Das Grubenunglück von Stolzenbach: Die angekündigte Katastrophe und das fast verhinderte Wunder.
Von Ulf Hempler
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Über dieses E-Book
Die Staatsanwaltschaft Kassel stellte im Oktober 1989 die strafrechtlichen Ermittlungen mit der Begründung ein, eine Kohlenstaubexplosion sei völlig unvorhersehbar gewesen. Im Jahr 2008 wiesen zwei Journalisten des Hessischen Rundfunks nach, dass die Gefahr von Kohlenstaubbildung dem Betreiber und der Bergbehörde bereits seit 1968 bekannt war.
Die Recherchen zu diesem Buch haben zudem aufgedeckt, dass das sogenannte „Wunder von Borken“, die Rettung der sechs Bergleute nach 66 Stunden, nicht nur auf eine ganze Häufung von glücklichen Zufällen zurück zu führen war. Die Rettungsarbeiten wurden derart nachlässig und ignorant organisiert, dass der Krisenstab eine rechtzeitige Rettung beinahe verhindert hätte.
Ulf Hempler
Ulf Hempler wurde 1973 im nordhessischen Homberg/Efze geboren und wuchs in Borken/Hessen auf. Nach Studium in Marburg, Köln und Canterbury (Großbritannien) lebt er mit seiner Familie in Karlsruhe und arbeitet als Rechtsanwalt. Liebe in Zeiten zerfallender Gewissheiten ist sein erster Roman. Außerdem hat er ein erzählendes Sachbuch über Das Grubenunglück von Stolzenbach (2015) veröffentlicht.
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Buchvorschau
Das Grubenunglück von Stolzenbach - Ulf Hempler
Gewidmet:
meinem Vater Helmuth Hempler (1948-2002)
Im Gedenken an die 51 Bergleute, die beim Grubenunglück von Stolzenbach starben:
Ali-Akser Akarsu, Selahattin Alkan, Hamit Alkus, Michael
Andreas, Serafettin Barlas, Michael Bartz, Paul Bilinsky,
Klaus Böhnert, Helmut Brandau, Horst Budnitz, Dursun
Büyüktürk, Ali Buzdag, Erwin Cassel, Murat Celik, Walter
Drescher, Klaus Ellrodt, Uwe Feldbusch, Dieter
Fennel, Ernst Hapke, Dieter Henke, Hans-Joachim
Hergenröder, Hans Hirschner, Egon Holzhauer, Walter
Kraft, Erich Kuhn, Reinhold Kuhn, Horst Landsiedel, Michael
Matys, Cevdet Mete, Heinz Morgen, Alfred
Niewienda, Dieter Nuhn, Burkan Ölcek, Faik Ölcek, Dieter
Rosenau, Rudolf Roth, Edercan Saglam, Kemal Saglam,
Otto Sawitzki, Jörg Schmidt, Karl-Dieter Schnurr,
Helmut Schulz, Gerald Sindermann, Hans-Jürgen
Specht, Helmut Strenzel, Bayram Tüysüz, Johann Walter,
Günter Weidemeier, Oliver Wett, Wilfried Wilhelmi,
Wilhelm Wittig
Eine Chronik der Ereignisse vom 1. bis 8. Juni 1988 um das Grubenunglück von Stolzenbach bei Borken/Hessen sowie der Vor- und Nachgeschichte.
Über den Autor
Ulf Hempler wurde 1973 in Homberg/Efze geboren und wuchs in Borken auf. Das Grubenunglück erlebte er als 15-jähriger Schüler. Nach Studium in Marburg, Köln und Canterbury (Großbritannien) lebt er mit seiner Familie in Karlsruhe und arbeitet als Rechtsanwalt. „Das Grubenunglück von Stolzenbach" ist sein erstes Sachbuch.
