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Kolonisierung: Wie Ideen und Organismen neue Räume erschließen
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eBook374 Seiten7 Stunden

Kolonisierung: Wie Ideen und Organismen neue Räume erschließen

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Über dieses E-Book

Kolonisierung. Die wissenschaftliche Anthologie beginnt "klassisch" mit der frühneuzeitlichen Ausbreitung der Europäer und erschließt dem Begriff dann immer weitere Themenfelder. Es geht um erschlossene Landschaften und Räume, Erschließungswege, Erschließer (menschliche Gruppen oder andere Organismen) und ihre Ziele respektive Ideen. Insgesamt dreizehn Beiträge zur Biologie, Geographie, Geschichte, Politik, Kunst, Literatur, Religion und zum (Matreier) Brauchtum werden unter kulturethologischen Gesichtspunkten zusammenführt. Sie decken Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Verläufen von Kolonisierungsprozessen auf und fördern das Grundverständnis der permanenten (Re-)Kolonialisierung unserer Welt beziehungsweise ihrer realen wie virtuellen Teilräume.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Dez. 2016
ISBN9783743170131
Kolonisierung: Wie Ideen und Organismen neue Räume erschließen

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    Buchvorschau

    Kolonisierung - Books on Demand

    Gewidmet Herrn Prof. Dr. Gustav Reingrabner

    zur Vollendung des 80. Lebensjahres

    Im Auftrag des Matreier Kreises

    herausgegeben von

    Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Bernhart Ruso

    Inhalt

    Vorwort

    Gustav Reingrabner

    Aspekte der frühneuzeitlichen europäischen Kolonisationsbestrebungen – eine Skizze

    Hartmut Heller

    Die ‚Melioration‘ unserer deutschen Moore

    Roland Girtler

    Die Verbannung der Landler nach Siebenbürgen und deren Rückwanderung

    Daniel Zerbin

    Der Islam: Das egoistische Mem – Wie eine Religion die Welt erobert

    Kim Philip Schumacher

    Globalisierung von Ideen und Machtverhältnissen: Gender

    Bernhart RusoEvolutionäre Epidemiologie: Die Entwicklung von Ausbreitungsmustern von Erregern in Abhängigkeit von sich ändernden Umweltbedingungen

    Hans Winkler

    Wanderungen und Vielfalt

    Oliver Bender

    Die Alpen – eine kleine Geschichte von Migration und Kolonisierung

    Dagmar Schmauks

    Zwischen Terraformierung und genetischer Anpassung – Visionen der Weltraumkolonisierung in der Science-Fiction

    Max Liedtke

    Mission als Kolonisierung – Beispiele missionsgeschichtlicher Verläufe in evolutionstheoretischer und kulturethologischer Sicht

    Christa Sütterlin

    Stilraub – von kühnen Eroberern und bloßen Adepten

    Helga Bleckwenn

    Die Binnenkolonisation von Gebirgsregionen in der österreichischen Literatur des 19. Jahrhunderts

    Martin Tiefenthaler

    Mottinga Kleibeife – ein örtlich begrenztes Brauchtum mit grenzen- und zeitloser Bedeutung

    Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

    Vorwort

    Als das Tagungsthema ‚Kolonisierung‘ im Dezember 2014 zum Beschluss kam, waren sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Matreier Kreises der gesellschaftlichen Aktualität sehr wohl, aber noch nicht der besonderen politischen Brisanz bewusst. Das Fremdwort ‚Kolonisierung‘ bezeichnet laut einem Lexikon¹ die (1.) Besiedlung, Urbarmachung und Erschließung ungenutzten Landes im Ausland oder im Innern des eigenen Landes (als Binnenkolonisierung) mit (2.) dem Spezialfall der Eroberung oder dem Erwerb von Kolonien.

