Das verschleierte Bildnis
Von Heinz Greter
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Über dieses E-Book
Damit hat Schiller eine Grundfrage der menschlichen Erkenntnis in poetische Form gefasst.
In seinem philosophischen Roman fragt Heinz Greter nach den Beweg- gründen der Handlung des Jünglings. Greter schildert seine innere Situation vor dem Hintergrund der vielfältigen Weltsichten zur Zeit des Hellenismus und zeigt, was in Saïs schließlich gefunden werden kann.
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Buchvorschau
Das verschleierte Bildnis - Heinz Greter
Nachwort
Das verschleierte Bild zu Sais
Ballade von Friedrich Schiller
Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst
Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester
Geheime Weisheit zu erlernen, hatte
Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt;
Stets riss ihn seine Forschbegierde weiter,
Und kaum besänftigte der Hierophant
Den ungeduldig Strebenden. «Was hab’ ich,
Wenn ich nicht Alles habe?», sprach der Jüngling;
«Gibt’s etwa hier ein Weniger und Mehr?
Ist deine Wahrheit, wie der Sinne Glück,
Nur eine Summe, die man größer, kleiner
Besitzen kann und immer doch besitzt?
Ist sie nicht eine einz’ge, ungetheilte?
Nimm einen Ton aus einer Harmonie,
Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen,
Und Alles, was dir bleibt, ist nichts, so lang
Das schöne All der Töne fehlt und Farben.»
Indem sie einst so sprachen, standen sie
In einer einsamen Rotonde still,
Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße
Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert
Blickt er den Führer an und spricht: «Was ist’s,
Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?»
«Die Wahrheit», ist die Antwort – «Wie?» ruft jener,
«Nach Wahrheit streb’ ich ja allein, und diese
Gerade ist es, die man mir verhüllt?»
«Das mache mit der Gottheit aus», versetzt
Der Hierophant. «Kein Sterblicher, sagt sie,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Und wer mit ungeweihter, schuld’ger Hand
Den heiligen, verbotnen früher hebt,
Der, spricht die Gottheit» – «Nun?» –
«Der sieht die Wahrheit.»
«Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,
Du hättest also niemals ihn gehoben?»
«Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu
Versucht.» – «Das fass’ ich nicht. Wenn von der
Wahrheit
Nur diese dünne Scheidewand mich trennte –
«Und ein Gesetz», fällt ihm sein Führer ein.
«Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,
Ist dieser dünne Flor – für deine Hand
Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.»
Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause;
Ihm raubt des Wissens brennende Begier
Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager
Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel
Führt unfreiwillig ihn der scheue Tritt.
Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,
Und mitten in das Innre der Rotonde
Trägt ein beherzter Sprung den Wagenden.
Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt
Den Einsamen die lebenlose Stille,
Die nun der Tritte hohler Wiederhall
In den geheimen Grüften unterbricht.
Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft
Der Mond den bleichen, silberblauen Schein,
Und furchtbar, wie ein gegenwärt’ger Gott,
Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse
In ihrem langen Schleier die Gestalt.
Er tritt hinan mit ungewissem Schritt;
Schon will die freche Hand das Heilige berühren,
Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein
Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.
Unglücklicher, was willst du thun? so ruft
In seinem Innern eine treue Stimme.
Versuchen den Allheiligen willst du?
Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:
Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
«Sei hinter ihm, was will! Ich heb’ ihn auf!»
(Er ruft’s mit lauter Stimm): «Ich will sie schauen.»
Schauen!
Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.
Er spricht’s und hat den Schleier aufgedeckt.
Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?
Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,
So fanden ihn am andern Tag die Priester
Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.
Was er allda gesehen und erfahren,
Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig
War seines Lebens Heiterkeit dahin,
Ihn riss ein tiefer Gram zum frühen Grabe.
«Weh Dem», dies war sein warnungsvolles Wort,
Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,
«Weh Dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld:
Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.»
