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Hurenleben: Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung
Hurenleben: Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung
Hurenleben: Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung
eBook263 Seiten3 Stunden

Hurenleben: Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung

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Über dieses E-Book

Als Seelsorgerin begegnet Monika Rudolph Prostituierten. Die, die sonst auf ihre Weise Gehör schenken, finden bei ihr selbst einmal Gehör. In sechs Geschichten erzählen vier Frauen und ein Callboy, warum sie sich für diesen Weg entschieden haben. Oft sind es zerplatzte Träume oder Sehnsüchte, die ihnen keine Wahl ließen, manchmal ist es aber auch eine bewusste Entscheidung zu diesem Lebensweg. Doch welche Wünsche haben sie? Welche Sehnsüchte erhalten sie aufrecht, die selbst als Projektionsfläche anderer dienen?
Monika Rudolph gelingt es, hinter die Fassade zu schauen und in eine Welt vorzustoßen, die immer noch der Mantel der tabubeladenen Verschwiegenheit umgibt. Offen und wahrhaftig erzählen die Prostituierten, wie es ihnen mit ihrem Beruf ergeht und wie sie das Leben meistern. Häufig besitzen sie ein großzügiges, warmes Herz mit einem feinen Gespür für die Nöte der anderen. Eine Einladung, diese Menschen einen Herzschlag lang auf ungewohnten Lebenspfaden zu begleiten und sich von ihrer Lebensklugheit anrühren zu lassen.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum26. Feb. 2014
ISBN9783451800740
Hurenleben: Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung

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    Buchvorschau

    Hurenleben - Monika Rudolph

    Monika Rudolph

    HURENLEBEN

    Prostituierte erzählen von Wünschen und Träumen, Sehnsucht und Hoffnung

    Impressum

    Die Namen der im Text vorkommenden Personen und Orte wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert.

    Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von BookaBook, der Literarischen Agentur Elmar Klupsch, Stuttgart.

    Eine ungekürzte Buchgemeinschaftsausgabe dieses Textes ist erschienen bei der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH und der angeschlossenen Buchgemeinschaften unter dem Titel Die gestohlene Sonne. Als Seelsorgerin im Gespräch mit Prostituierten.

    © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

    Alle Rechte vorbehalten

    www.herder.de

    Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

    Umschlagmotiv: Getty Images

    E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

    ISBN (E-Book) 978-3-451-80074-0

    ISBN (Buch) 978-3-451-30902-1

    Für Renate, Kiki, Ewald, Elmar, Hans und Michael.

    Ihr habt mir Mut gemacht. Danke!

    Inhalt

    Ein paar persönliche Worte vorab

    SCHWARZE LISA

    Ich sehe was, das du nicht siehst

    ILANA

    Als Kind war ich glücklich und habe es nicht bemerkt

    NORA

    Ich sende einen Engel vor dir her

    BENNI

    Was ist es, was Liebe leiden macht?

    LIOBA

    Sie besaß eine grausame Zunge

    ILSE UND PAULA

    Tausende von Kleeblättern vor mir –

    doch kein einziges für mich

    BRENDAN

    Wir wissen zu wenig von der Stille

    Weiterführende Literatur

    »Das Leben ist kein Weg im Flachland.

    Wir sollten einander daran teilhaben lassen,

    was uns auf unseren Wegen führt und leitet.«

    MARTIN SCHLESKE

    EIN PAAR PERSÖNLICHE WORTE VORAB

    Welch ein Augenblick! Zwei Frauen stehen auf dem Gang der Notfallaufnahme, auf der auch ich in dieser Nacht meinen Dienst versehe. In ihrem Äußeren wirken sie so grotesk, als seien sie einer Filmszene entflohen. Da hält eine große, schlanke Frau eine verängstigte, gespenstig wirkende Gestalt an der Hand – eine verwirrte alte Dame.

    Die attraktive Helferin fesselt durch ihre aufreizende Erscheinung: Lederbekleidung, Netzstümpfe, hohe metallene Stahlabstätze und ein von Nieten gesäumtes Lederband um den Hals. Sie möchte die alte Dame versorgt wissen, die nichts als ein Nachthemd trägt.

