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Im Inneren der Bauverwaltung: Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten
Im Inneren der Bauverwaltung: Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten
Im Inneren der Bauverwaltung: Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten
eBook545 Seiten5 Stunden

Im Inneren der Bauverwaltung: Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten

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Über dieses E-Book

Wer macht eigentlich unsere Siedlungslandschaft? Diese Frage wird von Städtebauer_innen sowie Planer_innen meist beantwortet, indem sie sich selbst ins Zentrum stellen. Jedoch zeigen nicht nur umstrittene Großprojekte wie die Hamburger Elbphilharmonie oder der Berliner Flughafen, dass hierbei auch die Bauverwaltung eine in ihrer Wirkmacht oft unterschätzte Rolle spielt - sie ist es, die im Modus des Erteilens von Baugenehmigungen aktiv in das Leben und in die gebaute Umwelt eingreift.
Abseits allfälliger Klischees wendet sich Michaela Schmidts Studie Bauprojekten in Schweizer Gemeinden und Kleinstädten zu, um dem Einfluss von Verwaltungen im Alltäglichen auf den Grund zu gehen und die realen Zusammenhänge und Wirkungen von städtebaulichen, politischen und administrativen Prozessen sichtbar zu machen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Okt. 2016
ISBN9783732833337
Im Inneren der Bauverwaltung: Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten
Autor

Michaela Schmidt

Michaela Schmidt (Dr. sc. ETH), geb. 1983, ist seit 2010 Nachwuchswissenschaftlerin am ETH Wohnforum - ETH CASE der ETH Zürich, Departement Architektur. Die Architektursoziologin forscht an der Schnittstelle zwischen gebauter Umwelt und Gesellschaft.

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    Buchvorschau

    Im Inneren der Bauverwaltung - Michaela Schmidt

    I. Konzeption der Studie

    Videostill 1: Vorstellung des Forschungsvorhabens, Korpus 3, 00:06:34.

    1.1 FORSCHUNGSZIELE UND FORSCHUNGSFRAGEN

    1.1.1 Forschungsziele

    Das bisher wenig erforschte Gebiet der Bauverwaltungen legt einen explorativen, gleichsam qualitativen Zugang nahe. Der Fokus liegt auf einem Querschnitt und einer tiefgründigen Betrachtung der Arbeitspraktiken von Bauverwaltung, d.h. deren Methoden und Prozesse zur Begleitung, Beurteilung und Bewilligung von Bauprojekten. Diese interessieren in ihrer Breite, ihren Ausprägungsformen und ihrer situativen Anwendung. Ziel des explorativ angelegten Projektes ist es:

    die Wirkmacht und Eigenlogik administrativer Prozesse von Bauverwaltungen auf Bauprojekte zu erforschen.

    im Zuge dessen die Gemeinde resp. Bauverwaltung, die im aktuellen städtebaulichen Diskurs als Anti-Urbanitäts-Molekül (Diener et al. 2, Kap. 2.2.4) verstanden wird, zu repositionieren.

    den Zusammenhang und die Wechselwirkung zwischen Verwaltung und Städtebau im Spiegel der administrativen Praxis herauszuarbeiten.

    die Gemeindeforschung hin zu einer Gemeindewirkungsforschung zu erweitern, um nicht nur aufzuzeigen, was eine Gemeinde/Verwaltung ist, sondern vor allem um zu zeigen, wie diese wirkt.

    einen Beitrag zur Erweiterung der ethnographischen gleichsam praxeologischen Perspektive der trans-sequentiellen Analyse zu leisten. Diese wird einerseits thematisch um das Thema der Wirkmacht von administrativen Prozessen erweitert, anderseits methodisch durch den Einsatz der Videokamera bereichert.

    Es gilt, Grundlagen für das Verständnis der administrativen Praktiken und der Arbeit am Bauprojekt zu schaffen und damit einen originären Beitrag in der sozial- und kulturwissenschaftlichen (Architektur-)Forschung zu leisten – insbesondere, weil diese Studie erstmals Einblicke in den administrativen Apparat von schweizer Bauverwaltungen gibt und den Zusammenhang zwischen Verwaltung und Städtebau aufzeigt. Dieser wurde bisher selten thematisiert und jüngst aus Perspektive des Städtebaus eher kritisch betrachtet (Kap. 2.2), da die Gemeinde/Bauverwaltung tendentiell als störende Einflussgröße auf die Entwicklung der Siedlungslandschaft begriffen wird. Dieser Tatbestand wird vor dem Hintergrund, eine qualitativ hochstehende Siedlungsentwicklung vorantreiben zu wollen, untersucht und repositioniert.

    Zudem treibt die Arbeit nicht nur den theoretischen und wissenschaftlichen Diskurs auf dem Gebiet der Architekturforschung voran, sondern auch die praxeologische Forschungshaltung der trans-sequentiellen Analyse (TSA). Diese bietet sich als Bindeglied zwischen etablierten Konzepten aus Organisationssoziologie/Verwaltungswissenschaften und der ethnographischen Untersuchung politischer oder administrativer Prozesse an. Mit ihr lassen sich Arbeitspraktiken institutioneller Settings adäquat erforschen, sodass der Architekturforschung eine Perspektive offeriert wird, welche die komplexen Voraussetzungen der institutionellen Teilnahme sowie die praktische Arbeit und Orientierung der Teilnehmenden (am Bauprojekt) ernst nimmt.

    Die TSA wird im Zuge dessen um die Dimension der Wirkmacht administrativer Prozesse und die Stärkung der materiellen Einflussgrößen in Theorie und Praxis erweitert. Dieserart wird es möglich, sowohl die kollektive administrative Arbeit am Bauprojekt offenzulegen, als auch die vielfältigen Übersetzungsleistungen und Veränderungen, denen Bauprojekte im Zuge des Prozesses ausgesetzt sind.

