Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter: Essay
Von Max Kommerell
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Buchvorschau
Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter - Max Kommerell
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter
Goethes freie Rhythmen
Novalis: Hymnen an die Nacht
Hölderlins Hymnen in freien Rhythmen
Nietzsches Dionysosdithyramben
Rilkes Duineser Elegien
Über den Autor
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books Edition Loreart:
Max Kommerell
Die Dichtung in freien Rhythmen
und der Gott der Dichter
Essay
Edition Loreart
Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter
Was wir Deutschen an Lyrik in freien Rhythmen besitzen, ist als Form und als Bestand gleich merkwürdig. Worauf beruht diese Form? Unsere Sprache konnte gerade durch das, wodurch sie von den alten Sprachen verschieden ist, durch ihre Abstufung der Tonstärken und den Ton auf der Stammsilbe, ein Analogon der antiken Versmaße erreichen, welches nur der Rhythmus, nämlich eine regelmäßige Anordnung der natürlichen Akzente schafft. Wenn nun die einzelne Zeile, ohne an wiederkehrender Stelle einer andern zu gleichen, dennoch sich selbst als rhythmisches Gepräge behaupten kann, wenn sich also aus der Nachbildung antiker Versarten als eine eigene, nicht mehr angelehnte Art die Dichtung in freien Rhythmen entwickelt, so arbeitet sich darin ein altes Vermögen der germanischen Sprache zu sich selber durch. Man kann in dieser Form die Aneignung des Fremden so weit, daß das Fremde ganz eigen wird, vollendet sehen, man kann sie aber auch mit Vorsicht an den ursprünglichen germanischen Versbau, der uns durch die geschichtliche Entwicklung von Otfrid bis Opitz entfremdet und verlegt worden ist, anknüpfen. Und man kann demgemäß eine Art der freien Rhythmen, die sich vorwiegend aus den bei uns eingebürgerten Elementen antiker Versmaße zusammensetzt, und eine andere unterscheiden, die das Belieben unserer Sprache selbsttätig zusammenfügt. So fraglich und befragenswert dies alles ist, so fraglos ist die Anziehungskraft der so beschaffenen Gebilde, die nicht nur Gipfel unserer Dichtung, sondern auch weiteste Möglichkeiten unserer Sprache bezeichnen, und in dieser natürlichen Großheit der Lyrik anderer Länder fehlen.
Diese Anziehungskraft wird allerdings noch gesteigert durch Themen und die Spannweite eigenwilliger Geister, die sich darin genugtun. Wenn ich hier die merkwürdigsten Beispiele zusammenstelle, so fällt die Einheit auf, die sie unter sich bilden. In allen eröffnet uns der Dichter ein eigenes Verhältnis zum Göttlichen. Wenn vorher diese Form als eine Art Vorrecht unserer Lyrik beansprucht wurde, so erinnert jetzt das Thema selbst an ein Phänomen, das in unsäglicher Weise Freiheit und Not unserer Überlieferung ist. Diese Überlieferung hat manchmal kühnere Gipfel, aber kaum je das Gesicherte, das die dichterischen Traditionen anderer Länder auszeichnet. Sie geht von Krise zu Krise, oft in Sprüngen, sich umkehrend, das Errungene verleugnend, neuer Anfänge froh. Keinem unserer großen Dichter genügte das Schaffen allein; jeder hat lieber sein Weltverhältnis, sein Stehen zu den letzten Fragen von Grund auf selbst bestimmt, als sich daran gehalten, wie es durch ein Erbe der Sitte, Gesinnung und religiösen Denkart im voraus bestimmt gewesen wäre. Gewiß gibt es bei anderen Nationen Vergleichbares, aber so sehr durchgehender Brauch ist dies nur bei uns geworden, nur bei uns hat es zu einem solchen Umfang dichterischer Befugnis und zu so viel Freiheit und Gefahr geführt.
Es soll nun nicht behauptet werden, daß der eigene Gott der Dichter sich nur in freirhythmischer Lyrik darstellt, noch auch, daß diese nie ein anderes Thema gehabt hätte. Nur die Frage sei angeregt, ob nicht eine Neigung dieser Form zu diesem Thema bestehe und wie diese Neigung zu erklären sei.
Von Anfang an wurde diese Form als gelöst, als dithyrambisch empfunden, als die Form der Begeisterung. Klopstock hat nicht den größten, aber den ersten Gebrauch von ihr gemacht; bei ihm geht sie hervor aus der Bemühung um die eigensten Möglichkeiten unserer dichterischen Sprache im Wetteifer mit den antiken Sprachen, zugleich aber auch aus der hymnischen Prosa der Bibel, der ihm vertrauten Form der religiösen Hingerissenheit. Überhaupt liegt der Begriff »frei« als Gegensatz eines festen Maßes zugrunde und wird, historisch falsch, aber um so fruchtbarer, mit Pindar in Zusammenhang gebracht: »ununterwürfig Pindars Gesängen gleich.« Der geistige Anlaß dieser Form ist bei Klopstock die aus dem Pietismus und anderen Bewegungen hervorgehende persönlich geniale Annäherung an den Erlöser, die er dichterisch ins Werk setzt, und die Weihe des dichterischen Berufs sowie der eigenen Person durch diesen oder andere heilige Gegenstände. Halb besingt er den Erlöser der protestantischen Gemeinde, halb einen eigenen, und die weltlichen oder geistlichen Gesänge, die er in die selbstgefundene Form bringt, bleiben zwar ihrem Tone nach Postulat, sind aber von einer geradezu ansteckenden Wirkung auf andere. Sie haben weniger eine entschiedene Fügung als einen Flatus, der sie trägt und schwellt: Inbrunst des Sagens, mit gehäuften Ausrufen, mit allen Satzbildungen und Stilformen der Ekstase. Ihre Musikalität ist gesteigerte Prosa.
Immerhin, die Form ist kreiert und fortan möglich. Zwischen Klopstocks und Goethes freien Rhythmen liegen die Anregungen Herders, der in einer selbst dithyrambischen Prosa den jungen Dichtern das Wunschbild der echten dithyrambischen Dichtung neben dem andern Wunschbild des echten volkstümlichen Liedes einflößt und so auf die beiden Pole der neubeginnenden deutschen Lyrik deutet. Er lehrt Pindar hören und verdeutschen; seine eigenen jugendlichen Dichtversuche, die, in freien Rhythmen pindarisierend, eine Gärung ohne Beispiel entladen, haben wohl den jungen Goethe, der selbst Pindar übersetzte, in dieser und jener Probe erreicht.
Von jeher also ermächtigt diese Form unter dem Vorwand der Gottbesessenheit und der Begeisterung durch göttliche Dinge zu einem fessellosen Sprechen,