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Parallelen mit Hund: Eine Novelle aus Zamość
Parallelen mit Hund: Eine Novelle aus Zamość
Parallelen mit Hund: Eine Novelle aus Zamość
eBook166 Seiten2 Stunden

Parallelen mit Hund: Eine Novelle aus Zamość

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Über dieses E-Book

Eine Novelle über Dummheit, auch politische Dummheit, und über den Wunsch nach Wiedergutmachung, eine Novelle über den Satz von den Parallelen, die sich im Unendlichen treffen, eine Novelle über die überraschende Ähnlichkeit in der Schilderung der ersten Augenblicke der Welt durch die moderne Physik und die uralten jüdischen Texte – und über das Wiedersehen zweier Männer, die verschiedener nicht sein könnten in dem polnischen Städtchen Zamość. Und immer dabei: ein Hund, der sich erinnert ... an vieles, vielleicht an zu vieles.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Okt. 2016
ISBN9783940524591
Parallelen mit Hund: Eine Novelle aus Zamość

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    Buchvorschau

    Parallelen mit Hund - Andreas Rostek

    ENDE

    ANFANG

    Zwar nicht viel, aber der Hund muss fressen jeden Tag. Irgend etwas. Gestern war es ein alter Knochen mit einem Stück daran, das einmal zu einem Fuchs gehörte. Es lag am Rand der Landstraße, ein Geschenk der schnellen Autos, die Raubvögel hatten es aus irgendeinem Grund liegengelassen. Das reichte gestern. Ein paar späte Sonnenstrahlen brechen durch und beleuchten das Fell des Hundes, ein feines Schimmern, fast durchsichtiges Silbergrau hier und da. In dem Licht kommt er zu einem Haus ein Stück abseits der Landstraße. Der Weg dorthin Sand, wie der Sand in den Böden um das Haus. Nicht mehr als zwei Räume, geduckt unter einem Wellblechdach, links davon ein Bretterverschlag als Stall, rechts eine Scheune, größer als das Haus, mit reet– gedecktem Dach, Schilfenden ragen auch aus dem Fachwerk heraus. Gegen die Ärmlichkeit der Hütten wehrt sich nur ihre Anordnung, im Winkel eine zur anderen, so bilden sie den Hof. Eine Form, ein Gedanke, lange vor der Ärmlichkeit. Langsam nähert sich der Hund, kein Gebell, kein eifersüchtiges Kläffen, kein Verteidiger für den ärmlichen Flecken. In dem Licht sieht der Hund munter aus, keck, er weiß das, er muss nur den Kopf leicht heben, die Ohren locker wippen lassen, den Schweif ein wenig spielen lassen im Wind. So sieht ein freundlicher Hund aus, arglos, unbedarft, so nähert er sich dem Hof. Manchmal hat er Glück, den Geruch vom Kochherd in der Nase. Nur keine hündische Geste jetzt, nicht den Kopf beugen, nicht den Schwanz zwischen die Hinterläufe klemmen, das verlockt nur, zum Stock zu greifen, den Stein in der Hand zu wiegen und zu prüfen auf seine Eignung zum Wurf, es reizt nur zur schnellen, flüchtigen Gemeinheit.

    Manchmal hat er Glück. Eine Alte schlurft in viel zu großen Latschen über den Hof, einen Blecheimer mit dampfendem Brei am Arm. Der Hund macht noch einige Schritte auf sie zu, bis er sieht, dass sie ihn bemerkt, kratzt mit einer Pfote zögerlich am Boden, spielerisch, macht noch einen Schritt, kratzt wieder. Mit der Rechten hebt die Alte eine Kelle, nein, keine Drohung, sie fährt damit in den Eimer und klatscht etwas vom dampfenden Inhalt auf den Sandboden. Der Hund macht sich über den groben Brei her, Kartoffelschalen, ein Gestank von verkochten Knochenresten. Die Alte schlurft weiter, wendet sich noch kurz um und sieht auf den Hund als versuche sie, sich zu erinnern. An was? Als sie in dem Stall verschwindet, hört der Hund noch das Scheppern von Kelle und Eimer und aufgeregtes Quieken und Grunzen. Er frisst hastig, die Ohren gespitzt, das dauert nicht lange. Der Eimer lässt noch ein Zittern hören wie ein kaputter Gong …