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
TEIL 1: VORHER
Das Braunkohlerevier Borken
Katastrophe mit Ansage
Abbildungen
TEIL 2: DAS UNGLÜCK
Vorahnung - Mai 1988
Kurz zuvor - 1. Juni, 12:00 Uhr
Die Explosion - 1. Juni, 12:30 Uhr
Chaos - 1. Juni, 14:20 Uhr
Funkspruch! - 1. Juni, 15:25 Uhr
Giftige Wetter - 1. Juni, 17:30 Uhr
Bewetterung und Bohrung, 1. Juni – 20:00 Uhr
Keine Hoffnung mehr - 2. Juni, 5:45 Uhr
Fehler und Abbruch? - 3. Juni, 8:00 Uhr
Durchbruch! - 3. Juni, 20:50 Uhr
Rettung - 4. Juni, 2:30 Uhr
Sensationspresse – 4. Juni, 7:00 Uhr
Trauerfeier – 8. Juni, 11:00 Uhr
TEIL 3: SPÄTER
Die Staatsanwaltschaft… ermittelt?
Verarbeitung des Traumas und materielle Hilfe
Enthüllung nach 20 Jahren
Der Justizkrimi geht weiter
Verantwortung und Schuld
Glossar der Bergmannssprache
Quellenverzeichnis
Anmerkungen zu den Quellen der Kapitel
VORWORT
Am 1. Juni 1988 erschütterte eine Explosion die Braunkohlegrube Stolzenbach im Braunkohlerevier von Borken/Hessen. 51 Bergleute kamen bei dem Unglück ums Leben. Nach vier Tagen wurden sechs überlebende Bergleute entdeckt und in einer dramatischen Rettungsaktion zu Tage gebracht. Diese Rettung wurde als das „Wunder von Borken" bezeichnet. Das Unglück erschütterte das Städtchen Borken und seine Menschen, die damals von und für den Bergbau und das Braunkohlekraftwerk lebten. Fast jeder hatte Freunde, Bekannte, Verwandte, die von dem Unglück direkt oder indirekt betroffen waren.
Die Kohlenstaubexplosion, so hieß es in allen Untersuchungen und der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Kassel, sei unvorhersehbar gewesen. Niemand trage an dem Unglück eine Schuld. Über zwei Jahrzehnte legte sich die Patina der Geschichte auf die Ereignisse - bis im Jahr 2008 zwei Journalisten des Hessischen Rundfunks nachwiesen, dass das Unglück sehr wohl vorhersehbar war und es vielmehr um eine Katastrophe mit Ansage handelte.
Es dauerte über 27 Jahre, bis mit der Erstauflage dieses Buches die erste umfassende Darstellung der entscheidenden Tage im Juni 1988 sowie der Vor- und der Nachgeschichte erschien. Für die zweite Auflage musste ich nur wenige kleine Ungenauigkeiten und Fehler überarbeiten, auf die mich Leser aufmerksam gemacht haben. Lange schien es, als würde es bei diesen marginalen Änderungen bleiben. Im März 2016 wurde mir das gerichtliche Gutachten von Dr. Kohlschmidt übermittelt, auf welchem das Landgericht Kassel die Klageabweisung gegen die Verantwortlichen im Wesentlichen aufgebaut hatte. In alten Unterlagen fand ich einen Vortrag aus dem Jahr 1961, der unter anderem Ausführungen zur besonderen Gefährlichkeit der Braunkohlestäube im Revier Borken enthielt, und die gutachterlichen Feststellungen widerlegt. Diese Ereignisse und die Ausführungen hierzu sind im neu eingefügten Kapitel „Der Justizkrimi geht weiter" enthalten.
Der Prozess wird vor dem Oberlandesgericht Frankfurt fortgesetzt. Die Verantwortlichen weisen immer noch jede Schuld von sich.
Karlsruhe, im April 2016
TEIL 1: VORHER
1. Das Braunkohlerevier Borken
Im Jahr 1898 wurde beim Ausheben eines Brunnens im Dorf Arnsbach bei Borken ein mehrere Meter mächtiges Kohleflöz entdeckt. Es war der Rohstoff gefunden, der in den kommenden 93 Jahren das Bild, die Bevölkerung und das Schicksal des damaligen Ackerbürgerstädtchens Borken und seiner umliegenden Dörfer prägen sollte. Es war der Beginn von Wohlstand und starkem Bevölkerungszuzug, aber auch von Entbehrung, Gefahr und blindem Vertrauen in die Macht des reich machenden Rohstoffs Braunkohle.
Nur zwei Jahre später, im Jahr 1900, wurde schon die Braunkohle in der Grube Arnsbach im Tiefbau abgebaut.