    Dadurch leistet die Arbeit Grundlagenforschung und trägt zu einem tief greifenden Verständnis einer bisher wenig beachteten, aber wesensimmanenten Dimension im Bereich der Siedlungsentwicklung bei: der Bauverwaltung und deren administrativen Praktiken. Im komplexen Netzwerk der Siedlungsentwicklung (Politik, Planung, Wirtschaft und Gesellschaft) bedeutet dies einen erheblichen Zugewinn an Wissen um administrative Prozesse und den Zusammenhang zwischen Verwaltung und Städtebau. Dieses Wissen liefert Erklärungen für das derzeitige Siedlungsgefüge und die fortschreitende Zersiedelung der Landschaft. Zugleich wird durch die in der Dissertation vollzogene Re-Positionierung der Gemeinde/Bauverwaltung weniger als störende Dimension, denn als relevante und aktive Einflussgrösse, eine Grundlage für die Umsetzung qualitativ hochstehender Siedlungsentwicklung geschaffen.

    1.1.2 Forschungsfragen

    Im Zentrum der Dissertation stehen fünf Hauptfragen, die sich in vielfältige Neben- und Teilfragen auffächern. In ihrem Kern unterstützen sie die Hauptfragen und bereiten im Zuge der Analyse von administrativen Arbeitsprozessen den Weg zur Theoretisierung der administrativen Praktiken. Die ersten drei Hauptfragen beziehen sich auf die inhaltliche Dimension des Untersuchungsthemas. Die vierte Frage zielt auf die theoretische Ebene ab und die fünfte Frage schließlich auf die Methoden zur Untersuchung von Bauverwaltungen und deren administrativer Prozesse.

    Nachfolgend werden die fünf Forschungsfragen mit ihren Unterfragen zur Erreichung der Forschungsziele (siehe oben) aufgelistet:

    1. Welche Methoden und Prozesse brauchen Bauverwaltungen, um Bauprojekte zu begleiten, zu beurteilen und zu bewilligen?

    Wie befördern die Mitarbeitenden der Bauverwaltung Bauprojekte durch die administrative Maschinerie?

    Welche sozio-materiellen Infrastrukturen sind für die Arbeitsprozesse von Nöten bzw. welche architektonischen und materiellen Infrastrukturen rahmen bzw. resultieren aus der administrativen Praxis? Was geschieht an den unterschiedlichen Orten der Bauverwaltung?

    Welche Rolle spielt das gesetzlich normierte Bewilligungsverfahren, dessen Normen und Regeln im administrativen Alltag?

    Welche Eigenlogik liegt den administrativen Praktiken zu Grunde?

    Wie wird der Arbeitsalltag konkret gestaltet? In welchem Verhältnis stehen einzelne Arbeitsepisoden (Sitzungen, Sprechstunden, Büroarbeit) und der Bewilligungs-/Fertigungsprozess? Wie wird ein Fertigungsprozess angestoßen resp. beendet? Wie wird an Vergangenes angeknüpft und auf Künftiges verwiesen?

    Welchen Beitrag leisten die einzelnen Arbeitssessionen zur Beförderung eines Bauprojektes?

    Wie gestaltet und vollzieht sich die praktische Kooperation innerhalb und außerhalb der Verwaltung (etwa zwischen Bauverwaltung, Bauherrinnen/Bauherrn und Architektinnen/Architekten)?

    2. Wie bzw. inwiefern werden Bauprojekte im Zuge der administrativen Arbeit formuliert resp. re-formuliert?

    Wie wird ein Projekt in das Bauamt eingespeist? In welchem Zustand befindet es sich? In welchem Zustand verlässt es die Verwaltung?

    Welche Teile des Netzwerks werden aktiviert?

    Was wird jeweils am Bauprojekt befestigt?

    Wie werden Dokumente, Pläne und sonstige visuelle und administrative Werkzeuge gebraucht?

    Was wird jeweils wie am Bauprojekt befestigt (Argumente, Konzepte)?

    Was bedeutet das Durchlaufen der administrativen Prozesse für die Bauprojekte (Bedingungen/Konsequenzen)?

    3. Wie wirken die administrativen Praktiken auf Bauprojekte resp. die gebaute Umwelt und ist im Zuge der identifizierten Wirkmacht eine Re-Positionierung der Gemeinde angebracht?

    Welche Wirkmacht fällt der Gemeinde/Bauverwaltung zu? Welche wird ihr zugeschrieben? Wie äußert sich diese in der administrativen Praxis? Welche Auswirkung hat die Wirkmacht und mit ihr die administrative Praxis auf die Siedlungslandschaft?

    Welches Rollenverständnis von Gemeinde resp. Bauverwaltung ist im derzeitigen städtebaulichen Diskurs verankert? Inwiefern wird die Gemeinde/Bauverwaltung im städtebaulichen Diskurs als aktive Einflussgröße wahrgenommen? Ist eine Re-Positionierung angebracht?

    Inwiefern wird während der administrativen Arbeit auf den materiellen Kontext und die städtebauliche Situation Bezug genommen?

    Wie muss die Gemeinde/Bauverwaltung verstanden werden, um eine qualitativ hochstehende Siedlungsentwicklung zu befördern? Sollte sie im städtebaulichen Diskurs repositioniert werden (Aufgaben, Ziele, Handlungen)?

    4. Greifen die Konzepte von Verwaltungswissenschaften und Organisationssoziologie zu kurz, um die Wirkmacht und Eigenlogik der administrativen Praktiken auf Bauprojekte zu untersuchen?

    Wie müssen die Konzepte von Verwaltungswissenschaften und Organisationssoziologie erweitert werden, um die Eigenlogik und Wirkmacht von Bauverwaltung zu untersuchen?

