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August Macke: Ein Farbenroman
August Macke: Ein Farbenroman
August Macke: Ein Farbenroman
eBook388 Seiten6 Stunden

August Macke: Ein Farbenroman

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Über dieses E-Book

27 Jahre nur. Nicht älter ist August Macke geworden. Dennoch schuf er ein solch eindrucksvolles Werk, dass er zu den größten deutschen Künstlern zählt. Ein kurzes, ein intensives Leben, ein Leben für die Kunst. 1887 in Meschwede im Sauerland geboren, aufgewachsen in Köln und Bonn, brach August Macke gegen den Willen des Vaters die Schule ab, um Maler zu werden.
Doch die trockene Ausbildung an der Düsseldorfer Akademie war ihm schnell zuwider. Er suchte und fand Anregungen anderswo, bei seinen Spaziergängen, in der Natur, im Theater, bei den damals verpönten französischen Impressionisten und Fauvisten.
Mit erstaunlicher Energie ging der junge Künstler seinen Weg, selbstbewusst und voller Neugier. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft wurde seine große Liebe, Elisabeth, die Industrielentochter, die er, der frühe Halbwaise, gegen alle Widerstände für sich gewann.
Von einer der wundersamsten Liebesgeschichte der Kunstgeschichte ist zu erzählen, einer partnerschaftlichen Beeinflussung und Förderung.
SpracheDeutsch
HerausgeberBernstein
Erscheinungsdatum15. März 2016
ISBN9783945426227
August Macke: Ein Farbenroman
Autor

Johannes Wilkes

Dr. Johannes Wilkes, Jahrgang 1961, führt eine sozialpsychiatrische Praxis in Erlangen und ist Vater von drei Kindern. Er ist Autor von Fachartikeln in psychotherapeutischen Zeitschriften, außerdem sind von ihm Erzählungen und Romane erschienen.

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    Buchvorschau

    August Macke - Johannes Wilkes

    AUGUST MACKE

    Ein Farbenroman

    Johannes Wilkes

    Mit einem Nachwort von

    Til Macke

    Bernstein

    Dr. Johannes Wilkes, Jahrgang 1961, führt eine sozialpsychiatrische Praxis in Erlangen und ist Vater von drei Kindern. Er ist Autor von Fachartikeln in psychotherapeutischen Zeitschriften, außerdem sind von ihm Erzählungen und Romane erschienen.

    www.bernstein-verlag.de/autor/wilkes-johannes

    Abbildungen

    Cover – August Macke, »Promenade«,

    Öl auf Leinwand, 1913 (Ausschnitt),

    Städtische Galerie im Lenbachhaus,

    Sammlung ›Der Blaue Reiter‹

    Seite 3 – August Macke, Selbstbildnis,

    Öl auf Leinwand, 1906

    Original im Westfälischen Museum für Kunst-

    und Kulturgeschichte Münster;

    Mit freundlicher Genehmigung

    des Eigentümers / der Rechteinhaber

    1. Auflage, Bonn 2016

    © Bernstein-Verlag, Gebr. Remmel

    Herstellung-eBook: duotincta

    Alle Rechte vorbehalten

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter

    http://dnb.dnb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-945426-22-7

    Besuchen Sie uns im Internet unter:

    www.bernstein.de

    www.bvb-remmel.de

    Ein schmaler Streifen Papier, zwei Zeilen kurz. Wieder und wieder zieht er ihn aus der Westentasche, liest ungläubig und schüttelt dann den Kopf. Unbändig will die Freude in ihm aufsteigen, doch er zwingt sich zur Ruhe, blickt angestrengt zum Fenster hinaus. Sich bloß nicht wieder zu früh freuen! Nicht schon wieder die Enttäuschung ertragen müssen, den Spott der Freunde. Wie oft hat ihn die Hoffnung doch bereits betrogen! Vielleicht ist es ja auch dieses Mal wieder ein Mädchen, wieder nur ein Mädchen. Fünf Töchter hat seine Frau bereits zur Welt gebracht und nun soll es ein Junge sein?

    Mit Ungeduld sieht er die verschneite Landschaft vorbeiziehen. Drei Tage ist das Jahr erst alt. Auf die heftigen Schneefälle folgte strenger Frost. Durchgefroren sind die Böden, hart wie Granit. Selbst mit ihren Eisenpickeln kommen seine Arbeiter nur mühsam voran. Dennoch ist er gleich nach den Festtagen wieder zur Baustelle hinausgefahren. Zu Hause, wo alles nur noch von der bevorstehenden Geburt sprach, hatte er es nicht ausgehalten. Er musste fort, hatte dringende Pflichten vorgeschoben.

