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Klumpeffekte
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eBook241 Seiten2 Stunden

Klumpeffekte

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Über dieses E-Book

Jedes Stück Mohnkuchen fördert den Realitätssinn.

Eigentlich ist der sensible Eigenbrötler Anselm als Heidelberger Chemiestudent in seinem Element. Als ihn aber der aufmüpfige Jürgen mit seinem geliebten Kraftrad fast über den Haufen fährt, geraten Einsiedlertum und Studiererei ins Wanken. Jürgen hingegen wurmen finanzielle Sorgen: "Ich habe ein Motorrad mitzuversorgen." Und auch der verträumte Pizzakellner Niccolo - der Dritte im Bunde - hat es nicht einfach: Bei ihm stehen "Antidepressiva statt Antipasti" auf dem Speiseplan.

Die Sehnsucht, dem ernsten und öden Alltag zu entfliehen, macht die drei zu Freunden und mündet in einen konkreten Plan: In einer schäbigen, abgelegenen Kellerwohnung in Ziegelhausen bastelt das Trio an einem flugtauglichen Motorrad.

Klotzen statt Kleckern ist die Devise!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Okt. 2015
ISBN9783765091094
Klumpeffekte

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    Buchvorschau

    Klumpeffekte - Christine Blech

    Natterfurth mit »th«

    Die Stadt lag mir zu Füßen. Das tat sie nicht oft, sondern, genau genommen, im Frühjahr 1999 zum ersten Mal. Normalerweise war es eine Ruine, der die Stadt zu Füßen lag. Doch ich fand, es gab einen Unterschied zwischen einer Ruine und mir, meistens jedenfalls. Die Ruine im Wald über Heidelberg war allgemein bekannt und beliebt, im Gegensatz zu mir. Sie war ein Schloss gewesen und hatte Jahrhunderte überdauert, während ich gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt war.

    Anselm Natterfurth heiße ich, Natterfurth mit »th«. Für seinen Namen kann man nichts, für sein Aussehen wenig. Nur meine Mutter bestritt das manchmal. »Mit etwas Pflege könnten deine Haare wunderschön sein«, meinte sie dann. Aber sie passten zu mir, die Haare, zum länglichen Gesicht, den hellblauen Augen hinter runden Brillengläsern, den langen, schlaksigen Armen und Beinen. Ich hatte kein Problem damit, ich hatte andere Probleme … Nicht immer war mein Haar kraus und aschbraun gewesen. Das wusste ich von meinen Eltern, von meinem Bruder Gerald, von Onkel Eduard und Tante Nele, der Zwillingsschwester meiner Mutter.

    In meiner Kindheit war Tante Nele fast jedes Wochenende nach Schwarzbronn gekommen, ins Badische zwischen Bretten, Mühlacker und Maulbronn. Der Ort fehlte auf jeder Karte, so klein war er. Am Dorfrand in der Waldenacher Straße, mit Wiesen und Äckern ringsum, war ich aufgewachsen. Tante Nele hatte mir oft die Familienalben gezeigt. Sechs dünne Beine und ein gekerbter Hinterleib – eine dicke, dunkle Libellenlarve schwamm zwischen ein paar Luftblasen unter Wasser. Das war das allererste Foto. Mein Vater hatte Biologie studiert und war zur Exkursion am Bodensee gewesen, da lernte er meine Mutter kennen. Man sah die beiden auf dem nächsten Bild, ein junges Paar, das vor bunten Blumenrabatten winkte. Mainau. Mai 69 stand daneben und einige Seiten weiter: Schwarzbronn. Frühjahr 71. Die Hecken und Sträucher um das helle Einfamilienhaus waren frisch gepflanzt. Bauschutt bedeckte den Gehweg. Am Betonmischer vorbei schob meine Mutter Gerald im Kinderwagen. Weitere Kinderfotos von Gerald folgten.

    Die vorletzte Seite war schwarz gerahmt. Selma Natterfurth. In Liebe und Dankbarkeit. Hermann mit Hannelore und Gerald. Münster. Februar 77 hatte mein Vater zittrig mit Tinte an die Todesanzeige geschrieben. Wer das Foto vom Beerdigungskaffee gemacht hatte, wusste weder mein Vater noch meine Mutter noch Tante Nele. In einer Wohnung mit alten Möbeln, inmitten ernster Mienen grinste eine Hochschwangere in die Kamera, meine Mutter. Sie kaute Zuckerkuchen und Torte. Gerald, zu dem Zeitpunkt sechs Jahre alt, war bei ihr. »Mama, wann bekomme ich denn meinen Bruder?«, hatte er gefragt, und wenige Stunden später war es soweit gewesen. Vom Kaffeetisch aus war meine Mutter ins Krankenhaus, im Krankenhaus war ich zur Welt gekommen. Das letzte Bild im ersten Band: ein schlummernder Säugling, halb verhüllt in Laken, mit einem glatten, hellen Flaum auf dem Kopf.