Im August 1922, nur wenige Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und noch mitten in der wirtschaftlichen Depression der Nachkriegsjahre, wurde der Grundstein für das Braunkohlekraftwerk Borken gelegt.
Im Jahr 1927 wurden verschiedene Kraftwerke und Abbaugebiete vom preußischen Staat zu der Preußischen Elektritäts AG fusioniert. Das Braunkohlerevier Borken gehörte nun jenem Konzern, der über Jahrzehnte die alles bestimmende Macht in Borken sein sollte: der späteren PreußenElektra AG, von allen kurz PREAG genannt, welche noch viel später in der heutigen E.ON SE aufging.
Im Jahr 1925 waren schon 236 Menschen im Bergbau beschäftigt, 10 Jahre später waren es bereits 356. In den Jahren des zweiten Weltkriegs betrug die Zahl etwa 1.000 Menschen, bis 1963 stieg die Zahl der bei der PREAG Beschäftigen auf 1.609 Menschen an. Die Stadt Borken, einst nicht mehr als ein Dorf mit Stadtrechten, wuchs von 1.226 Einwohnern im Jahr 1910 auf 5.130 Einwohnern im Jahr 1970. Mit den umliegenden Dörfern, die meist ebenso durch die Braunkohle geprägt waren, hatte die Großgemeinde Borken/Hessen im Jahr 1975 insgesamt etwa 15.000 Einwohner.
Geht man von den Beschäftigten im Bergbau und im Kraftwerk aus, zählt man deren Partner, Kinder sowie die verrenteten PREAG-Mitarbeiter mit, rechnet man dann noch die Arbeitsplätze hinzu, die durch die beträchtliche Kaufkraft der PREAG-Mitarbeiter im Borkener Einzelhandel und im Handwerk gesichert wurden, so lebte mehr als die Hälfte der Einwohner direkt oder indirekt von der Braunkohle. Oder von der PREAG, so wie es die Einwohner bevorzugt sahen.
Braunkohlbergbau und Kraftwerk oder – je nach Lesart - die PREAG eröffneten begabten und fleißigen Menschen einen sozialen Aufstieg, die aufgrund ihres sozialen Hintergrundes oder ihres Bildungsstandes in der Gesellschaft der Weimarer Republik niemals auf einen solchen Aufstieg hätten hoffen können.
So wie Fritz Witzel aus dem Dorf Mosheim, nördlich von Homberg. Geboren wurde er im Jahr 1900 als ältester Sohn eines Steinbrucharbeiters. Nach dem frühen Tod seines Vaters musste Fritz nicht nur für seine Mutter und seine vier jüngeren Geschwister sorgen, sondern ab dem Jahr 1923 auch für seine Frau und sein erstes Kind. Im nur etwa 20 Kilometer entfernten Borken wurde 1923 das Braunkohlekraftwerk gebaut. Trotz der in Deutschland vorherrschenden Wirtschaftskrise wurden in den Gruben junge Männer wie er gesucht, die Erfahrung aus den Steinbrüchen mitbrachten. Also fing Friedrich Witzel im Tiefbau in Borken als Bergarbeiter an. Er schaffte es, alle Familienmitglieder satt zu bekommen.
Fritz war trotz seiner dürftigen Bildung von nur wenigen Jahren Volksschule ein kluger Mann. Und er konnte organisieren. Im Jahr 1930 gründete er mit anderen Bergleuten aus Mosheim einen Verein, legte mit den Kollegen Geld zusammen, machte den Busführerschein und kaufte einen kleinen Bus. Angeführt von Fritz Witzel setzen die Bergarbeiter durch, dass alle Mosheimer Bergleute nur noch zu gemeinsamen Schichten eingeteilt wurden, damit sie zusammen im neuen Bus von Mosheim nach Borken pendeln konnten.
1937 wurde er Reichssieger im Berufswettkampf des nationalsozialistisch gewordenen Deutschen Reiches. Als Belohnung durfte er für knapp drei Jahre auf die Bergschule in Clausthal-Zellerfeld. Er war mit 37 Jahren der älteste Teilnehmer und zudem der einzige seines Studienjahrgangs, der ausschließlich die Volksschule besucht hatte. Mit viel Intelligenz und noch mehr Disziplin ergriff er die einmalige Chance, in seinem Alter und mit seiner Bildung noch eine Fachhochschule besuchen zu dürfen.
