Das Fenster der Seele öffnen: Einfach beten - mit einer Einführung von Anselm Grün
Von Anselm Grün OSB
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Buchvorschau
Das Fenster der Seele öffnen - Anselm Grün OSB
Amen.
Einführung
von
Anselm Grün
Beten ist eine persönliche Angelegenheit. Jeder betet für sich selbst mit den Worten, die seine je eigene Situation vor Gott ausdrücken. Wir beten auch gemeinsam in unseren Gottesdiensten. Das Gebet, das wir am häufigsten beten, ist das Vaterunser. Es sind die Worte, die Jesus selbst uns zu beten gelehrt hat. Er hat uns diese Worte geschenkt, damit wir beim Beten immer tiefer in seine Haltung Gott gegenüber hineinwachsen. Die Worte des Vaterunsers sind für das Matthäusevangelium der Schlüssel zum wahren christlichen Leben. Denn die Worte des Gebetes werden dann durch die Bergpredigt ausgelegt. Die Worte wollen uns in ein neues Tun hineinführen.
Obwohl jeder für sich selbst betet und seine eigenen Worte finden muss, greifen wir gerne nach Gebeten, die andere verfasst haben. In diesen Gebeten kommen wir dem Geist des jeweiligen Beters nahe. So, wie wir im Vaterunser dem Geist Jesu begegnen, so sehnen wir uns danach, in den Gebeten anderer ihren Geist zu erspüren und uns von diesem Geist inspirieren zu lassen. Wir können die Gebete der Heiligen oder der spirituellen Schriftsteller nicht so nachbeten wie das Vaterunser. Aber von Zeit zu Zeit hilft uns ein Gebet, das ein anderer Mensch in seiner persönlichen Suche nach Gott verfasst hat, unsere eigenen Gefühle Gott gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Und manchmal bringt uns das Gebet eines anderen erst in Berührung mit den eigenen Gefühlen, die unter der Oberfläche alltäglicher Sorgen verborgen liegen und manchmal zu ersticken drohen. So wollen uns die Gebete anderer helfen, das eigene Beten zu befruchten. Sie machen uns Mut, unsere eigenen Worte beim Beten zu finden und unsere verborgenen Gefühle Gott gegenüber auszudrücken.
In diesem Buch können Sie die Gebete großer Beter lesen und meditieren. Beten heißt aber nicht nur, mit Worten zu beten. Das lateinische Wort für beten – orare – meint zwar, dass wir mit dem Mund beten, dass aus unserem Mund Worte kommen, mit denen wir beten. Doch Beten ist mehr als Worte zu machen. Jesus verbringt oft die ganze Nacht schweigend vor Gott. Da hat er nicht viele Worte gemacht, sondern war einfach in Gottes Gegenwart. Er hat die Stille vor Gott gesucht. Die war für ihn eine Quelle der Inspiration und offensichtlich eine Hilfe, sein Leben nach Gottes Willen auszurichten und Entscheidungen zu treffen. So hat er zum Beispiel nach einer Nacht des Gebetes seine Jünger berufen. Im Gebet wurde ihm klar, wen er in den Kreis der Apostel aufnehmen konnte (vgl. Lk 6,12ff).
Was geschah, wenn Jesus die ganze Nacht vor Gott im Gebet verbrachte? Ich stelle mir vor, dass Jesus in der Stille der Nacht seinem Vater begegnet ist. Er hat sein Herz für ihn geöffnet, es in der Stille gereinigt vom Lärm der Menschen, dem er tagsüber oft ausgesetzt war. Und so konnte er vom Geist seines Vaters erfüllt werden. Er war seinem Vater nahe, ist ihm im Gebet begegnet. Das ist für mich das Wesen des Gebetes: Gebet ist Begegnung mit Gott. Die Begegnung verwandelt. Ich gehe anders aus der Begegnung heraus als ich hinein gegangen bin. In der Begegnung mit Gott begegne ich immer auch mir selbst, aber auf neue Weise. Ich sehe mich im Lichte Gottes. Ich erkenne in der Begegnung mit Gott, wer ich eigentlich bin. Die Begegnung mit Gott zeigt mir nicht nur meine Fehler und Schwächen auf, nicht nur meine Schattenseiten, sondern auch meine wahre Berufung und meine göttliche Würde. Evagrius Ponticus, ein »Wüstenvater« aus dem 4. Jahrhundert, sieht daher im Gebet den Ort, an dem der Mensch seine höchste Würde erkennt, die Würde, von Gottes Geist erfüllt zu werden. Im Gebet erfahre ich, dass ich Sohn und Tochter Gottes bin, dass die Welt keine Macht über mich hat. Die Begegnung ist nicht nur etwas Äußeres, so wie es das deutsche Wort vermuten lässt. Vielmehr geschieht in der Begegnung etwas in meinem Inneren. Da werde ich in meinem Herzen berührt. Da komme ich in Berührung mit meinem wahren Wesen. Es geschieht tief in meinem Herzen eine innere Verwandlung. Ich werde vom Geist Gottes durchdrungen und so werde ich nach der Begegnung anders denken und fühlen, anders sprechen und handeln.