Eines unbekannten Königs
Erläuterungen zum Ereignis in Saïs
Viele Jahre später, die Geschichte des Jünglings zu Saïs war längst allgemein bekannt, tauchte in der Bibliothek zu Alexandria ein Fragment mit Erläuterungen eines unbekannten Königs auf. Von Mund zu Mund war das Ereignis in den folgenden Jahren von einem Dorf zum Nächsten, von Stadt zu Stadt weitererzählt worden. Die einen sagten, der Jüngling sei mit weißem Haar, um Jahre gealtert, hinter dem Schleier hervorgetreten.
Andere, er habe bis zu seinem frühen Tod geschwiegen und das Geheimnis seiner Schau, von Gram gebeugt, mit ins Grab genommen. Wogegen wieder andere behaupteten, er habe, wenn Frager ihn bedrängten, mit nur einem einzigen Satz all jene gewarnt, die durch Schuld zur Wahrheit kommen wollten.
Des unbekannten Königs Mutmaßungen und Erläuterungen zum unerhörten Vorfall in Saïs waren derart bruchstückhaft, dass weder eine feste Datierung noch der genaue Hergang des Geschehens auszumachen war.
Auch der Name des Herrschers blieb im Dunkeln. Rex … dixit (der König … sagte) ist der einzige Hinweis auf den königlichen Ursprung der in Dialogform gehaltenen Erläuterungen, die im Museion zu Alexandria verwahrt wurden. Hier das Fragment des unbekannten Königs:
Was bedeutet es, dass der Jüngling um Jahre gealtert war?
Der König sagte: Es bedeutet, dass nur Alte und Weise die letzten Geheimnisse erfahren können, nachdem sie zuvor lange Jahre geliebt und gelitten und die Lust und Last eines langen Lebens getragen und verstanden hatten. Hier ist nun der umgekehrte Vorgang: nicht das Alter bringt die Einsicht, sondern die Einsicht macht alt, und kommt die Einsicht vor ihrer Zeit, dann kommt auch das Alter vor seiner Zeit. Kein Jüngling kann weise sein, und wie denn könnte ein Jüngling mit der Wahrheit umgehen! Denn Alter und Einsicht und Weisheit gehören in einem geglückten Leben zusammen, nicht aber Jugend und Weisheit und Einsicht.
Doch Weisheit und Einsicht, sagt man, bringen Freude und Heiterkeit, Gelassenheit und Ruhe. Der Jüngling hingegen schien nach seiner tollkühnen Tat an einer schweren Last zu tragen, war von Gram gezeichnet und schwieg, als sei die Wahrheit niemandem zumutbar.
Sie ist offenbar für die Jugend eine Zumutung. Sie kam nicht durch ein wechselvolles Leben und vielfältige Erfahrung zur Reife, sondern muss ihn wie ein Schlag getroffen haben.
Und warum das Schweigen?
Der Köng sagte: Weil die Erfahrung der Wahrheit etwas ganz und zutiefst Persönliches ist, das schwerlich jemandem vermittelt werden kann. Sie ist jenseits des Denkens. Ein Weiser aus Asien hatte gesagt: «Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht.»
Demnach wäre sein Schweigen der Beweis dafür, dass er die Wahrheit erfahren hat.
Vielleicht, doch weil er schwieg, wissen wir es nicht. Und Schweigen allein ist noch kein Beweis. Wir können darüber nur mutmaßen. Da wir über sein Verhalten im Leben nichts wissen, bleibt diese Frage in der Schwebe. Doch scheinen sein Alter und das, was er erfahren hatte, nicht übereinzustimmen. So alterte er vor seiner Zeit.
Andere behaupten, er habe darüber geschwiegen, doch all jene gewarnt, die durch Schuld, indem sie das Gebot der Götter verletzen, zur Wahrheit kommen wollen.
Dann hätte er immerhin ein Herz gezeigt für alle jene, die vor der Versuchung stehen, durch Schuld zur Wahrheit zu kommen. Zur Sache aber sagte er nichts und schwieg.