Fritz Witzel sollte sein Diplom vom „Führer persönlich verliehen bekommen. Als alter (und immer noch heimlicher) Sozialdemokrat sagte er den Verleihungstermin mit dem „Führer
in Berlin nur deshalb nicht ab, weil seine Frau Anna ihn anflehte, wegen der beiden Kindern und ihr auf diese politisch gefährliche Geste zu verzichten. Seine Solidarität gehörte nicht dem Staat, der sich nun als das „Dritte Reich" bezeichnete, sondern seinen Kollegen und der PREAG, jenem Unternehmen, dem er in seinen Augen den Aufstieg verdankte.
Der nunmehr diplomierte Bergbauingenieur Friedrich Witzel zog mit der Familie nach Trockenerfurth bei Borken, ging zurück in den Tiefbau, wurde dort Fahrsteiger und schließlich von 1954 bis zu seiner Verrentung Betriebsleiter im damaligen Tiefbau Altenburg 1 nahe dem Borkener Dorf Trockenerfurth.
Borken hatte Arbeit, viel Arbeit. Direkt nach dem 2. Weltkrieg, noch vor der Währungsreform von 1948, bekamen zahlreiche Kriegsheimkehrer aus der Region sofort eine Beschäftigung. Mit dem sogenannten Wirtschaftswunder Anfang der Fünfzigerjahre fanden die Vertriebenen in Borken Arbeit und Heimat: Im Kraftwerk, beim Führen der Eisenbahnen und der Reparatur der Maschinen, als Bürogehilfen oder als Bergleute und Handwerker im Tief- und im Tagebau.
Noch später folgen die damals noch Gastarbeiter genannten Migranten, vornehmlich aus der Türkei.
Die Borkener Braunkohle wurde seit Ende der Fünfzigerjahre mehrheitlich im Tagebau abgebaut. Dies ist bei dem Braunkohlebergbau die übliche Abbauvariante, weil die Braunkohle im Gegensatz zu der meist im Tiefbau abgebauten Steinkohle geologisch noch sehr jung ist und deshalb nah an der Erdoberfläche liegt. Der Abbau im Tagebau kann nach dem Abtragen der oberen Erdschichten viel kostengünstiger als die Förderung im Tiefbau erfolgen.
Wie viele andere nordhessische Braunkohlereviere wies auch das Borkener Revier einige Besonderheiten auf. So lag ein Teil des mächtigen Braunkohleflözes tief unter der Erde, so dass die Förderung teilweise im Tiefbau erfolgen musste. Diese Besonderheit bewirkte, – für den späteren Verlauf der Dinge fatal - dass ein Rohstoff hier ausnahmsweise im Tiefbau abgebaut wurde, obwohl deutschland- und weltweit die allermeisten Bergbauerfahrungen auf einem Abbau im Tagebau beruhten. Entsprechend richtete sich auch die Forschung, die Ausbildung und letztlich das Sicherheitsdenken der meisten Verantwortlichen an Lehrsätzen aus, die im Tagebau und nicht im Tiefbau gewonnen wurden.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden rund um Borken die Tagebaufelder Altenburg 4, Singlis und Gombeth ausgebeutet. Parallel dazu, organisiert durch jene PreußenElektra AG, welche mit dem gleichen Führungspersonal die genannten Tagebauten betrieb, wurde in den Gruben Altenburg 4 und Weingrund die Braunkohle im Tiefbau gefördert.
Das Braunkohlevorkommen bei Stolzenbach war bereits Anfang der Zwanzigerjahre durch die Gewerkschaft Frielendorf nachgewiesen worden. Anfang der Fünfzigerjahre wurde direkt südwestlich des kleinen Dorfes Stolzenbach mit der Anlegung des Zechenhofes begonnen, um einen Tiefbau bei Stolzenbach einzurichten. Die Arbeiten gestalteten sich anfangs sehr aufwändig. Das Deckgebirge war an dieser Stelle schwierig, so dass es häufig zu Wasser- und Sandeinbrüchen kam und die Arbeiten zwischenzeitlich unterbrochen werden mussten.