    Der weiße Dampf der Lokomotive vermischt sich mit dem aufstiebenden Schnee zu einer wirbelnden Gischt. Schemenhaft erscheinen in dem dichten Gestöber die schwarzen Wasser der Ruhr, deren Windungen der Zug folgt. Höher und höher geht es hinauf, in vielen Kurven durch die verschneiten Hügel. Tausend sollen es sein, wer weiß es schon genau, wer hat sie gezählt? Land der tausend Berge, so nennen sie das Sauerland. Im Herzen Deutschlands liegt es und war doch lange Zeit völlig abgeschieden. Bis die Ingenieure kamen und die Bahnstrecken bauten. Mit der Bahn kamen die Fabriken und die Erweiterung der Bergwerke. Er selbst ist einer dieser Ingenieure. Tiefbau. Bahnstrecken und Dämme, damit kennt er sich aus, das ist sein täglich Brot. Hier im Sauerland, bei einem der Trassierungsprojekte, hat er seine Frau Florentine kennengelernt, Dina, die Tochter eines wohlhabenden Bauern. Nach der Hochzeit hat er sich selbstständig gemacht, hat zusammen mit seinem Schwager ein eigenes Ingenieurbüro eröffnet. Die Geschäfte laufen neuerdings schlechter, man muss um Aufträge buhlen, mit den Angeboten bis zur Schmerzgrenze hinuntergehen. Er weiß es selbst, zum Geschäftsmann taugt er nicht viel. Statt im Büro zu sitzen flieht er lieber hinaus, setzt sich auf einen Stein oder Baumstumpf und zeichnet. Schluchten, Täler und Berge sind seine Motive. Manche Trasse, die er durch die Landschaft schlagen soll, um Platz für eine neue Straße, für eine Bahnstrecke zu schaffen, schmerzt ihn heimlich. Eine Wunde, eine gewaltsame Störung des harmonischen Miteinanders. So ist er oft nur halbherzig bei der Sache, ein Träumer eher, ein Künstler vielleicht.

    Quietschend hält der Zug. Meschede. Endlich. Zu Fuß ist es nicht weit zu dem stattlichen Haus in der Schützenstraße, das er für sich und seine Familie vor ein paar Jahren hat bauen lassen. So rasch er kann, schlittert er über die gefrorene Schneedecke unter den alten Bäumen hindurch dem Hause zu. Hell leuchtet es ihm aus den Fenstern entgegen. Die Töchter haben den Vater als erste gesehen, öffnen ihm freudig die Tür. Er aber begrüßt sie nur flüchtig und stürmt gleich weiter in das Zimmer seiner Frau, wo er atemlos stehen bleibt. Die Hebamme auf dem Stuhl schaut ihn erschrocken an. In der Wiege neben dem Ehebett liegt schlafend das Kind.

    »Zieht es aus!«, ruft der Vater.

    Die Hebamme zögert, doch die erschöpfte Mutter nickt lächelnd, etwas vom ungläubigen Thomas murmelnd.

    Und so hebt die Hebamme den frisch gewickelten Säugling aus seinem warmen Nest und löst mit geschickten Fingern den Strampelanzug und die Windeln. Der plötzliche Kältereiz weckt den Kleinen. Er verzieht den Mund und fängt an zu schreien und vor Schreck und Kälte lässt er das Wasser rinnen. Über das Gesicht des Vaters aber geht ein Strahlen. Ein Junge! Tatsächlich ein Junge! Vorsichtig nimmt er ihn der Hebamme aus dem Arm und tanzt mit ihm durch das Zimmer.

    Die Taufe. Eine moderne Kirche am Rande der Stadt. Klein ist die evangelische Gemeinde hier in Meschede. Der Pfarrer lässt vorsichtig etwas von dem kalten Taufwasser über den Kopf des Kleinen fließen. August Robert Ludwig soll er heißen. Wie der Vater, August Macke. – Macke? So heißt man doch hier im Sauerland nicht. Hier heißt man Rölleke, Stratmann oder Wiebelhaus. Macke, so heißt man anderswo. In Niedersachsen, im Braunschweigischen, am Rande des Harzes. Von dorther stammt der Vater, aus Ellierode, dort hat seine Familie ihre Wurzeln. Der Eintrag im Kirchenbuch lautet: August Macke. Geboren am dritten Januar 1887.

    Was sieht man in seinen ersten Lebensmonaten, was nimmt man als Säugling war? Das Gesicht des Vaters, das stolze, das zufriedene, das überquillt von Freude und Liebe, den gütig-sanften Blick der Mutter. Aber auch das andere. Den verkniffenen Blick der Schwestern, Augen, die zu Schlitzen werden, sobald sie sich auf ihn richten. Ablehnung spiegelt sich darin, Neid und Eifersucht. Was willst Du hier bei uns, fragen diese Augen, was dringst Du ein in unser Reich? Stiehlst uns die Liebe des Vaters, du kleiner Balg! Seitdem Du da bist, ist nichts mehr wie früher! Wart’s nur ab, wir werfen Dich noch aus dem Fenster!

    Erst allmählich verändern sich die Blicke der Schwestern, werden langsam freundlicher, gewöhnen sich an den Bruder. Und bald schon streiten sich Auguste und Ottilie darum, wer den Kleinen spazieren fahren darf. Stolz schieben sie den Kinderwagen die Schützenstraße entlang, genießen die Aufmerksamkeit der Leute.

    Das erste Jahr vergeht. An der Hand seiner Schwestern macht August die ersten Schritte. Sie verwöhnen und verhätscheln ihn, oft muss die Mutter eingreifen: Nehmt ihm doch nicht alles ab! Er kann doch schon selbst den Löffel halten, was füttert ihr ihn noch?

