Erziehen und Gesellschaft: Reflektionen über Freiheit und Zusammenhalt
Von Jürgen Petersen
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Über dieses E-Book
Neben Wissen und Können sind Temperament und Charakter entscheidend für verantwortungsvolles Handeln. Die Möglichkeit von Einhegung des Temperamentes und Charakterbildung durch Erziehen stehen im Mittelpunkt dieses Essays. Erziehungs- und Entwicklungsziel für alle Heranwachsenden muss es sein, dass sie die Möglichkeiten, die in ihnen angelegt sind, für ein »glückendes Leben« verwirklichen können. Unter dem Imperativ »Das Denken erweitern« ergeht die Aufforderung, sich vom Mainstream zu lösen, um allen Mitgliedern unserer Gesellschaft, auch den mehr praktisch als abstrakt veranlagten, würdige Lebens- und Arbeitsperspektiven zu eröffnen.
Jürgen Petersen
1950 in Heidelberg geboren, wurde ihm 1980 von der Naval Postgraduate School in Kalifornien / USA der Titel Master of Science in Operations Research zuerkannt. In der Folge verfertigte er zahlreiche Analysen und legte vielfach Gestaltungsvorschläge sowohl in seinem beruflichen Umfeld als auch zum allgemeinen gesellschaftspolitischen Diskurs vor. Seit seinem Ruhestand veröffentlicht er Lyrik, Essay und Prosa. Der Autor ist verheiratet und hat vier Kinder.
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Buchvorschau
Erziehen und Gesellschaft - Jürgen Petersen
Weisband
Teil 1
Mensch und Sozietät
Kapitel 1 Von Marina Weisband bis Freiheit
Von Marina Weisband bis Freiheit
Zeitgemässe Demokratie; Internet mit Kommentarfunktion; Netzneutralität; Verhalten in der Anonymität; Bildung und Erziehung; Freiheit und Verantwortung
Die Jungpolitikerin Marina Weisband¹) verfasste im Jahr 2013 im Alter von 24 Jahren ihr Buch »Wir nennen es Politik«. Sie hatte in der »Piratenpartei« bis 2012 für etwa ein Jahr das Amt der Politischen Geschäftsführerin inne. Sie stellt in ihrem Buch mit dem Untertitel »Ideen für eine zeitgemässe Demokratie« fest, dass wir heutzutage in fast allen Lebensbereichen die Möglichkeit haben, uns selbständig zu informieren, freie Entscheidungen zu treffen und unsere Meinungen direkt zurückzumelden. Für viele sei es zur Gewohnheit geworden, überall und jederzeit Berichte zu lesen oder selbst Kommentare zu hinterlassen. In ihrem Buch hebt sie hervor, dass eine bestechende Eigenschaft von Nachrichten über das Internet darin liegt, sie kommentieren zu können. Die junge Generation, der sich Marina Weisband selbst zurechnet, gehe mit der Gewohnheit durch die Welt, Fragen zu stellen und Berichte zu kommentieren.
Im weiteren Verlauf ihres Buches beschreibt Marina Weisband ihre Erfahrungen über den Umgang miteinander und stellt fest, dass die Voraussetzung zum gelingenden politischen Miteinander Bildung sei. Bildung, sagt sie weiter, müsse unbedingt besser werden. Ihre Schilderungen des menschlichen Umganges im Einzelnen — und während ihrer Amtszeit insbesondere auch mit ihr persönlich — lassen den Schluss zu, dass sie, wenn sie Bildung sagt, eigentlich eher Kritik am Verhalten der Mitmenschen übt als an deren Wissen. Damit spricht sie im Kern mehr von Erziehung als von Bildung.
Der Umgang zwischen Menschen untereinander ist eine Frage des Charakters jedes Einzelnen und wir erleben nirgendwo mehr Charakterlosigkeit auf engstem Raum als gerade bei der Nutzung von Kommentarfunktionen in digitalen Medien. Sich im Internet anonym bewegen zu können, lädt ein, sich gegenüber Mitmenschen absichtlich unwahr oder gar infam zu verhalten, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen.