    Für die Matreier Gespräche haben wir den Begriff bewusst weiter gefasst, sehr wohl im Wissen, dass er in verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen gebräuchlich ist oder zumindest in Subsystemen der jeweiligen Disziplin verwendet wird: Zum Beispiel in der

    Ökologie: als Kolonisierung von Natur, Veränderung der Stoffkreisläufe und Aneignung der natürlichen Produktion durch den Menschen (Fischer-Kowalski et al. 1997);

    Biologie: als Bildung einer Population durch Gründerindividuen zum Beispiel auf Inseln (vgl. MacArthur & Wilson 1967);

    Soziologie (etwa bei Goffman 1961): als Anpassung eines Individuums an eine (totale) Institution;

    Geschichtswissenschaft: als Bildung von Kolonien zur Nutzung und Ausbeutung von ausländischen Ländern und Bevölkerungen (vgl. Osterhammel 1995);

    Physik: bei der Kolonisierung des Sonnensystems in Zusammenhang mit dem Fermi-Hart-Paradoxon (1950): Der weit verbreitete Glaube, es gäbe in unserem Universum viele technologisch fortschrittliche Zivilisationen, in Kombination mit unseren Beobachtungen, die das Gegenteil nahelegen, ist paradox und deutet darauf hin, dass entweder unser Verständnis oder unsere Beobachtungen fehlerhaft oder unvollständig sind (vgl. Hart 1975).

    Man kann auch die aktuelle weltpolitische, -ökonomische und soziodemographische Entwicklung in vielen Facetten unter dem Konzept der Kolonisierung betrachten:

    das sogenannte Land Grabbing, die Aneignung großflächiger Ländereien durch Großkonzerne oder deren Ableger mit Vertreibung der alteingesessenen bäuerlichen Bevölkerung (etwa für die Palmölproduktion unter anderem in Indonesien) (vgl. Pearce 2012);

    die Aneignung öffentlicher Güter und Einrichtungen, etwa der Wasserversorgung in vielen Regionen und Ländern (vgl. Swyngedouw 2003);

    das Gefügigmachen ganzer Länder durch ein vielfältiges politisches Instrumentarium von der Unterwanderung politischer Institutionen (zum Beispiel in der Ukraine) bis hin zur finanzpolitischen Erpressung (zum Beispiel Griechenlands), um sie für die westlichen Märkte zu erschließen und auszunutzen (vgl. Thoden & Schiffer 2014, Wehr 2016);

    die in der „Postdemokratie" durch Propaganda und Indoktrination zunehmende ‚Kolonisierung‘ von Gedanken und damit ganzen Zivilgesellschaften (vgl. Crouch 2003 und 2011),

    was letztlich alles auf Lewis Mumfords (1967/1970) ‚Megamaschine‘ hinausläuft, also die Einbindung von Menschen in eine umfassende hierarchische Organisation, einem von außen gesetzten Hauptzweck, der in der westlichen Gesellschaft eben die Maximierung von Profiten (Einzelner) darstellt.

    Aufgrund der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten, die alle auf einen gemeinsamen Kern verweisen – der Erschließung neuer Räume im engeren oder übertragenen Sinn – bietet sich der Begriff ‚Kolonisierung‘ ganz besonders für interdisziplinäre beziehungsweise kulturethologische Betrachtungen an. Die Referenten und Referentinnen haben das Themenangebot wie gewohnt in vielschichtiger Weise angenommen. So gab es bei den 41. Matreier Gesprächen vom 3. bis 7. Dezember 2015 vier Themenblöcke mit historischen, sozialen, biologischen und kulturellen Schwerpunkten, in denen viele Facetten des Begriffs ‚Kolonisierung‘ aufgegriffen und in einem übergeordneten Zusammenhang diskutiert werden konnten.

    Ergänzend zum ‚regulären‘ Tagungsprogramm fanden spezielle Veranstaltungen statt: Eine Exkursion führte zur archäologischen Stätte von Aguntum bei Lienz, die für die antike Besiedlung des Alpenraums und deren Eingliederung in die römische Herrschaft steht – und beim öffentlichen Abend im Kesslerstadl wurde dieser regionale Aspekt zu einer ‚kleine[n] Geschichte von Migration und Kolonisierung‘ in den Alpen ausgeweitet.

    Deren vorläufiges Ende führt uns schließlich zum brisantesten Thema des Jahres 2015 zurück, den Strömen von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen nach Europa (Luft 2016), die man einerseits als Folge neuer ökonomischer und politischer Kolonisierungsbestrebungen in ihren Herkunftsländern (siehe oben), aber andererseits auch als Schritt zu einer neuen Kolonisierung Europas auffassen kann (Ley 2015).