    Und laufen, laufen. Laufen entlang der Landstraße, ein Traben, dann und wann ein langsamerer Schritt, und wieder traben, weiter laufen. Die Richtung zu halten ist leicht, immer am Rande der Grasnarbe, Stunde um Stunde, die Augen gegen einen spitzen Regen leicht geschlossen, blinzelnd, der Blick auf irgendeinen Punkt in drei, vier Metern Entfernung, der läuft mit, der Punkt. Es kommen jetzt mehr Autos, mehr als früher. Und immer zu schnell, ein Zischen auf dem feuchten Asphalt und wieder und noch einmal, schnell, als ginge es um ihr Leben. Da fehlt noch die Gewöhnung, der sichere Zugriff, zu neu, auch das. Seltener jetzt Pferdewagen, grobe Karren mit schweren Tieren. Die schnauben nur, kein Zischen, denen muss er nicht ausweichen.

    Ein Hund läuft die Landstraße entlang, die von Lublin nach Zamość führt. Ein alter Weg, eine uralte Bewegung. Zielstrebig läuft er, als gebe es da ein Ziel, als sei da nicht nur die Straße und die unsichere Linie der Grasnarbe als Parallele zu irgendeinem Weg. Parallelen treffen sich nirgendwo. Oder? Die hier führen nach Zamość. Der Hund folgt der Richtung und weiß von vielen, die demselben Weg gefolgt sind. Er weiß so etwas. Eine Art von besonderem Gedächtnis, ausgestattet mit Tönen, Bildern, Worten, Orten, Wegen, Begegnungen. Mit allem. Aber nicht einfach abrufbar, es lässt sich nicht abrufen, es ruft sich selbst ins Gedächtnis, es wird erinnert, erinnert wird das Gedächtnis anderer, das Gedächtnis anderer ruft sich ins Gedächtnis.

    … der Eimer also. So etwas weckt dem Hund eine Erinnerung. Ein Eimer, ein Ton, ein Wort, irgendwas. Sie rufen das Gedächtnis anderer auf. Kurz wie ein Blick zurück, kürzer noch, wie ein Blitz, so geraten dem Hund dann manchmal die Bilder durcheinander. Jetzt ist es ein Dackel, der Dackel und ein Junge, dunkles Haar, kurzer Schnitt, abstehende Ohren …

    *

    Es gab nur einen Dackel in der Straße, keine Straße für solche Hunde, das Fell zwar geschoren wie beim Rauhaardackel, aber doch weich, so überraschend weich, wenn der Junge es die Finger streicheln ließ. Der Eimer landete mit diesem nachklingenden Zittern auf dem Steinboden im Hof, der Dackel zuckte zusammen, von der Hauswand kam das Zittern zurück, unsicher, gebrochen an den verrußten Backsteinen, die einmal rot waren. Die Straße hieß zwar nach dem Wasser, aber die Mauern hier hielten es mit dem Ruß und der Kohle. Da war das Wasser machtlos. Und auch der Himmel wollte plötzlich düster werden, wie die Wände der Häuser. Der Junge kniete sich hin und sammelte die Kartoffeln in den Eimer, der Boden drückte ein raues Muster in die Knie. Neben ihm der Hund, erst stehend, dann ließ auch der sich nieder, der Kopf auf den kurzen Läufen, ruhig. Der Junge holte die Kartoffeln wieder aus dem Eimer, eine um die andere, und in seinem Alter versteckten Zahlen noch Muster und Geheimnisse und Geschichten, die ließen sich bewegen mit den Kartoffeln. Eine Kartoffel nach der anderen nahm er, eins: ein Berg, darin das Bergwerk, die Zwei: der gerade Weg, drei: ein Rund, vier: das Vieh kommt von den Ecken, fünf: eine ägyptische Hexe, versteckt in der Mitte, sechs: das Signal für die Schiffe auf der Ruhr …