Netzneutralität ist ein modernes Schlagwort. Sie wird als ultimatives Argument gegen vermeintliche Unfreiheit eingesetzt. Freiheit steht hierbei für ein ungebundenes Ausleben aller Neigungen. Im realen Lebens- und Berufsumfeld, also außerhalb der Cyberwelt, sanktioniert die Gesellschaft Verhalten, das für die Sozietät schädlich ist. Im Netz sanktioniert sie bisher kaum.
Forderungen nach Netzneutralität, Netzanonymität und Freiheit in der virtuellen Welt sind durchaus berechtigt. Aber über die negativen Auswirkungen des Netzes wird - außer unter der sozialen Problematik der Vereinzelung und der Sucht - wenig gesprochen. Sie werden stattdessen schweigend ertragen. Dass es sich beim Internet bislang um einen weitgehend rechtsfreien Raum handelt, wo Verantwortlichkeit wenig bedeutet, und um eine Sphäre des Lebens, wo es gerade auf den Charakter des Menschen ankommt, darüber wird geschwiegen.
Die Bedeutung von Charakter für die verantwortungsvolle Nutzung von sozialen Netzwerken, in denen sich zum Beispiel viele Heranwachsende bewegen, wird kaum thematisiert. Man ist der Meinung, es lässt sich sowieso nicht steuern. Über die sehr weitgehende Möglichkeit von Charakterbildung durch Erziehen während des Heranwachsens wird nirgendwo diskutiert. Marina Weisband hat letztlich »eine Lanze gebrochen« für Charakterbildung und Erziehung.
»Freiheit« und »Verantwortung« sind Begriffe, die wie zwei Seiten einer Münze zusammengehören. Freiheit ist nur mit Verantwortung erträglich. Freiheit kann nur gelebt werden, wenn jeder bereit ist, für die Ergebnisse seines freien Willens, das heißt für die Ergebnisse seines Denkens und Verhaltens, die Konsequenzen zu tragen. Es muss gesellschaftstragendes Erziehungs- und Entwicklungsziel sein, alle jungen Menschen zu befähigen, das eigene Leben zu »meistern«. Denn ihr Handeln prägt zukünftig ihr eigenes Lebens- und Berufsumfeld mit. Und die Herangewachsenen werden es sein, die unsere Demokratie in Zukunft gestalten.
Aktuell gibt es immer wieder Diskussionen darüber, wie frei und selbstbestimmt der Mensch überhaupt sein kann. Deswegen soll zu Beginn der Frage nachgegangen werden, wie viel Freiheit dem Menschen bei seiner molekularen und genetischen (Vor-)Bestimmtheit tatsächlich bleibt, wie viel neurobiologischer Anteil bei ihm Freiheit ausmacht und welche Bedeutung dies für sein Leben, vor allem für sein Entwicklungspotential »von klein auf«, haben könnte.
Weitere Fragen, die sich daran anschließen, sind: Wie könnte, wie sollte eine Entwicklung aussehen, die die vorhandenen Freiheitsgrade des Menschen schon beim Heranwachsen und dann darüber hinaus nutzt? Welche Verantwortung hat bei diesem Entwicklungsprozess gar der Heranwachsende selbst? Auf welche Verantwortung im Lebens- und Berufsumfeld sollte er vorbereitet sein? Welcher Weg sollte ihm deshalb aus erzieherischer Sicht gezeigt werden? Welchen Anteil können persönliches Temperament, persönlicher Wille und persönlicher Charakter an diesem Prozess haben beziehungsweise welche Bedeutung kommt ihnen tatsächlich bei diesem Prozess zu?
Es geht danach darum, wie erfolgversprechendes Erziehen zu Verantwortung und damit zu persönlicher Freiheit aussehen könnte. Was wären Erziehungsgrundsätze, falls sich aus diesen Überlegungen überhaupt welche ergeben? Wie wären sie in unserer Gesellschaft umsetzbar und was können sie auf Dauer gesehen für die Entwicklung unserer Gesellschaft bedeuten?