    Ein sonniger Frühlingstag. Von Süden her braust ein warmer Wind übers Land, taucht den Himmel in ein tiefes Blau. Alles Ferne ist plötzlich zum Greifen nah. Die schroffen Felsen des Klausenberges, um welche die Ruhr einen Bogen schlagen muss, der Hainberg auf der anderen Seite, der wie ein Riesentier seinen Rücken waldborstig in die Höhe streckt, das weite Hügelmeer am Horizont. Vorne die Stadt mit ihren sauberen Fachwerkhäusern, schwarz und weiß geordnet, alle Linien und Flächen in strengen Mustern, schwärzlichblau glänzen die Schieferdächer darüber, bewacht von der Stiftskirche mit ihrem stolzen, vielfach gegliederten Turm. Fön über dem Ruhrtal. Die Augen des Knaben suchen den Himmel ab. Keine Wolke ist zu sehen. Die Schwestern geben ihm ein Windrad in die Hand, das sich knatternd in Bewegung setzt. Hält er es mit seinen kleinen Fingern an, so leuchtet es Rot und Gelb und Blau. Lässt er es los, so rast es gleich wieder los, ungeduldig, ein kreisender bunter Strudel, der dem Auge keinen Halt mehr bietet.

    Neunter März 1888. August ist gerade ein Jahr alt, da herrscht Aufregung in der ganzen Stadt. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht. Tot! Der Kaiser ist tot! Alles strömt zum Rathaus, zum Marktplatz, schwarze Anzüge und Uniformen, wohin man blickt. Die Flaggen werden auf Halbmast gesenkt. Kaiser Wilhelm ist tot, Wilhelm der Erste, der erste Kaiser des neuen deutschen Reiches. Viele, vor allem die Jüngeren, sind ehrlich betroffen, halten ihre schwarzen Hüte betreten in den Händen. Einige der Alten jedoch schauen ungerührt. Wer war er denn schon, dieser Wilhelm? Doch nur ihr Besatzer, der Gouverneur ihrer von den Preußen frech annektierten Provinz Westfalen. Böllerschützen treten vor und donnernd knallt es in den Himmel. Krähen schrecken auf und fliegen krächzend zum Klausenberg hinüber. Der Kaiser ist tot. Manche Träne glänzt auf im Auge der mit Orden verzierten Veteranen. Vor siebzehn Jahren, 1871, hat Wilhelm sie bei Sedan in die Schlacht geführt, in die Schlacht aller Schlachten, die Schlacht, die den Krieg gegen die Franzosen entschied. Was für ein Moment ist das gewesen, welcher Stolz hatte sie erfüllt, als sich Wilhelm in Versailles zum Kaiser krönen ließ. Im glänzenden, prächtigen Spiegelsaal. Mitten im Zentrum französischer Herrlichkeit. Was für ein Triumph! Ein deutscher Sonnenkönig. Ganz Deutschland war auf die Knie gesunken und hatte ihm gehuldigt. Alle Provinzfürsten, alle deutschen Länder hatten sich ihm untergeordnet. Bayern, Rheinländer, Westfalen? Nur noch Deutsche kannte man fortan. Schluss mit dem Flickenteppich. Deutschland war wieder was. Ein Volk, ein Reich, ein Kaiser. Zähneknirschend hatten die Franzosen die Demütigung mit ansehen müssen. Und sie hatten Rache geschworen. Rache für Sedan, Rache für die Schande der Kaiserkrönung mitten in ihrem Herzen. Der Tag der Abrechnung würde kommen, ganz gewiss, da waren sie sich sicher.

    Wieder knallen die Böller. Der kleine August erschrickt, fängt an zu weinen. Die Schwestern nehmen ihn auf den Arm, trösten ihn, halten ihm die Ohren zu, dann gehen sie mit ihm nach Hause. »Kaiser tot!«, spricht er auf dem Heimweg vor sich hin, ohne den Sinn der Worte begreifen zu können, »Kaiser tot!«

    Wie wird es mit dem Reich weitergehen? Nichts wird sich ändern, sagen die einen. Der Herr im Haus ist und bleibt Bismarck, der Reichskanzler. Er ist doch unser eigentlicher Herrscher und er wird es bleiben. Zu unserem Glück! Von Anfang an war er dabei, die Reichsgründung ist seine Idee, sein Lebenswerk. – Wilhelm, der tote Kaiser? War doch nicht mehr als eine Marionette! Hat alles abgesegnet, was Bismarck erdachte, hatte sogar gezögert, sich zum Kaiser krönen zu lassen. Nein, Bismarck ist unser Herrscher.

    Unterschätzt den neuen Kaiser nicht, sagen die anderen, die Bürgerlichen vor allem. Friedrich ist von anderem Format, gebildet, ein Freund Englands und der Künste, kein Militarist. Denkt an die wunderbaren Kunstmuseen, die er in Berlin schon errichtet hat! Er wird uns neue Freiheiten geben, wird das Parlament, wird die Parteien stärken. Aber krank ist Friedrich schon seit langem, geben manche zu bedenken. Genaues weiß man nicht. Wird er seine Ideen durchsetzen können? Die Zukunft bleibt unklar.