    Welche Implikationen ergeben sich für die etablierten Konzepte der Untersuchung von Bauverwaltungen durch den erweiternden Einbezug einer ethnographischen Perspektive?

    Kann die ethnographische Perspektive der trans-sequentiellen Analyse (TSA) mit ihrem besonderen Fokus auf Ereignis-Prozess-Relationen als Bindeglied zwischen den etablierten Konzepten sowie als deren Erweiterung zur Untersuchung der Wirkmacht von administrativen Prozessen die theoretische Lücke schließen?

    Welche Konsequenzen ergeben sich für die TSA aus deren Anwendung zur Untersuchung administrativer Prozesse von Bauverwaltungen? Inwiefern wird im Lichte der Stärkung der materiellen Dimension bei der ethnographischen Erforschung der Bauverwaltung das methodische Spektrum der TSA erweitert?

    5. Welche methodischen Herangehensweisen sind vor dem Hintergrund der ethnographischen Perspektive der trans-sequentiellen Analyse (TSA) angebracht, um den Gegenstand der Bauverwaltung und deren Wirkmacht adäquat zu untersuchen?

    Wie wird der Feldzugang zum institutionellen Setting der Bauverwaltung hergestellt? Welche Besonderheiten sind zu beachten (Kontaktpersonen, ethische Richtlinien)?

    Wie lassen sich die administrativen Methoden und Prozesse sowie deren Eigenlogik und Wirkmacht auf Bauprojekte hinreichend beobachten und dokumentieren? Welche methodischen Werkzeuge sind zur ethnographischen Erforschung der administrativen Prozesse zu wählen?

    Wie kann die Methode der teilnehmenden Beobachtung im Feld der Bauverwaltung gewinnbringend eingesetzt werden? Wie wird die eigene Rolle während der teilnehmenden Beobachtung in der Bauverwaltung definiert, gestaltet und reflektiert?

    Wie kann die Methode der Begleitung (shadowing) von Schlüsselpersonen (Hochbauleitern, Bauverwalterinnen und -verwaltern und Sachbearbeitenden) im Forschungsalltag umgesetzt werden?

    Wie kann der methodische Einsatz der Videokamera, um Schlüsselsitzungen der Bauverwaltung aufzunehmen, eingesetzt werden? Welchen Mehrwert bringt der Einsatz der Videokamera? Welche methodischen Implikationen beim Gebrauch der Videokamera im institutionellen Setting der Bauverwaltung sind zu beachten?

    1.2 FORSCHUNGSDESIGN

    Vor dem Hintergrund der ethnographischen Forschungsperspektive, die ein Bündel von Forschungsstrategien bereithält und unterschiedliche empirische Zugänge zur Erfassung der sozialen, kulturellen (und institutionellen) Wirklichkeit kennt (Krotz 2005), steht im folgenden Kapitel das Forschungsdesign im Zentrum. Das Kapitel gliedert sich wie folgt: Zunächst stehen der Feldzugang und die Fallauswahl im Fokus (Kap. 1.2.1). Im dritten Hauptkapitel der Studie (Kap. 3) liefert dann die detaillierte Beschreibung der drei Untersuchungsgemeinden und deren Bauverwaltungen eine wichtige Grundlage der empirischen Analyseleistungen. Doch zunächst komme ich im Anschluss der Offenlegung der Fallauswahl auf die Erhebungsmethoden und das gewonnene Datenmaterial (Kap. 1.2.2) sowie auf dessen Auswertung und Verdichtung in Form von Vignetten zu sprechen (Kap. 1.2.3). Daran schließt sich ein Methodenkapitel an, in dem ich den Einsatz der Videokamera aus meinem methodischen Spektrum heraus greife, um dieses – für die institutionelle Ethnographie relativ ungewöhnliche Vorgehen – intensiv zu diskutieren und in das Forschungsdesign meiner Arbeit einzuordnen (Kap. 1.3).

    1.2.1 Feldzugang und Fallauswahl

    Die Zielgruppe der vorliegenden Untersuchung ist das Vollzugsorgan politischer Gemeinden genauer der spezifische Verwaltungsapparat von Bauverwaltungen (zum Forschungsgegenstand der Gemeinde siehe Kap. 2.1). Dies weil sich die zentrale Fragestellung der Arbeit mit den Methoden und Prozessen kommunaler Bauverwaltungen in der Schweiz beschäftigt, wobei ich auf die alltäglichen Arbeitsvollzüge ebenso wie auf herausragende Ereignisse abstelle, um in verdichteten Miniaturen/Vignetten und Videostills die aktive Rolle der Gemeindeverwaltung aufzuzeigen. Dabei ermöglichte mir, in Anlehnung an die Workplace Studies (Luff et al. 2000), das Eintauchen in die Arbeitsprozesse der Bauverwaltungen und die vermeintliche Mitgliedschaft der teilnehmenden Beobachtungen, die Beschreibung der untersuchten Verwaltungsprozesse (siehe unten).