    Schwarzbronn

    Die Stadt lag mir zu Füßen. Unten im Westen erstreckte sich das Häusermeer. An diesem sonnigen Sonntagnachmittag, Frühlingsanfang 99, hatte ich den Königstuhl bestiegen. Ich saß am Aussichtspunkt auf einer niedrigen Steinmauer, ließ meine Beine über die Brüstung und den Hang baumeln.

    Schwitzende Spaziergänger stapften hinauf und traten hinter mich. Ich hörte ihre hellen Stimmen, drehte mich um. Drei Japaner standen am Berglokal gegenüber unter einem Dachgiebel mit Hirschgeweih. Ein zierlicher Herr mit Schlitzaugen wies auf seine Kamera und fragte: »Photo taking?«

    »No, thank you«, erwiderte ich.

    Ich kannte sie, die Bilder mit Hirschgeweih – aus der Erinnerung und aus dem zweiten Band. In Schwarzbronn, im Gasthaus Zum Goldenen Hirschen, hingen Geweihe an allen Wänden. Ich war vierzehn, als ich dort auftrat. »In Schwarzbronn», sagte mein Vater, »gibt es mehr Vereine als Menschen. Ein bisschen soziales Leben gehört dazu. Mach dir nichts daraus, ein Blockflötenfink zu sein.«

    Frühjahr 91. Ein Gardebruder hatte die Aufnahme beim Schützenfest gemacht, dreißig Knaben in weißen Hemden auf einem Podest. Ich stand hinten am Rand. Mein Kopf – nussbraune Locken – überragte den des Nebenmannes, eine Blockflöte ruhte in meiner Hand.

    Eingezwängt zwischen Uniformen trank ich nach dem Auftritt das erste Bier meines Lebens. Heftig schlug jemand auf meine Schulter. »Sagen wir nicht guten Abend?«

    »Ich weiß nicht«, stotterte ich, »ob Sie guten Abend sagen, Herr Prohl.«

    Mein Erdkundelehrer sah mich fest an – solange, bis prustend Bier aus meinem Mund spritzte.

    Ein zweiter Schütze zog die Brauen zusammen und hob den Zeigefinger, Pastor Scherer. »Am Dienstag nach der Konfirmandenstunde«, zischte er, »reden wir über respektvolles, menschliches Miteinander.«

    Herr Prohl schüttelte den Kopf, leerte sein Glas und grinste. »Ts, ts, Alkohol in jungen Jahren.«

    Sommer 91. Ein Kellner aus dem Goldenen Hirschen hatte uns einige Monate nach dem Schützenfest im Biergarten abgelichtet: mein Bruder Gerald und Onkel Eduard in der Mitte, rechts meine Eltern, links Tante Nele und ich. Weinlaub umrankte ein Gitter. Auf dem Tisch stand der große, lederne Vertreterkoffer meines Onkels. »Alles für den angehenden Ulmer Studenten, haha«, dröhnte er. Gerald bekam Rasierwasser und einen Humpen aus daumendickem Glas.

    Quer über den Tisch warf Onkel Eduard ein drittes Päckchen. »Fang!« Ein weißes Stück Stoff, in Folie geschweißt, fiel vor meine Füße. »Von der Bau- und Chemiemesse im Mai. Hol es mal raus.« Ich las den Werbeaufdruck Stuttgarter Chemie-Tage 1991, hielt das T-Shirt vor meine Brust. Onkel Eduard lachte. »Fast bis zu den Knien! Das wird ein schöner Laborkittel.«

    »Vielleicht sollte lieber Gerald …?«, setzte ich an, doch Gerald winkte ab.

    »Unsinn. Das Shirt ist für dich. Ich studiere Medizin, nicht Chemie. Soll ich für meine Kommilitonen etwa den Clown abgeben?«

    * * *

    Sommer 1991. Gymnasium Maulbronn. Auf dem Klassenfoto der 8b trug ich Onkel Eduards T-Shirt. Der Schulfotograf hatte darüber gelacht.