    Und plötzlich Pfiffe, auch sie hatten ihre Zahlen, erst einer, dringlich, dann zwei kurze, dann dreimal zwei. Die Kartoffeln in den Eimer! Und laufen! Sie galten nicht ihm, die Pfiffe, das wusste er, er rannte trotzdem. Ein Auto war vorgefahren, selten genug, Türen sprangen auf, dann von weitem die Pfiffe. Und wenn die Pfiffe ertönten, dann musste jemand rennen, fortlaufen, sich verstecken, sich in Sicherheit bringen. So viel Sicherheit wie die Dachböden über den dicht an dicht stehenden Häusern geben konnten. In den Häusern mit den verrußten Wänden wohnten die Roten, die mussten gewarnt werden, die mussten versteckt werden und in Sicherheit gebracht.

    *

    Als das Jahrzehnte später erzählt wird, war ein Spitz dabei, nicht mehr der Dackel. Und der Junge, der es da hörte, Jahre später also und zusammen mit dem Spitz, erzählte es später wieder weiter, in Hamburg. Und er wollte es gerne glauben. Aber immerzu hatte irgendwer irgendwen versteckt. Nicht nur in der Straße, die nach dem Wasser hieß. Dort, wo polnische Silben noch wie selbstverständlich geklungen hatten, vertraut wie der eigene Name. Und doch war der eine gen Westen gegangen, die Geschichten der Zahlen hatte er längst vergessen und aus den Zahlen bald Nummern und Maße, Koordinaten und Kaliber gemacht. Und dessen Bruder ging gen Osten. Sicher, beide wurden geschickt … Aber auch der Bruder kam doch über die Straße zwischen Lublin und Zamość.

    Das müde Knarren und Knacken neben ihm, wieder ein Pferdewagen. Der Hund fällt in langsameren Tritt. Neben ihm rollt und rumpelt das Rad, die Radnabe noch höher als sein Kopf, die Planken der Karre darüber nimmt er aus dem Augenwinkel wahr. Dornengesträuch zwängt sich zwischen den Planken hindurch. Der Karren ist beladen mit totem Buschwerk, von dem fallen Tropfen.

    Was also nun? Nun die Rosen … Und die Erinnerung dazu?

    *

    Das war in Paris, ist es 300 Jahre her? Solange sich Rosen erinnern können, ist nie ein Gärtner gestorben. Der sprach in schönen Sätzen, Fontenelle, ein langes Leben auf der Suche nach einer Vernunft, nach Argumenten, gegen die Freuden der Selbsttäuschung. Die Gesetzmäßigkeit in der Natur? Auch nur menschlicher Glaube. Schrieb er. Er überlebte alle seine Hunde, auch den, der geduldig immer wieder und erwartungsvoll den Kopf hob, wenn Fontenelle die Sätze laut sprach, bevor er sie hinschrieb, in seine Vielzahl der Welten. Und dieses scharfe Kratzen der Feder … Unangenehm, noch in der Erinnerung.

    *

    Ein letzter voller Windstoß hat den Regen mit fortgerissen. Wie Tau bleiben feine Tropfen auf seinem Fell. Unvermittelt stolpert der Hund aus dem Trab in einen kurzen beweglichen Halt, streckt die Beine, schnell, eines nach dem anderen, schüttelt den Kopf, dann den ganzen Körper, schnell, flüchtig und schnell, Welle und Kreisen gleichzeitig, und das Nass spritzt von ihm. Ein kurzes Zittern noch und der Hund setzt seinen Lauf fort. Wäre nicht die Bewegung, das schräge Vorwärtstreiben, dabei das Wippen der halb nur stehenden Ohren, die Farbe seines Fells verschwände fast gegen das müde Grün und Grau und Braun am Straßenrand. Jetzt fährt der Wind durch das Fell, und mit dem Wind kommen ein paar Sonnenstrahlen. Kurz leuchten da die Farbstreifen auf dem Asphalt, Parallelen im Gesichtsfeld des Hundes, einen Augenblick lang schärfer als grau.