Der erste Schacht erreichte schließlich 1956 die Tiefe des Kohleflözes. Danach wurde mit den Ausbauarbeiten unter Tage begonnen, bis in der Grube Stolzenbach im Mai 1958 schließlich die erste Braunkohle gefördert werden konnte.
Die Grubenanlage lag etwa fünf Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum Borkens entfernt. Das Abbaugebiet grenzte im Westen direkt an das zur PREAG gehörende Gebiet Weingrund. Nachdem sie die Grube Stolzenbach seit dem 1. Januar 1968 zunächst nur über mehr als sieben Jahre gepachtet hatte, erwarb die PREAG zum 31. Dezember 1975 schließlich die Abbaurechte für das gesamte Gebiet der Grube Stolzenbach.
Zwischen dem Abbaugebiet Weingrund, welches sich direkt südwestlich an das Stadtgebiet Borken anschloss, und dem Abbaugebiet Stolzenbach im Borkener Südosten liegt der Stolzenbacher Graben. Hierbei handelt es sich um eine bis zu 200 Meter mächtige geologische Verwerfung aus Sand und Ton mit starken Wasserläufen, die sich zwischen dem westlichen und östlichen Abbaugebiet erhebt. Vereinfacht gesagt wurde das ehemals einheitliche und durchgängige Braunkohleflöz im Borkener Kohlerevier durch Spannungen in der Erdoberfläche getrennt, so dass das westliche Gebiet Weingrund separiert von dem östlichen Gebiet Stolzenbach abgebaut werden musste.
Solche geologischen Details mögen zwar zunächst bedeutungslos erscheinen, für die Zurechnung der Verantwortung für das spätere Unglück kommt dieser Trennung eine wichtige Bedeutung zu. Für die Verantwortlichen der PREAG waren die Gruben Weingrund und Stolzenbach zwei verschiedene Lagestätten mit unterschiedlichen Betrieben. Geologisch jedoch handelte es sich aber um ein und dieselbe Braunkohle.
Unter der Leitung der PREAG hatte sich die Grube Stolzenbach im Laufe der Jahre zum flächenmäßig größten Tiefbau des Borkener Braunkohlereviers entwickelt. Ende der Siebzigerjahre war der Betrieb noch einmal ausgebaut und modernisiert worden.
Vom oberirdischen Zechenhof nahe dem Dorf Stolzenbach führten nun zwei schräg verlaufende Stollen unter Tage. Über den erst 1980 angelegten Materialschrägstollen wurden mit einer Schienen-Hängebahn, meist als Seilbahn bezeichnet, vorrangig Material und technische Geräte in die Grube transportiert. Durch den im Jahr 1962 gebauten Förderschrägstollen führte ein Förderband, welches die gewonnene Kohle nach oben trug und direkt in den oberirdischen Kohlebunker förderte.
Der bereits 1956 erschlossene Hauptschacht wurde jetzt nur noch zur Personenbeförderung benutzt. Die Bergleute gelangten über den Personenförderkorb, der ähnlich einem Fahrstuhl durch den senkrechten Förderschacht nach unten und oben fuhr, in den Tiefbau.
Im Bereich unterhalb des Zechenhofes, der durch die beiden Schrägstollen und den Förderschacht erschlossen wurde, trafen alle unterirdischen Gänge – in der Bergmannssprache als Strecken bezeichnet - zusammen. Dort befanden sich auch die Sprengstoffkammern, in denen unterirdisch Sprengstoff und Zünder gelagert wurden.
Unter Tage bestand der Tiefbau mittlerweile aus dem Nordfeld, dem Südfeld und dem jüngsten Bereich, dem Ostfeld.
Sämtliche Hauptverbindungswege unter Tage, die Hauptstrecken, trafen unterhalb der Tagesanlagen, also im Bereich des Hauptschachtes und der beiden Schrägstollen, zusammen.
Die erste lange Hauptstrecke führte in nordwestlicher Richtung durch das Nordfeld. Das Nordfeld war westlich und östlich seiner Hauptstrecke bereits völlig abgebaut; nur am Nordrand des Nordfeldes waren noch Teile des Kohleflözes zu fördern.