    Literatur

    Crouch, C. 2003: Postdemocrazia. (= Sagittari Laterza 141). Gius/Laterza. Roma. – Englisch: Post-democracy. (= Themes for the 21st century). Polity Press. Cambridge, UK 2004. – Deutsch: Postdemokratie. Aus dem Englischen von N. Gramm. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 2008.

    Crouch, C. 2011: The strange non-death of neoliberalism. Polity Press. Cambridge, UK. – Deutsch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II. Aus dem Englischen von F. Jakubzik. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 2011.

    Goffman, E. 1961: Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. Aldine. Chicago. – Deutsch: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Aus dem Amerikanischen von N. Lindquist. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1973.

    Fischer-Kowalski, M., Haberl, H., Hüttler, W., Payer, H., Schandl, H., Winiwarter, V., Zangerl-Weisz, H. 1997: Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonisierung von Natur. Ein Versuch in Sozialer Ökologie. G+B Fakultas. Amsterdam.

    Hart, M. H. 1975: An Explanation for the Absence of Extraterrestrials on Earth. – In: The Quarterly Journal of the Royal Astronomical Society 16 (2), 128–135.

    Ley, M. 2015: Der Selbstmord des Abendlandes. Die Islamisierung Europas. Hintergrund. Osnabrück.

    Luft, S. 2016: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen. (= C. H. Beck Wissen 2857). Beck. München.

    MacArthur, R. H., Wilson, E. O. 1967: The Theory of Island Biogeography. Princeton University Press. Princeton, NJ. – Deutsch: Biogeographie der Inseln. Aus dem Englischen übersetzt. Goldmann. München 1967.

    Mumford, L. 1967/1970: The Myth of the Machine. Vol. 1: Technics and Human Development. Vol. 2: The Pentagon of Power. Harcourt. New York, NY. – Deutsch: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Aus dem Englischen von L. Nürenberger. Europa. Wien 1974.

    Osterhammel, J. 1995 [⁷2012]: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. (= C. H. Beck Wissen 2002). Beck. München.

    Pearce, F. 2012: The Land Grabbers. The new fight over who owns the earth. Beacon. Boston, MA. – Deutsch: Land Grabbing. Der globale Kampf um Grund und Boden. Aus dem Englischen von G. Gockel und B. Steckhan. Kunstmann, München 2012.

    Swyngedouw, E. 2003: Privatising H2O – Turning Local Waters into Global Money. – In: Journal für Entwicklungspolitik 19 (4), 10–33.

    Thoden, R., Schiffer, S. (Hg.) 2014: Ukraine im Visier. Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen. Selbrund. Frankfurt a. M.

    Wehr, A. 2016: Der kurze griechische Frühling. Das Scheitern von SYRIZA und seine Konsequenzen. PapyRossa. Köln.

    Oliver Bender

    Zum Schluss bleibt wieder herzlich zu danken: der Gemeinde Matrei in Osttirol und der Familie Hradecky im Gasthof Hinteregger für die Gastfreundschaft, der Otto-Koenig-Gesellschaft und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern für die Ausrichtung der Tagung, dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften für das Lektorat des Bandes und vor allem den bei der Tagung referierenden Kolleginnen und Kollegen, die wiederum pünktlich ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.

    Innsbruck, im Oktober 2016

    Für das Herausgeberteam

    Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Bernhart Ruso


    ¹ www.wissen.de/fremdwort/kolonisation (Zugriff: 31.10.2016)

    Gustav Reingrabner

    Aspekte der frühneuzeitlichen europäischen Kolonisationsbestrebungen – eine Skizze

    1

    Das Wort ‚Kolonisation‘ ist abgeleitet von dem lateinischen Verbum colere, das ‚pflegen, bebauen‘ bedeutet. Ebenfalls von diesem Zeitwort ist der Begriff des ‚Kultus‘, damit aber auch der von ‚Kultur‘ abgeleitet. Dementsprechend versteht man unter ‚Kolonisation‘: etwas (einen Gegenstand, ein Stück Land o. a.) in Gebrauch nehmen, nützen. Über diese allgemeine Bedeutung hinaus wird der Begriff aber auch für eine Bewegung verwendet, durch die, beginnend mit dem späteren Mittelalter europäische (Macht-)Strukturen und Zivilisation (Kultur) in andere Erdteile ausgedehnt wurden. Man nahm eben dort ein Land für sich in Gebrauch und nützte es für die eigenen Bedürfnisse, auch wenn dieses durch ein Weltmeer getrennt war. An dem Vorgang waren vor allem westeuropäische Mächte beteiligt, und zwar in unterschiedlicher Intensität und zu verschiedenen Zeiten. Der Vorgang zog sich bis ins spätere 19. Jahrhundert hin und bezog nach und nach beinahe alle Kontinente der Erde ein.