    Auch das. Die Geraden. Und gar als Parallelen …

    *

    In Göttingen war ein Hund, groß, schwarz, und obgleich ein überaus ruhiges Tier, doch nach einer Weile bei dem Wort zusammengezuckt. Jedes Mal, er spürte die Mühe seines Herrn. Die Geraden hebelten eine ganze Welt aus den Angeln. Wohl hatte auch der Hund etwas in der Art vor Augen, er brauchte sie ja nur zu öffnen: Holzdielen, ebenmäßig geschnitten, immer der gleiche Abstand, die Fugen bildeten dichte saubere Linien, eine schöne Arbeit. Aber diese Geraden waren begrenzt, sie endeten an der Wand. An der Wand, verdeckt von Büchern, endete das Zimmer des Observatoriums. Und darin Gauß, und der mühte sich ab genau mit solcherart Begrenztheit. So mochte es dem Hund erscheinen. Und wahrlich nicht nur Gauß und nicht nur hier und nicht erst jetzt. Warum auch hatte Euklid seinen Satz gerade so formuliert? Schon er, schon damals. So verquert? Von Parallelen zu reden, ohne sie zu nennen. Was war das? Angst vor der Unendlichkeit? Oder wusste er, dass er etwas nicht wusste? Jahrhundertlang war da keine Frage. Unmöglich. Wenn überhaupt, vielleicht, eine Frage der Schönheit. Da hatte Schönheit noch mit Wahrheit zu tun und Wahrheit mit Schönheit. Der Plan Gottes.

    Aber die Unendlichkeit? Was passiert dort? Ja, doch, auch Euklid hatte davon gesprochen, gleich in seinem zweiten Satz, nicht im fünften. Jede Gerade kann unendlich weiter gezogen werden. Aber zwei? Was passiert denn mit den zwei Geraden? Gut, sie bleiben, was sie sind, einfache Geraden, nicht Parallelen, müssen sich also treffen – aber wo? Wo treffen sie sich? Eben. Und wenn es doch Parallelen wären? Wie erginge es denen dort, im Unendlichen?

    Längst hatte sich der schwarze Hund damit abgefunden, dass Gauß zwar da war, aber nicht da für ihn. Was sollte er auch erwarten? Der Hund versuchte anfangs noch, sich bemerkbar zu machen, er zerrte Bücher aus dem Regal, irgendwelche, immer die falschen, dann kratzte er noch manchmal auf den Holzdielen, entlang der Linien, dann war auch er einfach nur noch da. Gauß arbeitete. Seit Plato galt die Geometrie als der schönste Beweis für die Möglichkeit sicheren Wissens. Und woran zerbrach das schöne Bild? An den Euklidischen Parallelen. Gauß wusste es schließlich, das wusste der Hund, und er wusste auch, sein Herr fürchtete, sich lächerlich zu machen.

    *

    Der Hund verlangsamt seinen Lauf. An der Straße von Lublin nach Zamość steht ein Haus, nicht viel mehr als ein Schuppen, Schaufenster, Tür, Flachdach, hinter dem Glas des Schaufensters Gitter, dahinter eine vergilbte Gardine. Draußen in neuer Farbe das Schild, zu groß für den kleinen Bau verdeckt es Teile des Fensters und noch eine Ecke der Tür: Kawiarnia. Der Hund hebt die Hinterpfote und pinkelte an den Laternenpfahl neben dem Haus. Auch in solchen Momenten geraten ihm zuweilen die Erinnerungen durcheinander, die Nase an dem Pfahl … die Pissmarken dort, zwei, drei Hunde aus der Gegend, einer von denen wird es nicht mehr lange machen. Und dann Marke und Nachricht, die er selbst hinterlässt, und wofür eigentlich …. So viele schon, unnütz, auch das. Er ist unterwegs, er wird doch weiterlaufen. Aber noch … ein einzelnes Bild, ein weiteres Bild, deutlicher plötzlich, der Pfahl war es … Wie kommen Peitschenlampen hierher? Und wieder der Blick auf die langen Linien der

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