    Zu Beginn der Untersuchung stellte der Einstieg in das Feld der Bauverwaltungen insbesondere aus zwei Gründen eine Herausforderung dar. Erstens, weil bei Untersuchungen in Institutionen die Rolle der Forschenden und der Zugang zum Feld komplizierter ist, als zu einem vergleichsweise offenen Setting. Denn an der Regelung des Zuganges sind gewöhnlich verschiedene Ebenen beteiligt (Flick 2011:145): die Ebene derjenigen, die verantwortlich sind – im vorliegenden Fall der Gemeindepräsident bzw. der Gemeinderat und diejenigen, die befragt und beobachtet werden –, die Mitarbeitenden der Bauverwaltung. Als Forschende ist es entscheidend, die Rolle im Feld und die Einordnung in Verwaltungsroutinen mit den Praktikern auf allen Ebenen (hier mit den politisch verantwortlichen der Gemeinde und den Mitarbeitenden der Bauverwaltung) auszuhandeln und zu routinisieren (vgl. ebd.:146).¹ Der Sozialwissenschaftler Uwe Flick führt in diesem Zusammenhang aus:

    »Das heißt, die Aushandlung des Zugangs zu Institutionen ist weniger ein Informationsproblem als die Herstellung einer Beziehung, in der so viel Vertrauen in die Person der Forscher und ihrer Anliegen entsteht, dass sich die Institution – trotz allem, was dagegen sprechen könnte – auf die Forschung einlässt.« (Ebd.:147)

    Neben den spezifischen Anforderungen eines institutionellen Settings, welches sich durch eine Logik der Regularien auszeichnet und entsprechende Sensibilisierungen voraussetzt, war ich zu Beginn der ethnographischen Studie im eigenen europäischen und deutschsprachigen Kulturkreis weniger mit der Herausforderung der »Befremdung der eigenen Kultur« (Hirschauer & Aman 1997) konfrontiert, als das ich mir ein Grundverständnis der unterschiedlichen Dialekte des Schweizerdeutsch aneignen musste, um in der jeweiligen Forschungsregion zu bestehen.²

    Eine Besonderheit der Herstellung des Feldzugangs liegt in der Tatsache begründet, dass dieser von einer interdisziplinären Doktorandengruppe vollzogen wurde; bestehend aus einem Politikwissenschaftler, einem Geograph und mir als Sozialwissenschaftlerin.³ Die zwei männlichen Kollegen, beides Schweizer, sind – im Gegensatz zu mir als Ausländerin – bestens mit den schweizerischen Gepflogenheit und vor allem der schweizer Mundart vertraut. Folglich brachte jeder und jede eine jeweils unterschiedliche Perspektive mit ein. Diese Konstellation war dem Feldzugang äußerst zuträglich: Einerseits ermöglichte sie eine unkompliziertere und entspanntere Kommunikation vor Ort, andererseits wurde vermeintlich Alltägliches hinterfragt und diskutiert – beides führte schlussendlich zu einer klareren Sichtweise auf das Feld und den jeweiligen Untersuchungsgegenstand.

    Im Zuge der systematischen Auswahl der Fallstudien (siehe Flick 2011:177f.) besuchten wir über einen Zeitraum von drei Monaten neun schweizer Gemeinden. Ausschlaggebend für die Fallauswahl waren sogenannte urbane Brüche, die sich wie folgt charakterisieren lassen: Urbane Brüche entstehen einerseits infolge großer Infrastrukturprojektee anderseits im Zuge von Industriebranchen, wobei beide eingespielte Planungsroutinen durchbrechen und nach neuen Strategien innerhalb der Gemeinden verlangen (zur Vertiefung siehe Van Wezemael et al. 2014). Vor dem Hintergrund dessen wurden vier urbane Brüche mit jeweils zwei Gemeinden ausgewählt:

    Visp & Naters (Bruch: Lötschberg-Basis Tunnel)

    Uster & Wetzikon (Bruch: S-Bahn S5/15, Verdichtung der Fahrplantakte)

    Affoltern a. A. & Hedingen (Bruch: Üetliberg-Straßentunnel)

    Arbon, Rorschach & St. Margrethen (Bruch: Deindustrialisierung)

    Abb. 2: Übersicht Fallgemeinden, Schlussbericht (Van Wezemael et al. 2014:30).

    Jene explorative Phase (Beer 2008) der Sondierung der Fallstudien führte meinerseits zur Auswahl von drei Untersuchungsgemeinden für die eigene Datenerhebung⁴: Visp, Wetzikon und St. Margrethen. Das Kriterium des urbanen Bruches und die geographische Lage waren ebenso bedeutende Aspekte zur Fallauswahl wie die sozioökonomischen Bedingungen und die Organisationsstrukturen der jeweiligen Gemeinden. Leitmotiv bei der Auswahl war es, möglichst Gemeinden auswählen, die einen Querschnitt durch die deutschsprachige Schweiz bieten. Einerseits um eine möglichst hohe Varianz der Planungskulturen und Handlungsvollzüge abzudecken, andererseits weil die gemeinsame Sprachregion eine gute Vergleichbarkeit erwarten ließ. Neben diesen inhaltlichen Kriterien, waren insbesondere zwei methodische Aspekte bedeutsam: Erstens, war die Bereitschaft der drei Gemeinden zur Durchführung ethnographischer Studien gegeben. Zweitens, erreichte ich mit der Auswahl von drei Gemeinden einen Sättigungsgrad des Sampels. Diese Beschränkung ermöglichte mir eine möglichst hohe Bearbeitungstiefe und gewährleistete zugleich eine angemessene ethnographische Forschung (Flick 2011).

    Tabelle 1: Übersicht Fallauswahl, eigene Darstellung.