Zwei weitere Hauptstrecken verliefen im Abstand von etwa 30 Metern parallel nebeneinander in östlicher Richtung. Südlich dieser beiden Hauptstrecken lag das Südfeld, welches bis auf einen kleinen Rest bereits vollständig abgebaut war. Nördlich dieser beiden Hauptstrecken lag das Ostfeld, in dem es noch die größten, nicht abgebauten Braunkohlereserven gab. Die durch das Ost- und das Südfeld führenden beiden Hauptstrecken knickten am Ende noch nach Norden ab und erschlossen mit diesem Knick das Ostfeld weiter in nordöstlicher Richtung. Vom Ende des Streckennetzes im äußersten Ostfeld waren es etwa zweieinhalb Kilometer Entfernung bis zum Ausstieg über den Hauptschacht.
Neben dem Materialschrägstollen, dem Bandschrägstollen und dem Förderschacht könnte man noch über drei andere Wege in die Grube gelangen, nämlich den nördlichen, den südlichen und den Hauptwetterschacht. Alle drei Schächte waren wesentlich schmaler als der Hauptschacht und dienten eigentlich nur der Bewetterung, also der Versorgung der Grubenanlage mit Frischluft. Allerdings waren in den Wetterschächten jeweils Trittleitern eingebaut, so dass eine Person in die Grube herunter klettern konnte.
Der Hauptwetterschacht lag überirdisch direkt auf dem Gelände des Zechenhofes, nur unweit vom Förderschacht entfernt. An seinem Ende befand sich unter Tage ein großer Ventilator, die Hauptbewetterungsanlage.
Der südliche Wetterschacht lag etwa 100 Meter südöstlich des oberirdischen Zechenhofes, jenseits der kleinen Straße von Dillich nach Stolzenbach, und bewetterte die Strecken des Süd- und Ostfeldes.
Der nördliche Wetterschacht befand sich über einen Kilometer nördlich des Zechenhofes relativ unzugänglich im Wald und bewetterte das Nordfeld.
Der oberirdische Zechenhof lag direkt an der Straße und umfasste eine Reihe von Betriebsgebäuden. Er wurde dominiert von dem Materialschrägstollen und der Seilbahn, die aus dem Stollen heraus ragte, sowie dem nahe stehenden Kohlebunker, in welchen der Förderbandschrägstollen mündete, so dass die abgebaute Kohle über das Förderband direkt in den Kohlebunker getragen wurde. Südlich dieses Zentrums lagen die Bahnanlagen mit der Zechenbahn, die das Grubengelände mit dem Braunkohlekraftwerk verband, sowie der Holzplatz. Östlich des Zentrums befanden sich die Schachthalle mit dem Ausgang des Förderschachtes und die eigentlichen Betriebsgebäude, bestehend aus der Elektro- und der Metallwerkstatt sowie dem Hauptgebäude mit den Sozialräumen und dem Verwaltungstrakt.
Die Grube Weingrund war im Jahr 1980 restlos ausgebeutet und wurde geschlossen. Das Kohleflöz in Borken war nicht sonderlich mächtig, aber die Braunkohle war sehr energiereich. Das Kraftwerk benötigte beständig weitere Braunkohle. In Stolzenbach wurde die Kohle daher durch neue Abbaumethoden mit immer größerer Intensität abgebaut. Das Ostfeld wurde sehr zügig erschlossen.
Auch wenn in den Achtzigerjahren aus der Grube Stolzenbach und den Tagebauten noch genügend Kohle gefördert wurde: Es war unübersehbar, dass die Vorräte an Braunkohle in Borken langsam aber sicher zur Neige gingen. Zwar hätten neue Abbaustätten in unmittelbarer Nähe, so beispielsweise in Frielendorf, zur Verfügung gestanden. Der Aufschluss solcher Abbaustätten wurde von der PREAG aber als unwirtschaftlich abgelehnt.
Die Tage des Braunkohlereviers Borken waren gezählt. Die Schließung der Grube Stolzenbach war für das Jahr 1991 geplant. Kurz darauf, im März 1993, sollte auch das Braunkohlekraftwerk Borken den Betrieb einstellen.
Die wirtschaftliche Grundlage der Stadt Borken und seiner umliegenden Dörfer war dadurch in Frage gestellt. Was dies für die Zukunft der Stadt bedeutete, wurde in Borken umso verbissener diskutiert, je näher