    Wochen später, Ostern 1888.

    »Was, jetzt noch ein Spaziergang? Es ist doch schon dunkel!«

    »Ach bitte, Mama«, betteln die Schwestern, »wir sind doch gleich wieder da! Wir wollen uns doch nur die Osterlichter anschauen, bitte erlaube es!«

    »Nun gut, aber dass ihr mir nur auf August aufpasst, hört ihr? Lasst ihn nicht zu nah ans Wasser!«

    Auguste und Ottilie stecken August in sein Wägelchen und ziehen ihn die Straße hinunter zur Stadt, dorthin, wo sich die Henne in die Ruhr ergießt. Viele Menschen haben sich hier versammelt, die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu sein, alle sind sie in feierlicher Stimmung. Alte Osterlieder erklingen. Ein jeder hält ein buntes Licht in der Hand, ein farbiges Glas, mit Wachs gefüllt. Als die Lieder verklungen sind, treten die Menschen vorsichtig zum Ufer hinunter und lassen ihre Gläser ins Wasser gleiten. Bald tanzen hunderte bunte Lichter auf den Wellen des Flusses, an dessen nördlichen Ufern noch die Schneereste glänzen. Die Gläser nehmen die Bewegung des Wassers auf, beginnen, sich um sich selbst zu drehen, kreiselnd treiben sie umeinander, schneller die einen in der Mitte des Flusses, bedächtiger die anderen im Schutze des Uferschattens. Auf den Wellen hüpfend schwimmen sie den Fluss hinunter, tragen ihr Licht hinaus in die Welt, Frühlingslichter, Osterlichter, Zeichen des neu aufbrechenden Lebens. Staunend sieht August diesen Lichtern nach. Die Schwestern nehmen ihn auf den Arm, heben ihn hoch, lassen ihn erst wieder zur Erde, als auch das letzte der Zauberlichter hinter der Biegung verschwunden ist. Er hebt seinen kleinen Arm und deutet mit dem Finger hinterher. Wasser, Wellen, Licht und Farbenglanz, was für ein Anblick!

    Neunundneunzig Tage. Mehr waren ihm nicht gegönnt. Wieder schallen die Böller durch das Ruhrtal, senken sich die Fahnen auf Halbmast. Friedrich ist tot, der neue Kaiser, der Kunstsinnige. Kehlkopfkrebs, ein schreckliches, ein unheilbares Leiden. Gestorben mit ihm auch die Hoffnungen vieler Deutscher. Hoffnungen auf mehr bürgerliche Freiheiten, auf ein Aufblühen der Künste, auf eine lange Friedenszeit. Auch Vater Macke ist enttäuscht. Aber er hat keine Zeit, sich lange bei solchen Gedanken aufzuhalten. Er hat größere Sorgen, persönlichere. Und außerdem – egal, was der neue, der dritte Kaiser des neuen Reiches nun bringen wird, Bismarck wird ja bleiben.

    Fort. Fort von Meschede, hinaus aus dem Sauerland, adé, du Land der tausend Berge! Große Leiterwagen bringen die Möbel zum Bahnhof, wo sie in einen schwarzen Waggon verladen werden. Das Haus, das schöne Haus mit dem weiten Garten und den alten Bäumen, sie mussten es verkaufen. Kein Geschäft ist hier mehr zu machen. Der Vater hat entschieden, musste so entscheiden. Seit dem Tode seines Schwagers, seines beruflichen Partners, laufen die Geschäfte noch schlechter. Der Bau der geplanten Talsperren im Sauerland, das große Projekt der Wasserversorgung für das Ruhrgebiet, verzögert sich weiter. Mit diesen gigantischen Bauwerken hätten sie Arbeit für Jahre bekommen. Nun, es ist nichts zu ändern, zu ländlich ist alles hier, zu weit weg sind die Industriestädte, wo das Leben pulsiert. Der Mutter fällt der Abschied von der Heimat schwer. Die Schwestern dagegen freuen sich. Ottilie ist vierzehn, Auguste wird sechzehn Jahre alt. Endlich in eine richtige Stadt, dorthin, wo es Straßen und Geschäfte, wo es schicke Menschen gibt. Ein Abenteuer für sie, kein Grund für Abschiedstränen. Auch Augusts Spielsachen hat man in eine Kiste gesteckt. Sein Steckenpferd, den Spielzeuglöwen und die Stoffpuppen, die ihm die Schwestern geschenkt haben. Scheppernd fällt die schwere Tür des Güterwaggons ins Schloss, ein schriller Pfiff, dann setzt sich die Dampflok schnaubend in Bewegung.