    2

    Bei allen Unterschieden, die dabei sowohl durch die kolonisierenden Mächte, wie auch durch die kolonisierten Gebiete gegeben waren, gibt es doch grundlegende gemeinsame Aspekte, und zwar sowohl die Motive und Vorgangsweisen, wie auch die Ergebnisse betreffend. Auf derartige Aspekte soll nun in knappster Weise hingewiesen werden.

    3

    Gemeinsam ist allen den Unternehmungen, die zur europäischen Kolonisation gehörten, dass sie in den nun neu in Anspruch genommenen Gebieten die dort bestehenden sozialen und politischen Strukturen entweder ganz beseitigten oder aber wenigstens in ihrer Souveränität erheblich einschränkten, indem Beauftragte einer europäischen Macht, die sich nunmehr als Besitzer (Oberherrschaft) dieses Gebietes betrachtete, dort mindestens die grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen trafen, die nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet waren, dass sie (die durchaus nicht unbedingt einheitlichen) Interessen der europäischen ‚Kolonialmacht‘ in den Vordergrund stellten, was gelegentlich in einer Weise geschah, durch die die Interessen des kolonisierten Gebietes und seiner Bewohner gröblich und auch brutal missachtet wurden.

    4

    Dass es zu dieser Ausweitung europäischer Kultur und Macht gekommen ist, hatte in Europa eine Reihe von Voraussetzungen, die sich im Verlauf des hohen und späteren Mittelalters herausgebildet hatten. Sie sind zugleich bezeichnend und bestimmend für verschiedene Aspekte der dann aufgenommenen Kolonisationsbewegung.

    5

    Das System der Staaten, das sich in West- und in Mitteleuropa nach dem Ende des (West-)Römischen Reiches herausgebildet hatte, wozu schier unzählige bewaffnete Auseinandersetzungen erforderlich waren, hatte nunmehr ein gewisses Maß an Stabilität erlangt. Auch wenn es nach wie vor Streit und Kämpfe um Gebiete in Europa, aber auch um Machtstrukturen und Abhängigkeiten gegeben hat, so war das Staatensystem nunmehr doch so gefestigt, dass mit solchen Auseinandersetzungen nur mehr ausnahmsweise Geschehnisse verbunden waren, die einzelne Mächte oder gar das ganze System bedrohten, beziehungsweise in Frage stellen konnten.

    6

    Das war im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa – auch abgesehen von anderen Vorgängen – nicht in analoger Weise der Fall. Hier stand ein Teil des Staatensystems seit dem späteren 14. Jahrhundert in einem erbitterten und lang anhaltenden Abwehrkampf gegen die Expansion der türkischen Macht, der 1453 das Oströmische Reich erlag und die erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts in einer Weise abgeschlossen werden konnte, durch die die bis dahin zum Teil durchaus existenzbedrohenden Auseinandersetzungen ihre Bedeutung verloren und Kräfte für andere Aufgaben frei werden ließen.

    7

    Zusammen mit der vor allem im Westen gegebenen Stabilisierung der Machtverhältnisse, für die etwa die Eroberung von Granada durch die Königreiche Kastilien und Aragonien im Jahr 1492 bedeutsam war, weil sie endlich die auf der Iberischen Halbinsel durch einige Jahrhunderte hindurch dauernden Kämpfe beendete, die 711 mit der Zerstörung des Westgotenreiches durch die Araber begonnen hatten, erfolgte eine allmähliche Änderung des Verständnisses der politischen Strukturen. Der mittelalterliche Personenverbandsstaat, der auf der Gefolgschaftstreue von Menschen beruhte, die in einem abgestuft-hierarchischem System gegeben war, wandelte sich nach und nach zum Flächenstaat, auch wenn bestimmte Formen des früheren feudalen Systems noch lange vorhanden waren und das staatliche und öffentliche Leben weiterhin mitbestimmten. Das war eine der Verlaufsformen, die dafür sorgten, dass aus dem feudalen Staat eben nicht unmittelbar und direkt der moderne Staat geworden ist. Aber auch die Formen des frühmodernen Staates, die sich von West nach Ost (generell gesprochen) ausbreiteten, gaben dem System neuen Inhalt und sorgten für eine Versteifung der Strukturen.