    »He, Schlafmütze! Tritt nicht auf dein Nachthemd!«, rief jemand nach der Schule. Er drängte sich vor mir in den Bus. An der Haltestelle Schwarzbronn-Mitte stieg ich aus, direkt vor dem Firmenschild auf der Straßenseite gegenüber:

    Öko-Teck – Biochemisches Analyselabor

    Hermann Natterfurth, Diplom-Biologe

    Reinhard Seybold, Diplom-Biologe

    Dr. Rolf Suhrmann, Biochemiker

    Es war noch nicht lange her, dass mein Vater und seine Kollegen ihre Stellen beim Gesundheitsamt gekündigt und sich mit Öko-Teck selbständig gemacht hatten. Ich klingelte an der Tür zum Labor, mein Vater öffnete sofort.

    »Anselm, du?«

    »Ja. Ich dachte, weil Mama meinte …«

    »Dass du siehst, wo dein Vater seine Tage verbringt? Ein andermal. Ein Labor ist nicht ungefährlich, weißt du. Man kann sich vergiften, verätzen …«

    Mein Vater schickte mich fort. Der Chemieunterricht vom selben Tag ging mir durch den Kopf: Der Lehrer hatte Metalle verbrannt, Natrium mit gelbem, Kalium mit rotem, Barium mit grünem Leuchten. Ich dachte daran, während ich durch die Georgenstraße trabte, den Marktplatz an der Michaelkirche überquerte bis in die Hirschgasse. Aus dem Dachfenster eines Fachwerkhauses quoll grauer Qualm. Gelbe und rote Flammen züngelten am Sims. Ich wartete auf Grün. Wie lange, ich hätte es nicht sagen können. Sirenen und Martinshörner tönten, ein Löschzug kam, das Feuer erlosch. Langsam trottete ich weiter in die Waldenacher Straße, über den Plattenweg bis vors Haus. Meine Mutter beugte sich aus dem Küchenfenster. »Anselm, was war los? Hast du etwas angestellt?«

    Heidelberg

    Vom Königstuhl aus schaute ich nach Süden. Richtung Heimat. Es war diesig, nur mit Mühe erahnte ich unten in der Ebene die Autobahn.

    Im Jugendgästehaus Maulbronn hatte ich nach dem Abitur Stühle gerückt, den Boden gefegt, die Nächte an der Pforte verbracht. Zivildienst. Danach zog ich nach Heidelberg. Eineinhalb Jahre war es her.

    Mein Gepäck und mich auf der Rückbank, meine Mutter neben sich auf dem Beifahrersitz, lenkte mein Vater den Familienaudi quer durch Heidelberg in ein Villenviertel, meine Mutter las die Karte. »Philipp-Melanchthon-Haus, Handschuhsheimer Landstraße. Anselms Wohnheim muss ganz in der Nähe sein. Hörst du, Hermann?«

    »Ja, ja«, brummte mein Vater und parkte den Wagen unter hohen Alleebäumen.

    Ein weißes Haus mit Flachdach, viergeschossig, lag zurückgesetzt hinter einem Garten mit frisch gemähtem Rasen. Die Fensterfronten spiegelten die Nachmittagssonne orangegelb. Wir holten den Schlüssel vom Hausmeister und stiegen in den dritten Stock. Ein Flur mit sechs Schlafzimmern, einer Küche, einem Männer- und einem Frauenwaschraum. Mein Zimmer war ein schmaler Raum mit Bett, Schreibtisch, Bücherregal und einem Kleiderschrank aus abgenutztem, rötlichem Holz. »Hübsch möbliert ist es«, fand meine Mutter.

    Mein Vater schaute aus dem Fenster in einen schattigen Hintergarten. »Viel Sonne wirst du nicht bekommen. Hoffentlich ist es ruhig.«

    »Ansonsten mietest du eine Wohnung«, schlug meine Mutter vor. »Mittwochs und samstags sind Angebote in der Zeitung. Hat der nette junge Mann in Turnschuhen gesagt, dein Mitbewohner.«

    * * *

    Zu Weihnachten 97 fuhr ich nach Schwarzbronn, ein Erstsemester im dritten Monat.