    Berge, Berge, Berge. Endlos zieht sich das Eisenband das Ruhrtal hinab. Dann jedoch verändert die Landschaft ihr Gesicht, die Berge weichen auseinander, geben Häuser und Fabriken frei, immer enger rücken die Städte heran, immer dichter wird das Dächermeer. Der Vater nimmt seinen Jungen auf den Schoß, lässt ihn aus dem Fenster blicken. Die dunklen Kinderaugen fangen an zu Staunen. Was es da alles zu entdecken gibt! Nie Gesehenes, Merkwürdiges. Schlanke hohe Kamine blasen ihre mächtigen weißen Wolken in den Himmel und eiserne Räder, an Türmen aufgehängt, ziehen lange Drähte aus der Erde. Fest presst August seine Nase an die Scheibe. Schließlich taucht ein großer, breiter Strom auf, eine weitgespannte Brücke darüber. In langsamer Fahrt geht es über das Wasser, zahlreiche Schiffe kann August darauf erkennen. Aufgeregt haut er mit den Fäustchen gegen die Scheibe, als er den Dampfer mit den Schaufelrädern entdeckt. Am anderen Ufer ragen plötzlich zwei riesige Türme in die Höhe, eine Kirche, ein Dom. Sie scheinen direkt darauf los zu fahren, mitten in die Kathedrale hinein. Im letzten Moment erst schwenkt der Zug nach rechts und rollt in eine große überdachte Halle aus Glas und Stahlgerippe. Das Ziel ihrer Fahrt ist erreicht. Köln am Rhein.

    In der Vorstadt. Die Brüsseler Straße im Westen der Stadt: Kiesgruben, Bauplätze, Felder und Holzlager. Hier wächst August auf. Ein Paradies für einen Jungen. Und Spielkameraden gibt es genug. Nicht die feinen Kölner Bürgerkinder, die wohnen woanders, in Lindenthal oder in den Straßen am Ring. Hier draußen wohnen Kinder von Bauern und Fabrikarbeitern. August hält es nicht in den vier Wänden. Ihn drängt es hinaus, selbst wenn es regnet. Er möchte herumstöbern mit seinen Freunden, möchte Abenteuer erleben. Wer klettert zuerst den Kiesberg hinauf? Wer traut sich, beim Holzlager ein paar Bretter für ihre Bude zu klauen? Wer balanciert über die frisch errichtete Hausmauer? Erst wenn es dunkel wird, muss er heim. Dreckig und verschmutzt und mit aufgeschlagenen Knien nimmt ihn die Mutter in Empfang. Sie schimpft ihn nicht aus, lässt ihm seine Freiheiten. Er muss sich doch austoben dürfen, er braucht doch das Leben da draußen.

    Ein großer, schwarzer Kasten. Hierin bewahrt die Mutter alles auf. Jeden Nagel, jedes Stückchen Draht, Schnüre, Kerzenstummel und Beschläge. Ein echtes Sammelsurium, eine Schatzkiste. Und immer, wenn ihr Junge erhitzt vor der Tür steht, weil er dringend eine neue Spitze für einen Pfeil braucht oder ein Seil für ein Lasso, dann lässt sie alles stehen und liegen und holt die Kiste hervor, kramt solange darin herum, bis sie das Passende gefunden hat. Mit glücklichem Gesicht sieht sie ihn dann mit seiner Beute davonrennen. Was ist eine Kindheit denn ohne das herrliche Gefühl der Freiheit?

    Auch sie selbst würde gerne öfters der Enge des Hauses entfliehen. Immer drückender wird die familiäre Atmosphäre. Die Geldsorgen hören nicht auf, der Neubeginn gestaltet sich schwieriger, als sie dachten. Aufträge bleiben aus, immer mutloser wird ihr Mann. Sie hilft ihm, wo sie kann. Bei einem Projekt möchte er als Teilhaber einsteigen, aber die Banken geben ihm keinen Kredit. Da springt sie ein, verkauft ihr väterliches Erbe, viele Tagwerk Land, gutes Sauerländer Land. Eine Weile scheint es besser zu laufen, machen sie sich Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Auch eine Magd werden sie dann wieder beschäftigen können, so wie damals in Meschede, in der geliebten Heimat. Doch die Träume platzen, das Projekt scheitert, die Sorgenfalten im Gesicht des Vaters werden immer tiefer. Sooft er kann, verlässt er nun das Haus, tröstet sich mit einem Bummel durch die Antiquitätenläden, nimmt Sachen mit, die er sich nicht leisten kann und die er vor seiner Frau zu verbergen sucht. Nur an den Sonntagen bleibt er daheim. Dann muss die ganze Familie in seiner Nähe sein, seine Frau und seine Kinder, darauf besteht er, selbst wenn er sich den ganzen Tag in sein Zimmer zurückzuziehen pflegt. Auch der kleine August darf an den Sonntagen nicht hinaus. In glücklichen Momenten lässt der Vater seinen Sohn für eine Stunde zu sich kommen. Dann zeigt er ihm seine Schätze, den Ordner mit den Zeitungsausschnitten etwa. Dort hinein hat der Vater Karikaturen geklebt. Eine Zeichnung zeigt den Kaiser mit stolz gezwirbeltem Bart hoch an Bord eines mächtigen Schiffes. Die Treppe hinab steigt mit gesenktem Haupt ein alter Mann. »Der Lotse geht von Bord«, steht darunter.