    Ich muss sofort an eine Prostituierte denken. Viel später erzählt sie mir, dass sie als Domina arbeitet.

    Die Frau bietet mir an, mich nach Hause zu fahren. Ich mag ihr Angebot nicht ablehnen. Es erstaunt mich, wie gut wir uns unterhalten. Mich verwundert ihre warme und melodiöse Stimme. Der Klang einer Stimme kann nicht lügen.

    »Ich fänd’s schön, Sie wiederzusehen«, sagt sie spontan. So lernen wir einander kennen und schätzen. Tabea ist nicht das, was ich mir unter einer Domina vorstelle. Sie ist eine rätselhafte Frau.

    Die Begegnung mit ihr ruft ein längst versunkenes Erinnerungsbild meiner Kindheit wach. Es gibt ein Foto, das meine Tante im Fenster ihres Tanzlokals Isabella zeigt.

    In der restlichen Familie war man sich einig, dass sie sich ihren Reichtum zusammengehurt hatte. Deshalb wird sie totgeschwiegen. Und ist von ihr die Rede, dann nur als »Schwarze Lisa«. Eine Hure!

    Was versteht ein Kind davon? Für mich war Tante Lisa ein Engel, liebevoll, fröhlich und unglaublich hilfsbereit. Ich verbrachte oft meine Ferien bei ihr. Mir fällt sofort unser Ratespiel ein, das wir so gern miteinander spielten: Es sei gar kein Spiel, meinte die Tante, sondern Wirklichkeit.

    »Du kannst dabei lernen, tiefer zu blicken und das Gute im Menschen zu sehen«, sagte sie einmal zu mir. Unvoreingenommenes Hinsehen war ihre Stärke. Sie hütete sich davor, Menschen zu verurteilen.

    Vielleicht war das der Grund, warum ich die Einladung Tabeas annahm. Ich entdeckte an ihr Wesenzüge meiner Tante: Großzügigkeit und Wärme. Was würde mich in dieser so anderen Lebenswelt erwarten? Orgien, sexbesessene Männer und Frauen?

    Nichts von alledem traf zu. Mir begegneten aber auch keine heilen Verhältnisse. Zaghafte und vorsichtige Verbindungen wurden geknüpft. Die Frauen und ein Callboy erzählten mir ihre Lebensgeschichten. Ihre Wahrhaftigkeit berührte mich zutiefst. Ilse und Brendan beschenkten mich mit ihrer Lebensklugheit.

    Auf einem längst vergilbten Foto winkt meine Tante jemandem zu. Nie ließ mich die Frage los, wem ihr heiteres Lächeln galt. Seltsam, heute habe ich das Gefühl, es galt mir. Wollte sie mich grüßen und ermutigen? Und wenn ja, zu was? Vielleicht dazu, die Idee zu diesem Buch in die Tat umzusetzen.

    Ob ich eine so kluge und aufmerksame Gesprächspartnerin und Beobachterin der Seele bin wie sie, bezweifele ich. Aber es ist einen Versuch wert.

    Ich möchte von meinen Begegnungen erzählen. Es ereigneten sich darin Wunder, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Die Geschichten werden in mir noch lange nachhallen. Ob Sie sich davon ebenfalls anrühren lassen?

    SCHWARZE LISA

    Ich sehe was, das du nicht siehst

    Die Stimme. Fasziniert lausche ich. Jedes Mal beginnt es mit der Stimme. Noch nie war es anders. Es ist gar nicht anders denkbar. Kein Ton darf meinen Ohren entgleiten. Mein Herz pocht wild vor Glück. Sie ist wieder da. Wie habe ich mich nach ihrer Nähe gesehnt. Jetzt ist es gut, denn sie ist zurückgekommen. Das Glück macht mich mutig. Vorsichtig öffne ich die Augen und schaue sie an.

    Sie lehnt an einem schwarzen Flügel. Lässig legt sie einen Ellenbogen auf das glänzend lackierte Holz. Ihr Parfüm kommt mir in die Nase. Sie riecht nach frischem Wind, der über Gras und Meer weht.