    »Wie groß du geworden bist. Ein richtiger Student. Heidelberg …« Tante Nele umarmte mich im Flur. Ihr Blick glitt in die Ferne. In Heidelberg war sie zur Hochzeit mit Onkel Eduard gewesen, für Geschäfte verreiste Onkel Eduard alleine. »Bestimmt gibt es hübsche Mädchen dort?«

    In der Küche nebenan hantierte meine Mutter donnernd mit dem Backblech. Sie streckte den Kopf in den Flur. »Was ist mit feinen Plätzchen? Nele, hast du gekaufte mitgebracht? Die selbstgebackenen sind nichts geworden. Steinhart und verkohlt. – Hermann?«

    Mein Vater erschien, eine Zeitung unter dem Arm. Meine Mutter reichte ihm eine Tüte, in der sich dunkle Brocken abzeichneten. »Nimm die Kekse mit, wenn du das Altpapier rausbringst, ja? Du kannst gerne welche probieren.«

    »Feine Mädchen, nicht feine Plätzchen«, erwiderte Tante Nele, »ob Anselm das kennt, frage ich.«

    »Natürlich kennt er – das Video haben wir hier. Heidelberger Romanze, die schauen wir nachher. Hermann hat sicher im Bastelkeller zu tun.«

    Im Keller roch es nach Holz, Lötmetall und altem Öl. Mein Vater stand an der Hobelbank. Von oben klang Geigenmusik, melodisch und schräg zugleich. Wir hörten meine Mutter kreischen. »Dieser Erwin! Seine Verlobte sitzen zu lassen. Wenn sie nicht am Ende den Prinzen bekäme …«

    Seufzend strich mein Vater über seine Laubsäge. »Was deine Tante vorhin gesagt hat, überleg es dir. Eine Freundin zu finden, ist schön, sein Herz zu verlieren auch. Nur manchmal wünscht man sich, nicht den Verstand zu verlieren.«

    Manu

    Im Norden floss der Neckar. Vom Königstuhl aus betrachtet. Winzig wirkten die Hochhäuser des Neuenheimer Felds, wie Spielzeug. Fast immer wimmelte es dort zwischen den Instituten, den Kliniken, den Wohnheimen und der Mensa von Studenten. Ich konnte mich nur an ein einziges Mal erinnern, als ich allein über den Campus gestreift war, früh an einem Montagmorgen, im vergangenen Oktober, 98.

    Im Dämmerlicht war ich auf dem Weg zum Bäcker. Eine kleine, zierliche Gestalt schloss ein Fahrrad an einen Pfahl, ein Mädchen in dunkler Jacke, schwarze, kinnlange Haare, siebzehn Jahre alt höchstens. Sie winkte.

    »Na, zeitig auf den Beinen? Ging mir genauso. Ich brauche wenig Schlaf, ist höchstwahrscheinlich Veranlagung. Bedauerlicherweise sind hier die wenigsten vor neun Uhr ansprechbar. Es herrscht Funkstille oder zumindest einsilbige Kommunikation.« »Ja.«

    Das Mädchen betrachtete mich mit wachen, braunen Augen. »Du weißt, wovon ich rede?«

    »Relativ.«

    »Relativ, du sagst es. Der eine interessiert sich für Einsteins Relativitätstheorie, der andere für Sartre und Camus, der Dritte für Musik. So war es bei uns im Internat, so vielfältig. Apropos, verrätst du mir dein Studienfach?«

    »Chemie.«

    »Erstes Semester?«

    »Drittes.«

    »Umso besser«, meinte das Mädchen. »Du solltest freilich darauf achten, dass dein Horizont nicht bei der bloßen Materie verhaftet. Vielleicht belegst du Kurse in Mathematik und Philosophie? Wie ich. Seit letzter Woche bin ich eingeschrieben, primär für Mathematik, Philosophie ist mein Beifach, die Mutter aller Wissenschaften. Ich bin übrigens Manu. Manuela Seibt. Du kannst die Kurzform verwenden. Halb so viele Silben, das vereinfacht den Umgang.«

    »Anselm Natterfurth.«

    »Ein einprägsamer Name. Du bist mir bekannt vorgekommen, bereits von Weitem. Bestünde die Möglichkeit, dass wir uns kennen? Vom Bundeswettbewerb Mathematik oder von den Mensanern?«

    »Wohl eher aus der Mensa.« Mein Magen knurrte.

    Manu rollte mit den Augen, ihr Arm wies auf den grauen Gebäudekomplex mit dem Schriftzug Studentische Speiseanstalt.

    »Nein, ich sprach von Mensa e.V., dem eingetragenen Verein hochintelligenter Menschen. Ich bin Mitglied. Du offenbar nicht, wenn dir die Vereinigung unbekannt ist.«

    * * *

    Vielleicht war es Zufall, dass ich Manu wiedertraf. Zwei Monate nach unserer ersten Begegnung, an einem frostigen Freitagabend, radelte ich über den Campus. Es war Dezember. Fußgänger kamen mir entgegen, sechs junge Männer und eine Frau.