    »Nichts wird besser werden«, sagt der Vater bei dem Bild immer wieder, »mit Bismarck hat’s nicht funktioniert, aber ohne ihn funktioniert’s noch viel weniger.«

    Dann schließt er den Ordner wieder und zeigt August mit großem Stolz all das, was er auf seinen Spaziergängen zusammengekauft hat. Alte Stiche von meisterlicher Schönheit, seltene, gepresste Pflanzen hinter Glas, einen schillernden Schmetterling, groß wie eine Männerhand. Wie staunt August über all diese Zauberdinge. Am meisten aber gefällt ihm die Mappe mit den Zeichnungen des Vaters. Wie der Vater das nur hinbekommt, wie er mit ein paar einfachen Strichen ganze Landschaften entstehen lässt. Ein Wunder! Der Vater streicht August liebevoll über das glatte Haar. Und über sein müdes Gesicht gleitet der Anflug eines Lächelns. Sein Sohn, seine Hoffnung. Er wird alles einmal anders machen.

    Indianer. Indianer sind sie. Ein ganzer Stamm. Apachen natürlich, was sonst? Keine verschlagenen Sioux oder gar Komantschen. Hinten bei der Kiesgrube ist ihr Lager. Dort reiben sie sich mit bunter Kreide die Gesichter ein, schnitzen mit ihren Messern Pfeil und Bogen. Im Schneidersitz hocken sie im Kreis, lassen eine Pfeife kreisen. Es stinkt nach verbranntem Heu. Beißender Qualm steigt auf, Tränen schießen in ihre Augen, nur mühsam können sie das Husten unterdrücken. Pläne schmieden sie, düstere Pläne. Die Jungen von der anderen Straßenseite haben ihren Marterpfahl geschändet. Stinkend tropft der Urin den Stamm hinunter und auf einem daran gehefteten Zettel steht: Verpisst euch! – Das könnte den Kerlen so passen! Wenn sie einen von den Kojoten erwischen, dann wird Blut fließen, das schwören sie sich. Da kommt schon aufgeregt der Späher zurück. Der Feind ist entdeckt. Entschlossen greift ein jeder nach seinem Bogen, zusammen laufen sie den Bahndamm entlang. Nun vorsichtig und leise durch den hohen Sauerampfer, schon sind Stimmen zu hören. August führt seinen Finger zum Mund, dann schleicht er voran. Geschickt robbt er vorwärts, schlangengleich, ein magerer, sehniger Knabenkörper, dessen Haut von der Sonne verbrannt ist. Als die anderen den Käuzchenruf hören, stürmen sie mit gespannten Bögen los. Bald schwirren die Pfeile durch die Luft, aber der Feind ist nicht unvorbereitet. Von der Seite kommt der Gegenangriff, doch die Apachen weichen nicht zurück. Wieder zieht August einen Pfeil aus seinem Köcher, als ihn ein Schlag nach hinten reißt. Heftig schmerzt es ihn über dem rechten Auge. Benommen richtet er sich auf und greift nach der Stirn. Der Pfeil hat sich bis unter die Haut gebohrt, hellrot rinnt es ihm über sein Gesicht. Blut! O Gott, überall Blut! Plötzlich spürt er alle Kraft aus seinen Gliedern weichen, zitternd sinkt er zur Erde nieder, dann wird ihm schwarz vor Augen. Die Feinde ergreifen die Flucht, erschrocken versammeln sich seine Freunde um ihn, bilden einen Kreis.

    »Ist er tot?«, fragt einer.

    »Red nich so’n Quatsch«, sagt ein anderer und versucht, den Pfeil herauszuziehen.

    Die Wunde ist längst wieder verheilt, als August an einem hellen Frühlingsnachmittag die Brüsseler Straße entlang schlendert. Belustigt betrachtet er einen Nachbarsjungen, der vor ihm auf dem Gehsteig läuft. Hans heißt er, ein Mustersöhnchen. Und wie er heute aussieht! Wie ein gestopfter Gänserich! All seine Taschen sind zum Platzen mit bunten Eiern gefüllt. Die schönsten will er seinem Lenchen bringen, dem hübschen Mädchen aus der Nachbarschaft, deren blonde Zöpfe so lustig hüpfen, wenn sie übers Seil springt.

    »He, warte!«, ruft August ihm hinterher, »gib mir auch ein Ei!«

    Der Junge bleibt stehen und dreht sich um. Als er August sieht, geht ein breites Grinsen über sein Gesicht: »Vergiss es. Mal dir selber welche!«

    Das hätte er nicht sagen sollen. Pfeifend schlendert August auf ihn zu und wie er ihn erreicht, greift er blitzschnell zu und hält lachend ein Osterei in der Hand. Schon will er sich mit seiner Beute aus dem Staub machen, da trifft es ihn krachend am Hinterkopf. Volltreffer! Ohne lange nachzudenken, stürzt sich August auf den Eierwerfer. Mit geballten Händen schlägt er nach den Taschen seines Gegners, in wildem Stakkato sausen seine Fäuste und bei jedem Schlag gehen krachend ein paar Eier zu Bruch. Hans hält dagegen und knallt dem Eierdieb weitere Eier ins Gesicht. Die Eier sind nicht durchgekocht und so rinnt beiden Jungen bald die gelbe Soße über Kleidung und Gesicht. Das aber scheint sie nicht zu kümmern, sie hören nicht eher auf, bis auch das letzte Ei zerschlagen ist. Wie sie sich aber nach geschlagener Schlacht keuchend betrachten und erkennen, in welch jämmerlichem Zustand sie sich befinden, müssen sie plötzlich beide lachen. Sie prusten und kichern und es schüttelt sie so stark dabei, dass sie in die Knie gehen müssen. Als sie sich wieder halbwegs beruhigt haben, ziehen sie ihre Taschentücher hervor und versuchen, sich gegenseitig von der gelben Schmiere zu befreien. Der Anfang einer wunderbaren Freundschaft ist gemacht.

