlo sollte es übrigens kein gutes Ende nehmen. Wenige Tage nach seinem Umzug zu Gisa und ihrem Mann wurde er beim Verfolgen eines revierfremden Katers von einem BMW überrollt, dessen Fahrer die 30-Kilometer-Beschränkung in unserer Straße nur für eine unverbindliche Empfehlung gehalten hatte. Typisch Macho. Auf beiden Seiten …
KAPITEL 2
oder
Es ist durchaus nicht dasselbe, die Wahrheit über sich zu wissen oder sie von anderen hören zu müssen.
Aldous Huxley
Seit ein paar Tagen humpele ich. Mein rechter Fuß schmerzt und meine Zehen sind angeschwollen. Was vor wenigen Jahren noch als ehrenvolles Zeichen für schonungslosen Einsatz auf dem Fußballplatz gewürdigt worden wäre (»An Gott kommt keiner vorbei außer …«) oder als Ausweis angstloser Brachialabfahrten in irgendwelchen versteckten Alpentälern, ist inzwischen eher auf ein Zeichen von Seni- als von Virilität heruntergekommen.
Und leider ist es ja sogar die schnöde Wahrheit: Mein Fuß tut mir so höllisch weh, weil ich ihn mir fürchterlich an unserem neuen Bett gestoßen habe. Mehr nicht.
Wochenlang hatten wir schwere schein-schwedische Kataloge gewälzt und riesige Möbelhäuser in unserer Umgebung unsicher gemacht, bei denen allein auf der Ausstellungsfläche ihrer Schlafzimmerabteilungen die Bevölkerung ganzer vom Versinken bedrohter Südseerepubliken Platz finden könnte. Wir hatten italienische Designerbetten mit schwarz glänzenden Lederbezügen bestaunt, an denen nur noch die stabilen Ösen für heißen Handschellen-Sex zu fehlen schienen, wir hatten dem einlullenden Gluckern von Wasserbetten gelauscht, und wir hatten die knöcherne Härte fernöstlicher Futon-Pritschen kennengelernt. Nur Durchblick hatten wir nicht gewonnen. Als wir uns irgendwann im Wesentlichen nur noch über Länge und Breite unseres Schlafmöbels einig zu sein schienen – allenfalls die rindslederne Dominavariante stieß auf gemeinsame Ablehnung –, fanden wir dann schließlich doch noch ein Bett. Und das ausgerechnet in einem Geschäft, das mit der bescheidenen Behauptung für sich wirbt, es sei weitab vom schnöden Massengeschmack die einzig richtige Adresse für ›Design und Lifestyle‹ in der Stadt. Wenn nicht weit darüber hinaus.
Die vorherrschenden Farben im Inneren dieses Konsumtempels sind tiefes Schwarz oder grelle Neontöne, und in seinen Regalen warten fast ausschließlich Dinge auf Käufer, die geschmacklich eher einfach strukturierte Menschen wie ich entweder nicht brauchen, nicht kennen – oder schlicht nicht bezahlen können.
Doch in einem der dunkleren Winkel dieses Etablissements wurden wir endlich fündig. Vor uns stand ein einfaches Bett ohne jeden Schnörkel und in gerade noch finanzierbaren Regionen der Preisgestaltung: weißes Massivholz, keine unnützen Rückenlehnen, keine neckischen Konsolen, kein gar nichts. Bauhaus, versicherte uns unser ›Einrichtungsberater‹. Ich hätte eher auf Baukasten getippt, aber egal. Nach kurzem Überlegen war das Ding unser. Und weil in politisch korrekten Designerkreisen der Umgang mit diversen Schraubenziehern oder -schlüsseln anscheinend als angesagte Methode fortgeschrittener Realitätsaneignung gilt, liegen in unserem Schlafzimmer jetzt zwei riesige Pakete auf dem Fußboden. Eine dicke Schaumstoffmatratze lehnt zusätzlich an der Wand und versperrt den Zugang zum Kleiderschrank. Doch beides stört