Dies sind wahrhaft viele Fragen, die in den nachstehenden Kapiteln behandelt werden sollen. Die abschließende Frage wird dann sein: Wenn alles Denkbare für das Erziehen zu Verantwortung durchgesprochen ist, gibt es dann noch Weiteres zu Bedenken? Zum Beispiel in welchem Zustand befindet sich die Sozietät, wenn die Herangewachsenen aktiv und eigenverantwortlich in sie eintreten? Hat die Sozietät alles dafür getan, um für die Erwachsenen ein Leben und Arbeiten in Würde zu ermöglichen? Sollte das nicht der Fall sein, dann müssten die notwendigen, ausstehenden Veränderungen zusammengetragen, aufgeführt und erläutert werden.
Denn es wäre schlimm, wenn die Sozietät vom Heranwachsenden Einordnung verlangt, aber am Ende des Erziehungsprozesses findet sich der Herangewachsene in einer Sackgasse wieder. Die Sackgasse heißt Alimentierung. Dies ist dann eine Situation, in der er die Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind, entweder nur unter Wert oder vielleicht gar nicht einbringen kann. Dann müssen wir, die Erwachsenen von heute, uns rechtfertigen, warum wir das uns von der Jugend entgegengebrachte Vertrauen so missbraucht haben.
Kapitel 2 Von Autonomie bis Sozietät
Von Autonomie bis Sozietät
Molekulare Autonomie; Möglichkeiten und geglücktes Leben; Tugenden; Rückbezüglichkeit; Operationelle Geschlossenheit; Grenzen des Wahrnehmens und Verstehens; Ethik; Meine-Deine Wirklichkeit; Beziehung als Abgleichen von Wirklichkeiten; Sozietät und Rangordnung
Der Mensch ist molekular konstituiert und er sucht lebenslang nach seinem Glück. Aristoteles nannte Tugend als den Weg zur Glückseligkeit und verstand unter »Glückseligkeit« ein »geglücktes Leben«. Der Neurologe Raphael M. Bonelli²) hält ein »geglücktes Leben« dann für erreicht, wenn ein Mensch die Möglichkeiten verwirklicht hat, die in ihm angelegt sind. In diesem Essay wird diese Formel als Imperativ aufgefasst. Erziehe so, dass jeder Herangewachsene die Voraussetzungen für ein weiterhin glückendes Leben in sich trägt.
Es geht in diesem und dem nächsten Kapitel um die Frage, ob das, was »Möglichkeiten verwirklichen« suggeriert, nämlich sich frei für oder auch gegen seine Möglichkeiten entscheiden zu können, ob dem Menschen bei seiner grundlegenden molekularen Konstitution diese Freiheit überhaupt gegeben ist. Wenn sie dem Menschen gegeben ist, dann muss es gemeinsame Zielsetzung sein, dass alle Heranwachsenden die besten Chancen erhalten, im Sinne von Bonelli ein für sich geglücktes Leben erreichen können.
Über die Tugenden selbst, die seit der Antike unter den vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß bekannt sind, soll hier nicht gesprochen werden, da den Menschen in unserer heutigen Zeit und Gesellschaft diese Tugenden als Worte durchaus bekannt, aber als Begriffe in ihrer Bedeutung und ihrem gesellschaftlichen Wert nicht gleichermaßen verständlich sind.
Der erste Untersuchungsansatz baut darauf auf, dass gemäß dem Neurowissenschaftler Francisco Varela³) der Mensch, der als Ganzes Autonomie besitzt, molekular aus Teilbereichen konstituiert ist, die alle auch schon Autonomie besitzen. Autonomie bedeutet etwas Lebendes im Gegensatz zu unbelebter Materie, zu natürlichen oder von Menschen geschaffenen Artefakten. Autonomie kommt überall in der Natur in