    Zusammen knien sie auf dem Boden. Vor sich ausgerollt, an den Enden mit Büchern beschwert, eine Tapetenrolle, Einmachgläser mit Wasser, Farben und Pinsel daneben. Hans ist mit dem unteren Rand beschäftigt. Sorgfältig malt er die vorgezeichneten Quader aus, eine Mauer, Stein für Stein, mit einem Tor in der Mitte. Sein Freund August lässt darüber eine Stadtsilhouette entstehen. Zwischendurch wirft er kurze Blicke auf eine Ansichtskarte. So genau wie möglich soll alles nach der Natur gezeichnet werden. Mit dem Maßwerk der Türme gibt er sich besondere Mühe. Die Domtürme sind das Erkennungszeichen, unverwechselbar Köln. Groß St. Martin setzt er daneben, niedriger, aber ebenso markant. Korrigieren muss er sich nur selten. Ein Blick auf die Vorlage und der Pinsel folgt ihm wie von selbst. Einen weiten Himmel malt er noch darüber, eine Abendstimmung. Rötlich schimmern die unteren Ränder der Wolken. Dann ist die Kulisse fertig. Zufrieden betrachten sie ihr Werk. Trocknen muss es noch, damit es nicht zerreißt. Morgen wollen sie es aufhängen.

    Gespannt warten die Zuschauer auf den Beginn der Aufführung. Sie sitzen auf einfachen Holzkisten in einem niedrigen Kellerraum. Da endlich geht der Vorhang auf und in weißem Hemd mit roter Weste erscheint das Hänneschen. Kunstvoll ist die Kulisse gestaltet. Tatsächlich, da hinten die Kirchtürme, das ist der Dom. Groß Sankt Martin, Severin und Sankt Ursula daneben. Auch in der übrigen Ansicht spiegelt sich die Domstadt. Die liebevoll gemalte Stadtmauer im Vordergrund jedoch verrät, dass das Stück nicht in Köln spielt, sondern vor seinen Toren, draußen auf dem Land, genauer gesagt in Knollendorf, wie das Hänneschen verrät, dem sich nun ein übel schielender Mann im Frack nähert, ein Wichtigtuer aus der Stadt, jemand, der sich für etwas Besseres hält. Dann beginnt das Stück, eine wilde Geschichte, reich an Verwicklungen, Intrigen und Prügeleien. Hänneschen ist der Held, freundlich, gewitzt, begeisterungsfähig. Bärbelchen, seine Schwester, steht ihm tapfer zur Seite. Schäl, der schielende Städter glaubt, mit raffinierten Tricks die Bauern hier draußen übers Ohr hauen zu können. So ene fiese Möpp! Als Opfer hat er sich seinen Verwandten Tünnes ausgesucht, ein behäbiger, gutmütiger Charakter, dem er reichlich Schabau eingießt, um seine Unterschrift für einen Landverkauf zu erhalten. Doch Hänneschen bekommt Wind von der Sache und zusammen mit Bärbelchen und Speimanes, einem bucklig-verwachsenen Wesen mit ewig feuchter Aussprache, drehen sie den Spieß um, aus Quadratmetern werden im Vertrag Quadratzentimeter und Schäl, der das zu spät bemerkt, ist der Gelackmeierte. Da hilft ihm auch sein Freund Schnäutzerkowsky nicht, der Schutzmann, der den schimpfenden Schäl schließlich zurück zur Stadt geleitet. Hans und August treffen sich nun immer öfter. Auch wenn sie ihre Indianerspiele nicht völlig aufgeben, so sind sie nun doch häufig im Haus zu finden. Sie haben das Zeichnen entdeckt, setzen sich gegenüber und einer porträtiert den anderen. Das Bild, das Hans von August gezeichnet hat, zeigt einen nachdenklichen, schmalen Jungen mit melancholisch dunklen Augen. Die schwarzen Haare sorgfältig gescheitelt, blickt er den Betrachter skeptisch lächelnd an. Eine Sehnsucht scheint in diesem Lächeln zu liegen, eine schmerzliche Hoffnung. Ganz anders die Zeichnung, die August währenddessen von seinem Freund gemacht hat. Hans volles Gesicht wirkt gutmütig und gemütlich, eine unbändige Zuversicht strahlt es aus, eine starke Lebenskraft. Ein wenig erinnert es an das Pappmaschee Gesicht der Tünnespuppe, wie Hans leicht verstimmt anmerkt. Eifrig bestreitet August Hans‘ Gedanken, auch wenn er ihm heimlich zustimmen muss und ein Schmunzeln nur mühsam unterdrücken kann. Hans wohnt ebenfalls in der Brüsseler Straße, das Haus der Thuars ist jedoch mit dem der Familie Macke nicht zu vergleichen. Der Vater von Hans ist Direktor der bekannten Victoria-Versicherungen, ein Macher, der sich vom Lehrling an die Spitze des Unternehmens empor gearbeitet hat. Alles, was er anpackt, scheint ihm zu gelingen. Klopft August an, so wird ihm von einer Magd geöffnet, die eine sorgfältig gestärkte Schürze trägt.