Lukas hat uns wie kein anderer Evangelist immer wieder vom Gebet Jesu erzählt. Dabei ist das Gebet oft ein stilles Sein vor Gott – manchmal die ganze Nacht. Aber Lukas erzählt uns auch die Worte, mit denen Jesus gebetet hat. Das gilt nicht nur für das Vaterunser, das Jesus die Jünger lehrt, als sie ihn fragten, wie sie beten sollen. Im Lukasevangelium ist ausdrücklich davon die Rede, dass die Jünger Jesus darum bitten, sie zu lehren, was und wie sie beten sollen. Daher zeigt ihnen Jesus, mit welchen Worten sie beten sollen und in welcher Haltung. Jesus erzählt ihnen zwei Beispiele, um ihnen zu zeigen, sie sollten mit Gott sprechen wie mit einem Freund und wie mit einem guten Vater (Lk 11,5–13). Lukas erzählt aber auch, dass Jesus konkrete Worte im Gebet gesprochen hat. So leitet Lukas das Sterben Jesu am Kreuz mit einem Gebetswort ein: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lk 23,34). Und Jesus stirbt betend: »Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist« (Lk 23,46). Beide Gebetsworte am Kreuz zeigen, dass Jesus im Gebet die Situation verwandelt. Er verwandelt die Situation des Hasses und der aggressiven Unruhe in eine Stimmung von Frieden und Versöhnung. Er beruhigt die Turbulenzen in den Herzen der Mörder durch sein Wort der Vergebung. Und sein letztes Wort am Kreuz verwandelt sein Sterben. Es ist kein grausames Sterben mehr, so wie es die Römer durch die härteste Strafe, die sie kennen, bezweckt hatten. Vielmehr ist es ein sanftes Sterben, ein Sich-Hineinfallenlassen in die liebenden und bergenden Arme Gottes.
Das ist auch für uns die Verheißung, die in den Gebeten steckt, die wir in diesem Buch lesen können. Die Worte, mit denen betende Menschen ihre Situation verwandelt haben, mögen auch uns helfen, unsere Angst in Vertrauen zu verwandeln, unsere Einsamkeit in Gemeinschaft, unser Verlassensein in Geborgenheit, unsere Dunkelheit in Licht, unsere Traurigkeit in Freude und unsere Verzweiflung in Hoffnung. Indem Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die Gebete in diesem Buch lesen und meditierend in das eigene Herz fallen lassen, kommen Sie in Berührung mit den Erfahrungen, die die Beter mit ihren Gebeten gemacht haben. Und Sie dürfen durch die Gebetsworte anderer die Verwandlung des eigenen Lebens erfahren. Indem Sie diese Worte nachsprechen oder ihnen nachspüren, werden Sie vom Geist erfüllt, der die Beter zu diesen Worten inspiriert hat. Und Sie werden die Bestärkung, Tröstung und Hilfe erfahren, die den Betern bei ihrem Beten zuteil geworden ist.
Es geht in diesem Buch aber nicht nur um Gebete, die andere Personen verfasst haben, sondern auch um die Gebetserfahrungen, die diese Menschen gemacht haben. Sie schreiben auch über das Gebet und über das, was im Gebet geschieht. Nicht immer werden Sie die gleichen Erfahrungen im Gebet machen wie die Autoren dieser Texte. Aber vielleicht bringen die Erfahrungen anderer Sie mit Ihren eigenen Erfahrungen in Berührung, die Ihnen noch unbewusst sind. Indem Sie von der Erfahrung anderer lesen, entdecken Sie, was Sie auch schon einmal gespürt haben, wofür Sie aber bisher noch keine Worte gefunden haben. So leihen Ihnen die Autoren Worte, um Ihre eigenen Erfahrungen angemessen zum Ausdruck zu bringen.