    ÜBERSICHT FALLAUSWAHL

    1.2.2 Erhebungsmethoden und Datenmaterial

    »In its most characteristic form […] the ethnographer participating, overtly or covertly, in people’s daily lives for an extended period of time, watching what happens, listening to what is said, asking questions – in fact, collecting whatever data are available to throw light on the issue that are the focus of the research.«

    (HAMMERSLEY & ATKINSON 1995:1)

    Die Erhebungsmethoden und die Sammlung des Datenmaterials der Dissertation sind unter dem Fokus der generellen Strategie der Ethnographie entstanden. Denn die Blaupause der forschungsleitenden Annahme einer (institutionellen) Ethnographie, die »Praxis immer auch [als] Kontingenzraum (versteht), in der Körper, Materialien, Interessen, Ideen ihre soziale Wirksamkeit erst noch erlangen – oder eben nicht« (Scheffer 2010:141), erfordert eine Forschungshaltung, die die Methoden konsequent an der Praxis des zu beobachtenden Feldes ausrichtet. Zugleich wird deutlich, dass der Fokus nicht allein auf Texten oder Sprechakten liegt, sondern dass dem nichtlinguistischen Bereich des Sozialen, sprich der situativen Praxis, den zuweilen stummen und körperlichen Vollzügen, ebenso wie den gegenständlichen Artefakten, Dingen, Architekturen, d.h. der sozio-materiellen Infrastrukturen und Rahmungen deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, als dies in Befragungsverfahren möglich wäre (vgl. Kap. 1.3). Letztere zielen auf eine Erschließung sozialer Phänomene durch innere Handlungsmotive der Beteiligten ab (vgl. Schmidt 2012:13f.).

    Tabelle 2: Erhebungsphasen der Feldforschung,⁵ eigene Darstellung.

    Die zentrale Methode der vorliegenden Dissertation ist deshalb die der teilnehmenden Beobachtung (siehe Beer 2008), da sich mit ihr die alltägliche Praxis der Bauverwaltung in situ erfassen lässt – sie ermöglicht zugleich eine (qualitative) Erschließung eines Feldes, das bisher wenig untersucht wurde (siehe Kap. 1.3). Die Studie ist im Lichte dessen als ein exploratives Projekt zu charakterisieren, dessen Beitrag in der ethnographischen Erschließung des Feldes der Bauverwaltungen in der Schweiz liegt sowie Erkenntnisse zu deren Methoden und Prozessen der Bewilligungspraxis bereitstellt.

    Der teilnehmenden Beobachtung ging eine explorative Phase der Kontaktaufnahme und der Feldsondierung in neun schweizer Gemeinden voraus (siehe oben, Tabelle 2). Während eines Zeitraum von zehneinhalb Monaten (Januar–November 2011) zu Beginn der Dissertation sondierte ich im interdisziplinären Team⁶ und allein die neun Fallgemeinden. Ich besuchte wiederholt die verschiedenen Gemeinden und führte leitfadengestützte Experteninterviews (Flick 2011) zum Ablauf des Baubewilligungsverfahrens mit den Hochbauleitern und Bauverwaltern durch sowie mit Architektinnen, Architekten und Raumplanern. Diese erste theoretische und analytische Aufarbeitung der Bewilligungsverfahren ermöglichte mir dreierlei: Erstens, erste vertiefende Einblicke in die Arbeitsweise der Gemeindeverwaltung. Zweitens, erlangte ich unabdingbares Wissen für die teilnehmende Beobachtung, da das Verfahren ein unerlässliches ist, welches jedes Bauprojekt vor der Realisierung durchlaufen muss. Drittens ermöglichte mir dieser Schritt die Reflexion und Modifikation meines Forschungsdesigns.

    Auch die ethnischen Vorkehrungen konnte ich in dieser Phase testen und verfeinern. Generell orientieren sie sich an den ethischen Forschungsrichtlinien der ETH Zürich.⁷ Die Anonymität der Teilnehmenden bleibt weitestgehend gewahrt. Gleichwohl bei den verwendeten Videostills auf eine Verfremdung der Gesichter verzichtet werden konnte (im Einvernehmen mit den Abgebildeten), wird von einer vollständigen Offenlegung der Identität abgesehen. Einzig die Berufsbezeichnung wird, soweit erforderlich oder aus den Daten ersichtlich, in der Analyse der Studie angegeben. Die Teilnehmenden erhielten im Zuge der Studie jeweils einen detaillierten Projektbeschrieb, in dem über die Teilnahme und die mögliche Verwendung des Datenmaterials sowie deren Archivierung nach Projektabschluss informiert wurde. Zudem wurde das Einverständnis zur Verwendung des gesammelten Datenmaterials und insbesondere der Audio- und Videoaufnahmen abgefragt (siehe Anhang). Die Teilnehmenden konnten für die jeweiligen Verwendungszwecke (Publikationen, Lehre, Vorträge, Konferenzen, Verwendung der Daten von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern) individuell ihr Einverständnis gewähren oder verweigern.

    Im Zuge der explorativen Phase wählte ich die drei Untersuchungsgemeinden Visp, Wetzikon und St. Margrethen aus, die ich in einer detaillierten ethnographischen Untersuchung zu begleiten gedachte (zur Begründung der Fallauswahl siehe Kap. 1.2.1 zur Darstellung der Fälle siehe Kap. 3) In Visp im Oberwallis führte ich im Mai/Juni 2011 eine Pilotstudie durch, um mein methodisches Spektrum mit den praktischen Bedingungen und den Praktikerinnen und Praktikern vor Ort abzustimmen und zu testen. Hier fand eine erste tief greifende Erkundung der Arbeitswelt der Bauverwaltung und die Abstimmung der Methoden mit der Praxis statt. Ich entschied mich, unterschiedliche Akteure der Bauverwaltung (Hochbauleiter, sowie Bauverwalterinnen und Bauverwalter) in ihrem Arbeitsalltag zu begleiten. Dieses Vorhaben ermöglichte mir, im Sinne des »shadowings« (siehe Czarniawska 2007, Jiron 2011), deren Arbeitspraktiken in situ zu beobachten, Sinnstrukturen offenzulegen und die Komplexität der verbalen und non-verbalen Arbeitsvollzüge und Zusammenhänge zu begreifen (Luff et al. 2000). Ich beobachtete die tägliche Büroarbeit, nahm an zahlreichen Sitzungen (Baukommissionssitzungen, Sondersitzungen, Stadtbildkommissionssitzungen, Kadersitzungen, Briefings, interne Meetings und Konferenzen) teil, an Mittags- und Kaffeepausen oder begleitete die Akteure zu Außenterminen (Ortsbegehungen, Treffen bei Investoren, Einweihungen, Baukontrollen). Diesen zentralen Fokus bereicherte ich, immer wenn dies zusätzliche Erkenntnisse versprach, durch Interviews (mit professionellen Akteuren wie Architekten oder auch im Nachgang eines beobachtenden Arbeitsprozesses mit teilnehmenden Akteurinnen und Akteuren) und der Methode der Dokumentenanalyse.