    8

    Die Etablierung der gesellschaftlichen Ordnungen war so weit fortgeschritten, dass es zur Ausbildung von zahlreichen ritualisierten Formen gekommen ist, die sowohl Äußerlichkeiten, wie Symbole, wie auch innere Haltungen anbetrafen. Auch das war ein deutliches Zeichen für die Tendenz zur Perpetuierung und Verfeinerung der Machtstrukturen.

    9

    Diese umfassten nunmehr den gesamten in Westeuropa und im westlichen Mitteleuropa vorhandenen geographischen Raum. Das bedeutete, dass die Ausbreitung, also Verdichtung und Vergrößerung einer der bestehenden Mächte nur mehr auf Kosten einer oder mehrerer anderer bestehender politischer Größen (Königreiche und Länder) vor sich gehen konnte. Das begrenzte die bestehenden Möglichkeiten für die Vergrößerung von Macht und Herrschaft.

    10

    Denn das Streben nach Ausweitung der den Inhabern der Macht zur Verfügung stehenden Mittel war groß. Nunmehr ging es auch nicht mehr nur um neue Gefolgsleute, sondern unmittelbar um Landbesitz, und zwar in einem nicht geringen Ausmaße. Erfolgreiche Träger der Macht wurden mit dem Titel Imperator belegt, was in deutschen Urkunden regelmäßig als ‚Mehrer des Reiches‘ übersetzt wurde. Das bedeutet, dass die Ausdehnung der Macht als erstrebenswert und überaus bedeutsam angesehen wurde, sodass man darin einen besonderen Teil der Ehre eines Herrschers sah.

    11

    Die Festigung der politischen Strukturen, die ja nicht nur den Bestand der Herrschaft, sondern auch deren sinnvolle und geordnete Verwaltung (einschließlich der Einkünfte) beinhaltete, hatte aber auch in anderen Lebensbereichen Auswirkungen, die sich für die Kolonisationsbemühungen als nicht unwichtig erwiesen. Das galt insbesondere von der Art und den Möglichkeiten der Kriegsführung. Dabei war es zur – wieder nur langsam, insgesamt aber folgerichtig – vor sich gehenden Ablöse der alten Kampfweisen und kriegerischen Strukturen gekommen. Um es ganz knapp auszudrücken: An die Stelle des Ritters, der für sich selbst eine soziale Stellung und eine militärische Bedeutung besaß, trat der Söldner und Landsknecht. Damit er aber seine Aufgaben, die nun nicht mehr individuell, sondern in der ‚Einheit‘ erfüllt werden mussten, wahrzunehmen imstande war, entstanden schon bald zahlreiche Anweisungen, wie er seine Kraft und Geschicklichkeit im Kampf einsetzen konnte. Derartige Exerzierbücher waren seit dem beginnenden 16. Jahrhundert nicht selten und fanden weite Verbreitung.

    12

    Es erfolgte aber auch eine beinahe ständige Verbesserung oder Veränderung der militärischen Technik. Die Konstruktion wirklich brauchbarer Feuerwaffen aller Kaliber stellte nicht nur die bisherige Festungsbauweise in Frage, sondern veränderte auch den Verlauf der offenen Feldschlachten. Dabei kann nicht von einem einmal erfolgten und dann unverändert gebliebenen Bruch die Rede sein, sondern von einer seit dem 14. Jahrhundert vor sich gehenden und nicht mehr beendeten fortlaufenden Entwicklung, die die Effektivität, also den ‚Kampfwert‘ der eingesetzten Soldaten immer weiter erhöhte. Diese Erhöhung dessen, was man oft ‚Schlagkraft‘ nennt, erwies sich in den kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa, und erst recht in Übersee als entscheidend.