    Die schlanke Frau mit dem tief ausgeschnittenen Rückendekolleté hält den Kopf leicht nach vorn geneigt. Fließend fällt das dichte, dunkle Haar über ihre Schultern. Es glänzt herrlich. Ich möchte hineingreifen und es durch meine Finger gleiten lassen. Die Frau sieht wunderschön aus. Jeder, der ihr zuhört, empfindet das. Deshalb ist es so still, so andächtig still im Raum. Sie trägt ein Kleid aus rubinrotem Samtbrokat. Lange, schwarze Spitzenhandschuhe bedecken Hände und Arme. Mit leichter Hand umfasst sie ein Mikrofon. Fast schaut es aus, als wolle sie damit spielen.

    Die Frau steht im Lichtkegel eines Scheinwerfers, der einen Hauch von Goldglanz auf ihren wohlgeformten Rücken wirft. Es hat den Anschein, als nehme die Schönheit niemanden um sich herum wahr, als sänge sie nur für sich allein. Nur ich weiß, wer sie ist. Die Menschen um sie herum sind Gäste, Fremde. Ich aber bin ihr »süßes Mädchen«. Ich will ihren Namen rufen und in ihre Arme laufen.

    Etwas kippt und entgleitet mir. Ein bedrohliches Gefühl gewinnt die Oberhand und greift mit kalter Hand nach mir. Irgendetwas weiß ich, und doch habe ich es vergessen! Es macht Angst und schnürt die Luft ab. Brutal überfällt mich die Gewissheit: Nichts ist gut! Die schöne Frau ist gar nicht zurückgekommen. »Tante Lisa!«, rufe ich voller Panik. Wie kalter Nebel quellen die Laute aus meinem Mund. »Tante Lisa!«

    Keuchend erwache ich. Mein Gesicht ist tränenüberströmt. Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe: Sie kann nicht zurückkommen, sie ist tot. Tante Lisa ist tot!

    Der Traum ist grauenvoll. Er drängt sich in meinen Schlaf und rüttelt mich wach. Zitternd liege ich unter der Bettdecke, die mich nicht zu wärmen vermag. Nicht vor dieser Kälte! Dem Tod bin ich in meinem jungen Leben noch nicht begegnet. Ein »Sensenmann«, wie Mutter ihn nennt, kann er nicht sein. Ihn hätte Tante Lisa gesehen und schnell vor ihm weglaufen können. Der Tod musste wohl unsichtbar sein, sich wie eine heimtückische Krankheit anschleichen.

    Ich fühle mich erschöpft, möchte zu meiner Mutter laufen und zu ihr ins Bett kriechen. Doch Mama ist wie eine Eisblume. Sie kann mich nicht wärmen. Sie lebt in einem Land, in dem ewiger Winter herrscht. Es ist auf keiner Landkarte eingezeichnet, und dennoch ist es real. Es heißt Sorgenland, und das Dasein dort ist freudlos und düster. Mit ihrer Kälte macht Mama mir Angst. Was weiß ein Kind schon von Depressionen.

    Resigniert bleibe ich im Bett. Es hätte sowieso keinen Zweck, vor Papa und Mama um Tante Lisa zu weinen. Sie mochten sie nicht. »Das Weibsbild hat sich das Geld für ihr feines Tanzlokal zusammengehurt«, sagen sie verächtlich.

    Dass es in unserer Familie eine Prostituierte gibt, ist eine Schande. Deshalb wird eisern über Tante Lisa geschwiegen. Nach ihrem Tod erst recht. »Lisa hat ausgetanzt!«, tuscheln sie, und Genugtuung ist ihren Gesichtern abzulesen.

    Ihr Name wird einfach nicht mehr erwähnt. Und wenn, heißt sie nur die »schwarze Lisa«. Papa sieht es gelassener. Er meint, sie sei das schwarze Schaf der Familie gewesen. Aber eines, das sich in seiner Haut verdammt wohlfühlte. Für Papa muss eine Frau keusch und rein sein, darauf weist er mich schon als Mädchen hin. »Was deine Tante tut, ist mir egal, aber meine Frau dürfte sie nicht sein. Ein Mann heiratet so eine nicht!«

    Ich wende das Kopfkissen. Es ist nass vor Tränen. Bedrückende Gedanken rauben mir den Schlaf. Es schmerzt mich, dass Mama mir oft böse war, weil ich so überschwänglich von meiner Tante schwärmte.