    »Anselm Natterfurth«, rief sie, »wohin des Wegs?«

    Ich bremste scharf, holperte drei Radumdrehungen über den Rasen und antwortete: »Zum Steinbruch nach Dossenheim.«

    »Für geologische Studien?«

    »Kalksteine sammeln fürs Bücherregal.«

    Manu fasste sich an die Stirn. »Du liebe Güte. Sag nicht, dass du niemals liest.«

    »Chemiebücher. Und Comics. Die Sammlung ist allerdings bei meinen Eltern. Ich wäre heute beinahe hingefahren.«

    »Doch die Steine schienen verlockender, so, so. Falls du der Verlockung für einen Abend widerstehen kannst, schließt du dich der Mathe-Physik-Clique an.«

    »Axel.«

    »Björn.«

    »Michael.«

    »Gerhard.«

    »Jan.«

    »Wolfgang.«

    Einer nach dem anderen stellte sich vor. Jan hatte eine Gelfrisur, die er mit den Fingern kämmte. Wolfgang war mittelgroß, gedrungen im Körperbau, mit glatten, blonden Haaren und kleinen, hellen Augen. Wir gingen ins Studentencafé Flora, schoben zwei kleine Tische zu einem größeren zusammen.

    »Fehlt nur Marie«, bemerkte Manu.

    »Wer?«, fragte Jan.

    »Marie«, entgegnete Manu, »aus meiner Lerngruppe mit Wolfgang und Gerhard. Lange, braune Haare, etwas verträumt.« Wolfgang nickte. »Ja, Marie. Ich hatte ihr mehr zugetraut als Moni und ihrer zickigen Freundin – wie heißt sie?«

    »Birte.«

    Ja, Mann

    Die Stadt lag mir zu Füßen – nicht mehr. Ich kehrte der Aussicht vom Königstuhl den Rücken und folgte der gewundenen Waldstraße bergab. Noch waren die Bäume wenig belaubt. Die Buchen bekamen erst in diesen Tagen zarte, grüne Blätter. Es war kühl im Schatten darunter. Ich zog einen Pullover über. Mein Kopf steckte in der Halsöffnung, da spürte ich den Stoß, hörte das Quietschen. Ich torkelte gegen etwas Hartes. Jemand hielt mich fest und nahm den Pullover fort. Ich sah Asphalt, Schotter, helle Punkte und Metall, schwarzsilbern blitzend. Sonnenlicht streute durch das Blätterdach.

    Ein Mann stützte ein Motorrad. Sein großer, schlanker Körper beugte sich zu mir. Die Handschuhe klappten das Helmvisier hoch. Blaue Augen blickten mich an, dazwischen eine schmale Nase.

    »Tut es sehr weh?«

    »Nein.«

    Mein linker Arm blutete. Der Motorradfahrer reichte mir ein Taschentuch aus Stoff. Die Fasern färbten sich rot.

    »Kannst du nicht hinsehen?«

    »Nicht mit einem Pullover vor Augen.«

    »Scheiße, Mann.«

    »Du musst weit außen gefahren sein in der Kurve«, überlegte ich. »Auf jeden Fall war die Fliehkraft stark.«

    »Fliehkraft. Wenn man sonst keine Sorgen hat. Ich hätte dich totfahren können. Ist dir das klar, Mann?«

    »Ja.«

    Ich dachte an meine Mutter, wie sie mich blutverschmiert gefunden hätte. »Du siehst aus!« Das sagte sie meistens, wenn ich das zerschlissene T-Shirt von Onkel Eduard trug.

    Der Motorradfahrer spähte auf meine Brust. Der Stoff war bräunlich verfärbt, die Buchstaben nach mittlerweile acht Jahren kaum mehr zu lesen. »Stuttgarter Chemie-Tage 1991, aha. Bist du Physiker oder Chemiker?«

    »Chemiker.«

    »Und ich bin Jürgen.«

    * * *

    Jürgen bestand darauf mich einzuladen. Wir setzten uns auf die Terrasse des Berglokals, dort, wo die Japaner gestanden hatten, einander gegenüber. Eine Haarsträhne hing verschwitzt in Jürgens Stirn. Die langen, dunkelblonden Locken hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Kinn war kantig, aber nicht spitz. Wie alt mochte Jürgen sein? Dreißig?

    »Zweimal Cola«, bestellte er, fischte Eiswürfel aus seinem Glas und schmiss sie hinter sich ins Gebüsch. »Alsterwasser wäre besser, sorry. Aber nicht heute, nicht nach dem Wahnsinn der letzten Tage. Ein Mikrogramm Alkohol wirkt jetzt zehnfach, gefühlt. Ich

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