    13

    Insgesamt aber hatte auch die Technik einen Standard erreicht, wie er – mindestens seit dem Ende des (West-)Römischen Reiches – nicht mehr gegeben war. Das bezog die Schiffbautechnik ebenso ein, wie die Konstruktion von Gegenständen, die aufgrund der nunmehr bekannten Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Mechanik hergestellt werden konnten. Es gelang nunmehr, nicht nur hochseetaugliche Schiffe in größerer Anzahl zu bauen, sondern auch solche, die auf ihren Fahrten beachtliche Ladungen transportieren konnten. Und zu dieser Ladung konnten Soldaten und Kanonen ebenso wie Lebensmittel gehören.

    14

    Diese Verbesserung der (See-)Fahrzeuge verband sich mit Möglichkeiten, auf hoher See die Orientierung zu behalten. Noch gab es keine Seekarten, die in ihren Darstellungen über die nordafrikanische Atlantikküste hinaus reichten, aber aufgrund der Notizen der Seefahrer konnte man schon bald solche zeichnen. Und man wusste nunmehr auch zwischen Indien und einem neuen Kontinent zu unterscheiden, den man nach dem Vornamen eines der damaligen Geographen bald schon als ‚Amerika‘ bezeichnete. Bereits im Jahre 1494 kam es zu einem ersten päpstlichen Schiedsspruch, der die ‚Neue Welt‘ zwischen den beiden damals führenden Seefahrerländern Portugal und Spanien aufteilte – dabei war ein Meridian die Grenze.

    15

    Trotz der Bevölkerungseinbußen des 14. Jahrhunderts, in dem in Europa zum ersten Mal die Pest auftrat (was immer mit dieser Bezeichnung gemeint sein mochte), stand in diesem Kontinent eine Bevölkerung zur Verfügung, die sich ausbreiten wollte und konnte. In einigen Teilen West- und Mitteleuropas war die Bevölkerungsdichte schon so groß, dass – angesichts der begrenzten Erträge der Landwirtschaft – neuer Siedlungs- oder Tätigkeitsraum benötigt wurde.

    16

    Dazu kamen die Wissbegierde und der Unternehmensmut einzelner Personen. Das mochten – wie in Portugal – königliche Prinzen sein, das mochten anderswo Personen sein, die aus dem Mittelmeer die Seefahrt kannten, ebenso aber auch die Geschichten von Ländern, in denen es Gold und Silber gab und in denen wertvolle Naturprodukte wie Gewürze wuchsen. Trotz der unterschiedlichen Standeszugehörigkeit verbanden sich bei diesen Personen Kenntnisse, Wagemut und Neugierde, wobei fast immer ein Streben nach Macht, Reichtum und Wissen im Hintergrund stand. Und sie verfügten entweder selbst oder erhielten durch hohe Mäzenate die Möglichkeit, ihre Vorstellungen zu testen.

    17

    Nicht ohne Bedeutung war in diesem Zusammenhang, dass sich die europäische Philosophie, die seit dem 11. und 12. Jahrhundert eine Basis für das theologische Denken darstellte und daher auch die kirchlichen Ideen beherrschte, infolge der immer diffiziler gewordenen Überlegungen als ausgefüllt empfunden wurde. Damit begann die Suche nach Möglichkeiten und die Rezeption neuer Ideen. Viele von ihnen suchten zwar an ältere, also klassische Vorstellungen anzuknüpfen, waren aber doch insgesamt eher nach vorne orientiert. Diese Suche, Neues zu finden und Neues zu gestalten, zeigte sich in vielen Bereichen des kulturellen und geistigen Lebens und bestimmte sowohl manche Verhaltensweisen wie auch das Lebensgefühl. Es wurde also nicht mehr nur bisher bereits Bekanntes wiederholt, sondern vor allem nach Neuem gesucht, das über die bisherigen Kenntnisse und Vorstellungen hinausging. Der Blick wurde gewissermaßen von innen nach außen, von rückwärts nach vorne gelenkt. Und es blieb nicht bei bloßen Vorstellungen und Überlegungen. Das Neue wollte man auch finden, erleben und erkennen.

    18

    Die für die Geschehnisse in Europa nach wie vor bedeutsame Theologie lieferte erstaunlicherweise mindestens bis ins 17. Jahrhundert hinein immer noch massive Anstöße für die Kolonisationsbestrebungen, bildete im Katholizismus aber auch einen diese tragenden Motivationshorizont. Diese Impulse setzten schon sehr bald ein, und zwar vor allem dann, als man entdeckte, dass in anderen, gewissermaßen neu entdeckten Teilen der Erde Menschen wohnten,

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