    »Ja, der junge Herr Macke! Treten Sie doch ein, ich werde Ihr Kommen Herrn Thuar Junior melden!«

    August muss verlegen lächeln. So vornehm geht es bei ihnen nicht zu. Und wie prächtig bei den Thuars alles ist! Überall hängen seltsam-schöne Kunstwerke, farbige Holzschnitte aus Japan und edle Aquarelle auf Reispapier. In dem Empfangszimmer wird ihm dann heiße Schokolade serviert. In einer silbernen Tasse! Dann geht’s hinaus auf Entdeckungsreise, lieber auf‘s Land, als in die staubige Stadt. Im Herbst klauen sie den Bauern Rüben vom Acker, höhlen sie aus und schneiden die absonderlichsten Fratzen hinein. Stellt man Kerzen hinein, so leuchtet es unheimlich in die Nacht. Immer vertrauter werden sich die beiden, immer enger wird ihre Freundschaft, jeden Tag verbringen sie miteinander, bis das furchtbare Unglück geschieht.

    Er hatte nicht aufgepasst. Für eine Sekunde hatte Hans nicht aufgepasst. Hatte sich umgedreht, war ins Stolpern geraten und hingefallen. Mitten auf der Straße. Gerade in dem Augenblick, als die Bahn vorüber kam, die vollbeladene Pferdebahn. Den Hufen der Gäule hatte er noch ausweichen können, nicht aber den Rädern. Mit ihrem ganzen Gewicht ist die Bahn über ihn hinweggerollt, über beide Beine. Warum hat der Kutscher nicht gebremst? Hat er den Jungen denn nicht gesehen? Ist er abgelenkt gewesen, wo hat er seine Augen gehabt? Gerichte werden sich später damit beschäftigen, werden die Entschädigungsfrage klären. Aber kann es wirklich eine Entschädigung geben? Ist in Geld aufzuwiegen, was hier verloren ging? Ein kleiner Moment und ein Leben ist zerstört.

    Gleich nachdem August von dem Unglück erfahren hat, rennt er los. Mit lautem Knall wirft er die Haustür ins Schloss, läuft die Brüsseler Straße hinunter, rennt durch das Tor in die Stadt hinein. Dort bleibt er für einen kurzen Moment stehen, keuchend, nach Luft ringend. Wohin jetzt? Hektisch sieht er sich um. Da vorne, dort geht’s weiter! Atemlos läuft er eine schmale Gasse entlang, stößt an Passanten, den stechenden Schmerz in den Seiten spürt er kaum. Endlich hat er das Krankenhaus erreicht. Die Ordensschwester am Eingang schüttelt den Kopf, als sie den verschwitzten Jungen mit dem roten Gesicht erblickt: »Besuchszeit erst morgen und nur in Begleitung eines Erwachsenen!« So lange kann er doch nicht warten. Wütend ist er, schaut sich um, dann stürmt er das Treppenhaus hinauf, gibt nicht acht auf das ärgerliche Rufen der Schwester hinter seinem Rücken. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastet er hinauf von Stockwerk zu Stockwerk. »Kinderstation«, liest er endlich, wischt sich über das schweißnasse Gesicht und stößt die Schwingtür auf. Ein langer Flur. Wo ist Hans? Zitternd öffnet er die erste Zimmertür.

    Zunächst erkennt er ihn nicht, stutzt, will die Tür wieder schließen. Nein, das kann nicht sein, das ist er nicht, das ist nicht Hans, nicht sein Freund! Was hat man nur mit ihm gemacht! Totenbleich liegt er da, die Augen tief in den Höhlen und als sie sich mühsam öffnen, scheinen sie durch den Freund hindurchzugehen. August bleibt wie angewurzelt stehen. Gott im Himmel! Dort, wo sonst die Bettdecke die Beine nachzeichnet, dort am Ende des Bettes ist alles so seltsam flach, flach und unwirklich, so, als läge dort niemand. Wie schrecklich klein sieht Hans auf einmal aus. Wo sind nur seine Beine geblieben? Hans bemerkt Augusts Blick und schlägt die Hände vors Gesicht. Heftig fängt er an zu weinen. Da kann sich auch August nicht mehr halten. Er stürzt auf ihn zu, umarmt den Freund, schlingt seine schmächtigen Arme fest um ihn, drückt ihn an sich und ihre Tränen verschmieren miteinander.

    Nachts liegt August schreckensstarr in seinem Bett. Warum kann er nicht weglaufen, warum kann er sich nicht mehr bewegen? Die Bahn kommt doch immer näher, er muss doch weg hier, endlich weg hier, es wird allerhöchste Zeit! Grimmig schauen ihn schon die stampfenden Pferde an, blutunterlaufen sind ihre Augen und aus den offenen Mäulern tropft der Schaum. Mit ihren Scheuklappen sehen sie aus, als wollten sie sich ins Gefecht

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