    Auf der Blaupause der theoretischen Ausrichtung auf praktische Arbeitsvollzüge und institutionelle Prozesse (vgl. Kap. 4.2) erlaubte mir diese Vorgehensweise die Konzentration auf:

    a) den Gebrauch von Dokumenten, Plänen und sonstigen visuellen Werkzeugen,

    b) auf die praktischen Umstände der Kooperation (etwa zwischen Bauverwaltung, Bauherren und Architekten) und

    c) die Bewältigung des Arbeitsalltages, sprich die Lösung von Problemen (wie Anpassung des Bauprojektes an die Auflagen der Baubewilligung) sowie auf das Verhältnis zwischen Ereignis (Sitzungen, Sprechstunden, Büroarbeit) und Prozess (Baubewilligungsverfahren).

    Zweieinhalb Jahre erforschte ich im Zuge der ethnographischen Forschung die Bauverwaltungen der drei Untersuchungsgemeinden (siehe Tabelle 2).⁸ Im Sinne des ethnographischen Diktums des Nachordnens der Methoden an die Praxis (Flick 2011:298), setzte ich in der Phase der Datenerhebung punktuell eine Videokamera ein (siehe ausführlich Kap. 1.3). Im Zuge dessen nahm ich wichtige Ereignisse der Alltagspraxis von Bauverwaltungen auf: vornehmlich Sonder- und Stadtbildkommissionssitzungen (hier finden Diskussion um die Bauprojekte statt) und Baukommissionssitzungen (hier werden Entscheidungen endgültig am Bauprojekt befestigt). Auf diese Weise entstanden neben den vorgefunden Dokumenten besonders zwei Datensorten: Prozessdaten (Feldnotizen) und Ereignisdaten (Videoaufnahmen, Feldnotizen). Generell ordnete ich die Sammlung der (ethnographischen) Daten der Fragestellung und den Gegebenheiten im Feld unter. Dies um einer zu starken Fragmentierung und Diversifizierung entgegen zu wirken (vgl. Amann & Hirschauer 1997).

    Zusammenfassend liegt der vorliegenden Arbeit ein vielfältiger Datenkorpus vor:

    zehn Prozessskizzen der interviewten Akteure (Hochbauleiter, Architektinnen und Architekten, Raumplaner)

    Dokumente aus dem Feld: Pläne, Regelwerke (SIA Normen, Baugesetze, Planungsverordnungen), Berichte, administrative Produkte und Korres-pondenzen (Baubewilligungen, Hindernisbriefe, E-Mail-Korrespondenzen, Webseiten, Einladungen zu Sitzungen etc.), Fortbildungsunterlagen für/von Bauverwaltungsmitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Notizen und Arbeitshilfsmittel der Mitarbeitenden (wie Verlaufsschemata, Protokolle), statistische Daten (Anzahl der Baubewilligungen und Baueingaben)

    Dokumentation der drei Designstudios⁹ und der Ortsbegehung eines Bauamtes.¹⁰

    Interviewprotokolle und Gedächtnisprotokolle von informellen und leitfadengestützten Experteninterviews (inklusive Angaben zur Dauer, Ort, dem Zustandekommen des Gespräches, Bemerkungen zum Gesprächsverlauf sowie zum informellen Austausch)

    Mitschriften von Baukommissionssitzungen, Sondersitzungen, Kadersitzungen, internen Sitzungen

    Feldnotizen¹¹ der ethnographischen Forschung (aus den Phasen: Vorbereitung, explorative Phase, problemorientierte Phase, Datenbearbeitung, Auswertung, Feedbacks) in den drei Gemeinden. Drei Ebenen der Notizen:

    –Logbuch ¹² der Untersuchung selbst (Vorgehensweise): Niederschrift der Eindrücke aus den Feldkontakten und Interviews; Reaktionen anderer auf die Untersuchung, eigene Reaktionen auf das Feld (Fremdheitserfahrungen), Vorgehensweise (welche Personen habe ich wann getroffen, welchen Arbeitssituationen beigewohnt); kondensierte Darstellungen in Stichworten, Sätzen, Zitaten, Gesprächen usw.

    –Logbuch zur Sammlung von Informationen (wie Inventarlisten, Arbeitsabläufe, Organisation, Routinen oder Besonderheiten) über den Untersuchungsgegenstand: Informationen in chronologischer Ordnung und nach Untersuchungsfällen geordnet

    –Logbuch für Schreibversuche aus dem Stehgreif: kleine Analysetexte, Ideen, Gliederungspunkte, Metaphern, theoretische und methodische Reflexionen ¹³ etc.