    »Werd ja nicht wie die Lisa!«, ermahnte sie mich.

    »Was ist Herumhuren?«, fragte ich sie verunsichert.

    »Wenn man mit Männern rummacht. Für Geld! Aber das verstehst du noch nicht. Die schwarze Lisa war den Männern äußerst zugetan. Von Treue hielt sie nicht viel. Sie nahm sich, was ihr gefiel. Selbst verheiratete Männer schreckten sie nicht ab.«

    Ich möchte meinem Kummer Luft machen und laut weinen. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Schreckliche Bilder von der Beerdigung wirbeln mir durch den Kopf. Ich sehe meine Eltern, die Onkel und Tanten vor mir stehen. Sie sind sich einig, Tante Lisa muss im Fegefeuer darben, ehe ihre verdorbene Seele Gott schauen darf. Wie sonst sollte es einer Frau ergehen, die nicht einmal weiß, wer der Vater ihres Sohnes war? Gezeugt in einer feuchtfröhlichen Nacht. Aber sie musste ihr Kind hergeben. Gott strafte sie und ersparte dem armen Balg ein verabscheuungswürdiges Leben.

    Meine armen Ohren! Ich möchte sie zuhalten. Was reden sie da? Sie haben keine Ahnung. Was wissen sie schon von der Tante? Was von ihrem Geheimnis? Ich wage es nicht, die Tote anzuschauen. Liegt sie vielleicht schon ganz schwarz in ihrem Sarg? Vorsichtig blinzele ich durch die Augenlider. Meine Tante Lisa soll ins Fegefeuer?

    Was ich sehe, lässt mich aufatmen. In großer Gelassenheit ruht sie inmitten der aufgeregten Trauergemeinde. Auf dem Gesicht ein wunderschönes Lächeln. Sie ist so seltsam eingepackt. Die Rüschendecke hätte ihr nicht gefallen. Wer hat ihr nur diese hässliche Bluse angezogen? Sie passt nicht zu meiner Tante. Meine Lehrerin trägt eine ähnliche. Den breiten Schleifenkragen hat sie fest um ihren Hals gebunden.

    Ich finde, die Tante hatte etwas von einem roten Plüschsofa. Eines, das einlud, sich voll Behaglichkeit und Wonne hineinfallen zu lassen. Ich bemühe mich, genau hinzusehen. Es ist nichts Schwarzes an der Tante zu entdecken. Sieht denn niemand ihr »goldenes Herz«? Gibt es denn keinen aus der Familie, der ihr etwas schuldig geblieben war?

    Für mich ist das kaum vorstellbar, denn Tante Lisa besaß ein großzügiges Herz. Jedem half sie in der Not, und niemals tat sie es mit Herablassung. Mama und Papa schenkte sie Geld und Lebensmittel, wenn Vaters Verdienst weder hinten noch vorn reichte. Für mich war sie wie ein Engel.

    Ich schaue in die versteinerten Gesichter rings um mich. Hier hat niemand etwas von einem Plüschsofa an sich, nicht einmal von einem bequemen Sofakissen. Am wenigsten der Pastor, der mit ernster Miene seine Gebete herunterspult, so, als ginge ihn die Verstorbene nichts an.

    Warum hat ihr niemand den roten Hut mit dem schwarzen Netztüllschleier aufgesetzt, den sie so liebte? Sie lächelte hinter diesem Schleier immer so geheimnisvoll. Dann sprühte Lebensfreude aus ihren strahlenden, nussbraunen Augen, und ihr Gesicht wurde noch schöner.

    Wie sehr werde ich ihre heitere Zärtlichkeit vermissen. Selbst Rolf, ihren treuesten Verehrer, eroberte sie damit. Zwischen den beiden entwickelte sich eine stürmische Liebe, obwohl Rolf schon ein hochbetagter, altersschwacher Hund war. In einer eisigen Winternacht schleppte er sich vor ihr Fenster und jaulte erbärmlich. Meine Tante stand auf, holte das kranke, herrenlose Tier zu sich ins Haus und versorgte es mit Futter und einer warmen Decke. Sie gab dem Tier einen Namen und den Platz hinter der Theke ihres Lokals. Rolf wich nicht mehr von ihrer Seite. Überhaupt drückte sie jedes Lebewesen, das einsam und hilflos vor ihr stand, an ihren üppigen Busen.