Ich möchte in dieser Einführung nur kurz auf die Autoren, ihre Gebete und ihre Gebetserfahrungen eingehen, damit die vor langer Zeit geschriebenen Texte in Ihre eigene Situation hinein wirken können.
Franz von Assisi
Franziskus war wohl der Heilige, der in seiner Gesinnung Jesus am nächsten kam. Er strahlte die Liebe Jesu aus. Und diese Liebe war einerseits von Fröhlichkeit geprägt, andererseits aber durchaus von Verzicht und harter Askese. Doch von dieser Härte spüren wir nichts in seinen Gebeten. Seine Gebete sind voller Demut und zugleich voller Heiterkeit und Freude. Das Gebet in der Stunde der Bekehrung ist einfach und schlicht. Franziskus spricht Gott als den Höchsten und Glorreichen an. Das ist ein anderes Gottesbild als das unsere. Und doch kommt in dieser Anrede etwas Wesentliches zum Ausdruck. Franziskus war zutiefst betroffen und berührt von der Schönheit und Größe Gottes. Und zu diesem unendlich hohen und großen Gott wagt er nun, in einfachen Worten zu sprechen. Gott möge die Finsternis seines Herzens erleuchten und ihm ein rechtes Empfinden für seinen Willen schenken. Und er möge ihm das geben, was für einen Christen die wesentlichen Gaben sind, die er für seinen Weg braucht: Glaube, Hoffnung und Liebe.
Wohl das bekannteste Gebet, das uns Franziskus geschenkt hat, ist der Sonnengesang. Zahlreich sind die Übersetzungen und Vertonungen. Auch hier spricht Franziskus Gott als den höchsten, allmächtigen, aber zugleich auch guten Gott an. Die Faszination von der Größe Gottes ist verbunden mit dem Gespür für die unendliche Güte und Milde Gottes. Diese Güte Gottes erfährt Franz in seiner Schöpfung. Und so lädt er in diesem Gebet die ganze Schöpfung ein, Gott zu preisen. Die Anrede der Geschöpfe ist voller Vertrauen und Zärtlichkeit. Da nennt Franziskus die Sonne seinen Bruder. Im Italienischen ist die Sonne männlich und der Mond weiblich. Die Sonne schenkt uns das Licht und sie ist schön. In ihrer Schönheit spiegelt sie die Schönheit Gottes. Das ist ein wichtiger Zug der Gebetserfahrung des hl. Franziskus. Sein Gebet ist weniger Bitte als Lobpreis. Und sein Gebet ist Staunen über die Schönheit Gottes. Die Schönheit Gottes spiegelt sich in der Schöpfung wider. Das Gebet ist Antwort auf die wunderbare Erfahrung der Schönheit. Die Schönheit tut dem Menschen gut, sie macht ihn schön. Sie ist ein Geschenk. Loben zielt auf all die Geschenke, die Gott uns gewährt. Franziskus war schon todkrank, als er dieses wunderbare Lied gedichtet hat. Er schaut nicht auf seine Schmerzen, sondern auf die Schönheit, die ihn umgibt. Er schaut auf die Schönheit der Sonne, aber auch den Mond und die Sterne nennt er »kostbar und schön«. So verwandelt das Gebet seine Erfahrung des Leids. Das Gebet wird zu einem Staunen über die Schönheit der Schöpfung und zu einem vertrauten Gespräch mit Gott, einem Gespräch voller Zärtlichkeit und Liebe.
Gott sorgt für die Menschen durch seine Schöpfung. So schaut Franziskus auf den Bruder Wind, auf die Wolken und den heiteren Himmel, auf das Wetter, durch das Gott für den Unterhalt der Menschen sorgt. Und er ist fasziniert vom Wasser, das er seine Schwester nennt. Er nennt das Wasser »gar nützlich, demutsvoll und köstlich und keusch«. Da spürt man, wie empfindsam Franz auf alles geschaut hat, was er wahrnimmt. Und alles wird für ihn zum Bild für Gottes Güte und Schönheit, für Gottes liebevolle Sorge für uns. Und Franz fühlt sich mit allem verbunden. Daher nennt er alle Geschöpfe Bruder und Schwester. Dann nennt er das Feuer den Bruder, der die Nacht erleuchtet. Auch dieser Bruder ist schön und fröhlich, kraftvoll und stark. Und er dankt für die