    Fünf Videomitschnitte von Baukommissions-, Stadtbildkommissions- und Sondersitzungen sowie deren Transkription (siehe genauer Kap. 3.4)

    1.2.3 Auswertung des Datenmaterials

    »As Garfinkel has taught us: It’s practice all the way down (Latour 2005:135).«

    Die Auswertung des vielfältigen Datenmaterials orientiert sich an der analytischen Perspektive der trans-sequentiellen Analyse (TSA), welche Sequenz- und Prozessanalysen miteinander kombiniert (Scheffer 2008, Kap. 2.4). Taktgeber bei der Auswertung sind die Arbeitsprozesse und Methoden der Akteure der Bauverwaltungen, sodass sich die Feldnotizen und Videomitschnitte als einzelne Arbeitsepisoden präsentieren, die sich entlang des Arbeitsbetriebes der Bauverwaltung ordnen lassen. Bei der Ordnung und Systematisierung der Feldnotizen stellt aber nicht der Arbeitsprozess an sich das entscheidende Kriterium dar, sondern die fortwährende Arbeit am Bauprojekt, die den Alltag der Praktikerinnen und Praktiker vor Ort mitbestimmt, aber nicht in Gänze determiniert. Vice versa werden organisatorisch festgelegte Ereignisse rhythmisch in den verwaltungspraktischen Alltag der Bauverwaltungen eingeschaltet. Bei der Auswertung und Kategorisierung der Daten orientierte ich mich auch im Sinne der Workplace Studies an den beobachteten Methoden und Prozessen des Untersuchungsfeldes (Garfinkel 1986).¹⁴

    Daneben wird im institutionellen und städtebaulichen Kontext intensiv mit verschiedenen schriftlichen Dokumenten und visuellen Werkzeugen gearbeitet. Mittels der Dokumentenanalyse (und Videoanalyse siehe Kap. 1.3) erschloss ich das Material, welches nicht erst von einer Forscherin oder einem Forscher durch den Prozess der Datenerhebung gewonnen wird (Primär- und Sekundärdaten), sondern bereits vorhanden ist. Die Dokumente (Baubewilligungen, Arbeitsaufzeichnungen oder Notizen als Hilfsmittel der Mitarbeitenden, Homepage der Bauverwaltung, gesetzliche Bestimmungen, visuelle Werkzeuge…) dienen den Akteuren als Sachverhalte und Werkzeuge für Entscheidungsprozesse und stellen zugleich eine eigene Datenebene dar. Die Erforschung und Auswertung des methodischen Instrumentariums oder der (strukturellen) Probleme, mit denen sich die Akteure der Bauverwaltung und Projektverfasser im Rahmen des Umsetzungsprozesses auseinanderzusetzen haben, gehen im empirischen Analyseteil auf (Kap. 5-8).

    Jene systematische Auswertung mündete in einer dichten Beschreibung (Geertz 1983, Krootz 2005) der beobachteten Arbeitspraktiken und der Entwicklung von Vignetten. Dies sind kleine, konzentrierte und in sich abgeschlossene Beschreibungen einer Situation, die auf der Rekonstruktion der Feldnotizen basieren (siehe Söderström 2000). Die Vignetten sind dabei weder Transkriptionen etwa von Interviews noch bloße Illustrationen von Fakten. Sie müssen als tief greifende, verdichtete Zusammenfassung der Beobachtungen gelesen werden, deren Konstruktion als Teil des Forschungsprozesses auch die eigene Interpretation in the making widerspiegelt (Silberberger 2011). Ich nehme dabei auch die Überlegungen des Soziologen Stefan Hirschauer auf, der zur Methodologie ethnographischer Beschreibung folgendes anmerkt: »Im ethnographischen Schreiben wird etwas zur Sprache gebracht, das vorher nicht Sprache war.« (2001:430) Im Lichte dessen gebe ich den Anspruch der Objektivität zu Gunsten einer dichten Beschreibung und Interpretation der Arbeitsepisoden auf, die im Zuge der empirischen Tiefenbohrungen einen handhabbaren Szenenbeschrieb zur umfassenden Analyse der Bauverwaltungen darstellt und einen wesentlichen Schritt zur Theoretisierung administrativer Praxis beinhaltet. Die eigene Rolle und Position lege ich im Zuge der Vignetten offen, um die Transparenz der durchgeführten Ethnographie zu fördern. Anstelle eines fortwährenden Vergleichens zwischen den Gemeinden wird (auch im Sinne einer explorativen Studie) dieser immer dann vollzogen, wenn Unterschiede offenkundig wurden oder wenn Arbeitsvollzüge aus anderen Gemeinden miteinbezogen werden, um das Spektrum der Arbeitspraktiken aufzuzeigen. Die vielfältigen Dokumente und Materialien: Prozessskizzen der Akteure, Interviewprotokoll, Mitschriften oder Gedächtnisprotokolle rahmen und ergänzen die Analyse der Arbeitsprozesse durch Kontextualisierungen, Vervollständigung oder Illustrationen der gewonnen Erkenntnisse.

    Den Ausführungen entsprechend verfolge ich eine induktive Analysemethode und lerne bei der Auswertung der Daten von den Mitarbeitenden der Gemeindeadministration, um zu verstehen wie normative Regeln, Standards oder Pläne die administrative Arbeit beeinflussen und mitunter das Design von Gebäuden und die Siedlungslandschaft beeinflussen.

    In den beiden empirischen Hauptkapiteln Acht (Beurteilung: Stadtbildkommissionssitzung) und Neun (Entscheidung: Baukommissionssitzung) findet eine weitere Anreicherung der dichten Beschreibung statt. Hier kommt die zweite große Datensorte der Videodaten zum Tragen, die neben der textbasierten Datenebene, die der Visuellen, des Non-Verbalen zur Analyse der Arbeitspraktiken hinzufügt (vertiefend zur Methodologie und Analysepraxis siehe Kap. 1.3).

    1.3 EINSATZ VON VIDEO IN DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG

    »The use of video is becoming a widespread practice within the social sciences interested in real-time production of social life […].« (Mondada 2005:51)

    Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit dem Einsatz von Video in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dieser zweite, methodisch fundierte Teil ist im Vergleich zum verwendeten Videomaterial ausführlicher gehalten, einerseits weil das Medium im Feld der institutionellen Ethnographie bisher selten verwendet wurde, andererseits um aufzuzeigen, weshalb den Videodaten relativ wenig Platz in der vorliegenden Arbeit eingeräumt wurden. Deshalb werde ich zunächst eine kurze Literaturübersicht zum Thema geben, mich mit den methodischen Implikationen beschäftigen und sodann das eigene Vorgehen beleuchten und dabei auf die Chancen und Herausforderungen bei der Arbeit mit Video zu sprechen kommen.