    Und auf einmal bin ich zuversichtlich: Meine Tante wird nicht ins Fegefeuer kommen. Das ist kein Ort für goldene Herzen. Lächelnd sehe ich die tote Tante an. Ich würde für sie gern ein Lied singen. Das Schlaflied, das sie abends oft für mich sang, bevor ich in ihr großes Bett krabbelte.

    Es laut zu singen traue ich mich nicht, aber leise, ganz leise im Herzen will ich singen, dass nur sie es hören kann. »Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn.«

    Die traurigen Gedanken wühlen mich auf, und ich beginne zu weinen. Wie schön wäre es, wenn Mama mich tröstete. Vergeblich lausche ich ihren Schritten. Ich verspüre Durst. Auf leisen Sohlen schleiche ich mich in die Küche und halte meinen Mund direkt unter den Wasserhahn. Durch das kalte Wasser friert es mich noch mehr.

    Ich muss an den heißen Kakao denken, den mir die Tante vor dem Schlafengehen kochte. Er schmeckte köstlich, und während ich das süße Getränk schluckweise trank, blieb sie auf meiner Bettkante sitzen. Ich genoss es, wenn sie mich umsorgte und bemutterte. Zärtlichkeit und Liebe zu bekommen war etwas Großartiges.

    In den ersten Momenten schluchzte ich, weil mir solche Gefühle fremd waren und mich verunsicherten. Wie nur war das Geheimnis ihrer Hände zu begreifen? Sie fühlten sich immer so an, wie ich es mir gerade wünschte. War mir heiß, dann waren sie kühl und erfrischend. Fror ich, dann streichelten sie mich sanft und fühlten sich weich und warm an. Ihre Hände waren einfach wunderbar. »Wunderbar«, es gab kein Wort, das besser zu Tante Lisa passte.

    Ich liebte sie sehr. Sie sollte eine Hure sein? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Hure-Sein etwas Schlimmes bedeutete.

    Manchmal erlaubte es Mutter, dass ich meine Ferientage bei ihr verleben durfte. Meine Tante ließ es sich nicht nehmen, mich abzuholen. Mama hätte sowieso keinen Fuß in ihr Tanzlokal gesetzt. Sie nannte es Lasterhöhle.

    Sah ich meine Tante die Straße hochkommen, winkte ich ihr und rief aufgeregt: »Tante Lisa kommt!« Vor Freude bekam ich rote Wangen.

    Bei uns zu Hause fühlte sie sich nicht willkommen, weil Mama sie die ganze Zeit strafend anschaute. Eilig packte ich meine Sachen, um schnell mit ihr fortzugehen. Ich hörte, wie sie zu Mama sagte: »Elisabeth, mach doch mal Erholung von der Sorge.« Aber Mutter lebte Millionen von Lichtjahren von der Sorglosigkeit entfernt. Sie war nicht fähig, die Früchte des Augenblicks zu genießen.

    Der einzige Lichtblick in Mamas trauriger Welt war der kleine Marienaltar im elterlichen Schlafzimmer. Dort stand die Mutter Gottes, eingehüllt in einen nachtblauen, sternenübersäten Mantel. Freundlich lächelnd schaute sie jedem entgegen, der sie besuchte. Sie trug den Kopf leicht zur Seite geneigt, damit sie besser zuhören konnte. Sie war atemberaubend schön, und ich beneidete sie um ihre rosenumkränzten Schuhe. Es waren die Schuhe einer Königin.

    Mutter ging oft zu ihr und brachte Blumen. Auch uns ermutigte sie, zu Füßen der Himmelsfrau Blumen sowie unsere Freude und unser Leid zu tragen. Es gab wenig Freudvolles, um es auf den Altar zu legen, Kummer und Schmerz hingegen reichlich. In der Nähe der himmlischen Frau war Mama weicher und lächelte sogar. Deshalb war es wichtig, dass die Mutter Gottes für immer bei uns wohnte. Dass sie blieb, war überlebenswichtig!