Merkwürdig ist aber, dass der Tempelpriester den Schleier nicht längst für sich gelüftet hatte. Denn er hätte von seinem Alter her die Voraussetzung dazu gehabt.
Der König sagte: Das ist insofern nicht merkwürdig, als es zur Pflicht der Tempelpriester gehörte, das Geheimnis zu schützen. Die Ehrfurcht vor dem Mysterium hielt ihn davon ab. Er tat nur seine Pflicht, als er den jungen Mann vor den Konsequenzen eines frevlerischen Tuns warnte. Das heißt, in seinem Inneren war er nicht eigentlich frei, sondern gebunden durch den Glauben an das geheimnisvoll Verborgene. Ließe er die Götter (oder was er dafür hielt) fahren, dann hätte er die innere Freiheit zu fragen, was die letzte und einzige Wahrheit ist. Auch müsste er sich und die Angst vor Gottverlassenheit überwinden und alles, wirklich alles, auch sich selbst loslassen.
Dieser Jüngling war nicht irgendein Jüngling, ansonsten er wohl kaum den gewiss beschwerlichen Weg in die Stadt gegangen wäre, um dort für den Preis der Wahrheit seinen möglichen Tod und Gottverlassenheit zu riskieren. Es ist, als ob etwas in seinem jugendlichen Herzen sich wie frühzeitig regte und er vor der Zeit den Drang nach letzter Erkenntnis in sich trug.
Der König sagte: Das mag sein, denn er wusste um den feinen Unterschied zwischen ‹sehen› und ‹schauen›: «Ich bin nicht bloß geboren, mit meinen Augen die Welt zu sehen, ich bin auch dazu bestellt, das ewige und letzte Wahre zu schauen.» So jedenfalls wird an einigen Orten das Gespräch des Jünglings mit dem Priester überliefert. Also zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt.
Offenbar berührt das letzte Wahre den Menschen in der Form der Sehnsucht, als Ahnung vielleicht auch, und wird dann zur unruhigen und beunruhigenden Suche und lässt den Menschen die verschiedensten und oftmals sehr verschlungenen Wege beschreiten. Es ist aber auch möglich, dass der junge Mann bloß von Wissensdurst getrieben war und, den Respekt vor dem Geheimnis vergessend, mit frecher Neugier hinter den Schleier trat. Und dies, so kann man es sehen, war seine Schuld.
Doch eine Seite seines jugendlichen Herzens war stärker als alles andere: er wollte das Letzte ‹jetzt› erfahren – selbst um den Preis der Gottverlassenheit und des Todes. Ebenso nahm er die Schuld auf sich, trotz des göttlichen Verbots, dem Drang nach Erkenntnis nachzugeben.
Der König sagte: Insofern war er wahrhaftig, seinem Alter und seiner Lebenszeit gerecht. Denn Jugend ist neugierig und ungeduldig; das muss so sein. Doch hier waren der Preis der Ungeduld und Neugierde (und vielleicht auch um der Ahnung willen) das ungelebte Leben und ein vorzeitiges Altern und früher Tod. Sie waren die Strafe für sein Übertreten des göttlichen Verbotes. Sein Schweigen bleibt ein Rätsel und verbirgt uns noch immer, was die einzige Wahrheit ist.
Es ließe sich die Sache aber auch so sehen: Der Priester steht für ein altes Weltbild, das einem Gläubigen und Gottesfürchtigen keine Fragen gestattet. Er ist einer, der glaubt, aber nicht wissen und erfahren will. Der Jüngling hingegen will das Überkommene nicht einfach glauben, er will wissen. Insofern ist das Argument der «Gottverlassenheit» die bloße Drohung eines Gläubigen und für jene, die erfahren und wissen wollen, kein echter Einwand, solange man nicht wirklich um das weiß, was sich hinter dem Schleier verbirgt. Und so bleibt auch der Grund für sein vorzeitiges Altern und Schweigen ein Rätsel.
Der König sagte: So ist es. Das Bildnis zu Saïs ist auch nach des Jünglings Schau für alle andern ein Rätsel, und