    Der Einsatz von Video wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung zunehmend attraktiver. Einerseits auf Grund der technischen Entwicklungen der Videogeräte und des technischen Zubehörs, die einen unkomplizierten und kostengünstigen Einsatz im Feld ermöglichen. Andererseits bezüglich des seit Harold Garfinkel¹⁵ wachsenden Interesses der Sozialwissenschaften an den alltäglichen Lebenswelten und den selbstverständlich erscheinenden Handlungen und Interaktionen von Individuen. Vor dem Hintergrund dessen empfahl der Soziologe Harvey Sacks in den frühen 1960er Jahren den Einsatz von Aufnahmegeräten in der empirischen Forschung, um Alltagsaktivitäten zu dokumentieren. Wo Harvey Sacks noch mit Tonbandgeräten zur Audioaufnahme arbeitete, nutzten die Kulturanthropologie und die Ethnologie bereits seit längerem den Einsatz der Videokamera, wenn auch aus einem anderen Interesse heraus (vgl. Heath 1997) – es galt hier vielmehr, die im Verschwinden begriffenen kulturellen Praktiken indigener Völker auf Videoband festzuhalten.¹⁶ Ab den 1980er Jahren entstanden die ersten sozialwissenschaftlichen Analysen, die ausschließlich auf Videoaufzeichnungen basierten: Der Soziologe Charles Goodwin, der die Rolle des Blickes bei Konversationen untersuchte (1979, 2001) gehört zu diesen Pionieren, ebenso wie Christian Heath, welcher die Gespräche zwischen Arzt und Patient festhielt (1986). Besonders die Studien, welche im Umfeld der Workplace Studies entstanden, wählten den Einsatz von Video, um Arbeitspraktiken in situ festzuhalten. Sie erweiterten so die bisher auf Konversation fokussierten Videountersuchungen um die Erforschung des Zusammenspiels von Technik, Interaktion und Sozialem. Es entstanden Studien in Operationssälen, Flugsicherungszentralen oder in Kontrollzentren (zur Übersicht Engström & Middleton 1996 und Luff et al. 2000). Ende der 1990er Jahre wurden vermehrt Studien verfügbar, die sich mit dem Potential des Einsatzes von Video und dessen methodischen Implikationen auseinandersetzen. Federführend sind hier Hubert Knoblauch (2000, 2004) und Lorenza Mondada (2005, 2008), die systematische Untersuchungen des praktischen Einsatzes von Video in der empirischen Forschung liefern (ausführlicher siehe unten).¹⁷ Die Videokamera wird in dieser Zeit auch mobiler und folgt den Akteuren teilweise über weite Distanzen wie die Arbeit von Monika Büscher, welche Landschaftsarchitekten bei ihrer Arbeit begleitet (2005)¹⁸ oder Ignaz Strebel, der eine videoethnographische Untersuchung der Arbeit von Hauswarten in der Schweiz realisierte (Strebel 2014). Eine konsequente Weiterführung des Einsatzes der Videokamera ist bei der Sozialwissenschaftlerin Bina E. Mohn zu beobachten, die die Videokamera als Werkzeug einer audiovisuellen Feldnotiz (camera stylo) versteht und der ethnographischen Blicksuche des beobachtbaren Geschehens dient (2007, 2008). Im Jahr 2010 erschien schließlich eine systematische Einführung zum Umgang mit Video in der sozialwissenschaftlichen Forschung, herausgegeben von den Videoforschern Christian Heath, Jon Hindermarsh und Paul Luff, »to support the analysis of everyday social activities (2012:3).« Deren Ziel ist es, den Einsatz der Videokamera für einen breiteren Teil der empirischen Forschung attraktiv zu machen.

    1.3.1 Methodische Implikationen

    In den folgenden Ausführungen werde ich den Einsatz der Videokamera thematisieren, denn die Verwendung dieses Mediums setzt etliche methodische Entscheidungen wie die Wahl des Standorts oder die Reflexion des eigenen Tuns im Vorfeld voraus. Im Zuge dessen werde ich auch die Reichweite der methodischen Entscheidungen und deren Implikationen für die sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit aufzeigen, um die Einordnung der erstellten Videoaufnahmen der vorliegenden Arbeit zu ermöglichen.

    In den letzten Jahren sind – wie oben skizziert – vermehrt methodologische Texte erschienen, welche Ratschläge zum Einsatz von Video in der empirischen Forschung geben (Büscher 2005, Heath et al. 2010). Doch bemängelt Hubert Knoblauch, einer der führenden Experten auf dem Feld der Videoforschung, nach wie vor den lückenhaften Forschungsstand zur methodischen Handhabung des Mediums (2004:124) und Lorenza Mondada die mangelnde Reflexion des Videoeinsatzes als eine soziale Praxis. Denn Mondada begreift das Medium Video nicht bloß als: »[…] a mere resource, for example in a methodological discussion, but treats video practices as a topic per se, within an analytic stance« (2005:51). Mohn greift diesen Faden auf, wenn sie die Videokamera als camera stylo und die Suchbewegungen der Kamera in situ als Teil des Forschungsprozesses begreift (Mohn 2008). Der sozialwissenschaftliche Einsatz der Videokamera in der empirischen Forschung changiert dann nicht mehr nur zwischen Dokumentarfilm und ethnographischem Film (de Brigard 1975) – ihm wird eine neue Qualität als Forschungsinstrument

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