    Wie anders sah dagegen die Welt von Tante Lisa aus. In ihrem Schlafzimmer stand eine Schneiderbüste. Jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, trug die Büste andere Garderobe, aufregende Kleidungsstücke, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Die Wäsche war aus feinstem Satin und Brokat gearbeitet und duftete herrlich. Die Düfte luden zum Träumen ein. Tante Lisa sagte, es seien Korsagen aus Paris. Frau zu sein fühle sich darin so bezaubernd an.

    Ich wünschte mir so sehr, für immer hierbleiben zu dürfen. Manchmal verbrachte ich Stunden damit, still durch die Räume der Wohnung zu gehen und die Kostbarkeiten um mich herum zu bestaunen. Ich verliebte mich in die kleine Tänzerin, die in einem roten, lederbezogenen Etui wohnte, das die Form eines Herzens hatte. Hob sich der Deckel, begann die bezaubernde Ballerina zu tanzen. Anmutig drehte sie sich auf winzigen Spiegelscherben zu wunderschönen Klängen. Bald konnte ich die Melodie mitsummen.

    »Gefällt es dir?«, flüsterte mir die Tante ins Ohr. »Das kleine Musikstück heißt ›Barcarole‹. Ob du dir das wohl merken kannst?« Mit tiefer, warmer Stimme sang sie: »Fern von dieses Ortes Pracht entflieht die Zeit mit Macht.«

    Bewundernd blickte ich zu ihr hoch, dachte aber an mein karges Elternhaus. Mir war, als ob etwas in mir die Eltern verriet. Von unten hörte ich das Lachen der Gäste. Dann war es still. Für den Bruchteil eines Augenblicks schämte ich mich für Mama und Papa. Es fühlte sich bedrückend an und schmerzte im Bauch.

    Während meiner Besuche schenkte mir meine Tante viel Zeit. Gemeinsam sangen und spielten wir. Zu einer unserer Lieblingsbeschäftigungen gehörte das Ratespiel »Ich sehe was, was du nicht siehst«. Dazu setzten wir uns auf die Couch oder ans Fenster ihres Wohnzimmers. Jeder suchte sich in Gedanken einen Gegenstand aus, den der andere erraten musste. Aufmerksame Fragen, und ein wenig »um die Ecke gedacht«, wie die Tante es nannte, brachten einen dem Ziel näher.

    Doch eines Tages geschah etwas völlig Unerwartetes. Es sollte sie und mich für immer verbinden. Sie weihte mich in ein Geheimnis ein, das sie mit noch keinem geteilt hatte. Die Tür dazu öffnete sich rein zufällig.

    Ich hatte mir ein Vögelhäuschen in einer der mächtigen Pappeln im Hof ausgeguckt, das Tante Lisa erraten sollte. Konzentriert schauten wir aus dem Fenster. Ein junges Paar kam die Straße herauf. Der Mann schaute die Frau neben sich verliebt an. Sein Arm lag beschützend um ihre Taille. Die Frau schob einen Kinderwagen. Immer wieder blieben die beiden stehen, um sich zu umarmen und zu küssen.

    Ich kicherte albern, aber Tante Lisa traf der Anblick wie ein Nadelstich. Ruckartig riss sie den Kopf zur Seite, sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Erschrocken schaute ich ihr nach und hörte sie weinen. Ihr Schluchzen traf mich bis ins Mark. Niemals hatte ich meine Tante weinen sehen. Unsicher erhob ich mich vom Stuhl und ging ihr nach. Ich fand sie im Schlafzimmer. Sie weinte so bitterlich, dass ihr ganzer Körper bebte. Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante und streichelte ihr zaghaft über den Rücken.

    »Warum weinst du?«, frage ich verunsichert. Unsere Blicke trafen sich.

    »Ach Kind, ich vermisse meinen Jungen so.«

    »Dein Baby?«, frage ich erstaunt und sah verlegen zu Boden.

    »Ja, mein Baby. Ich denke oft an den kleinen Florian. Heute wäre er groß, ein erwachsener Mann. Wie schön muss es sein, einen Sohn zu haben. Ich wäre nicht so allein.«

    »Das bist du doch nicht, Tante Lisa«,

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