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Die Verbrechen des van Gogh: Kriminalroman
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eBook378 Seiten4 Stunden

Die Verbrechen des van Gogh: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Fernando Castelli, Filmfreak aus Buenos Aires, hat's nicht leicht. Um sich und seine despotische Mutter über Wasser zu halten, schuftet er als Angestellter in einem Videoladen und kocht in seiner freien Zeit in einer Filmproduktionsfirma den Kaffee für die eiskalte Chefin. Kein Wunder, dass er Träume hat. Und ein Über-Ich namens Jack the Ripper, das ihm dabei hilft, sie zu verwirklichen: Fernando soll sich in einen Serienkiller verwandeln und den grausigen Plot für das oscarverdächtige, millionenschwere Drehbuch selbst besorgen.
Und schon geht sie los, José Pablo Feinmanns Romanparodie auf die blutrünstige Massenkultur. Leichen pflastern Fernandos Weg zum Ruhm, und ein paar Ohren dienen als Trophäen. Wenn das letzte abgeschnitten ist, ist das Drehbuch fertig, Fernandos Chefin reich und die schöne Ana Espinosa als Märtyrerin des Privatfernsehens gen Himmel gefahren. Inspektor Colombres hingegen muss einsehen, dass die Tage des argentinischen Machos gezählt sind, und geht zum Showdown ins Kino.
Das frivole Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit ist hier Motor des Geschehens. Im Fadenkreuz dieses großartigen Schriftstellers steht der unersättliche Hunger der modernen Spaßgesellschaft auf Dramen und Sensationen, die ebenso schnell verwurstet wie vergessen werden.

Von José Pablo Feinmann außerdem in der Edition diá:

Die unmögliche Leiche. Kriminalroman
Aus dem argentinischen Spanisch von Thomas Brovot
ISBN 9783860345484
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition diá
Erscheinungsdatum27. Nov. 2015
ISBN9783860345481
Die Verbrechen des van Gogh: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Die Verbrechen des van Gogh - José Pablo Feinmann

    Über dieses Buch

    Fernando Castelli, Filmfreak aus Buenos Aires, hat’s nicht leicht. Um sich und seine despotische Mutter über Wasser zu halten, schuftet er als Angestellter in einem Videoladen und kocht in seiner freien Zeit in einer Filmproduktionsfirma den Kaffee für die eiskalte Chefin. Kein Wunder, dass er Träume hat. Und ein Über-Ich namens Jack the Ripper, das ihm dabei hilft, sie zu verwirklichen: Fernando soll sich in einen Serienkiller verwandeln und den grausigen Plot für das oscarverdächtige, millionenschwere Drehbuch selbst besorgen.

    Und schon geht sie los, José Pablo Feinmanns Romanparodie auf die blutrünstige Massenkultur. Leichen pflastern Fernandos Weg zum Ruhm, und ein paar Ohren dienen als Trophäen. Wenn das letzte abgeschnitten ist, ist das Drehbuch fertig, Fernandos Chefin reich und die schöne Ana Espinosa als Märtyrerin des Privatfernsehens gen Himmel gefahren. Inspektor Colombres hingegen muss einsehen, dass die Tage des argentinischen Machos gezählt sind, und geht zum Showdown ins Kino.

    Das frivole Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit ist hier Motor des Geschehens. Im Fadenkreuz dieses großartigen Schriftstellers steht der unersättliche Hunger der modernen Spaßgesellschaft auf Dramen und Sensationen, die ebenso schnell verwurstet wie vergessen werden.

    »Feinmann bringt es fertig, die schönsten, einprägsamsten und grusligsten Szenarien von Alfred Hitchcock bis Stephen King mit der dämlichen Harmlosigkeit von Seifenopern aufs Eleganteste zu kombinieren. In einem Stil, dass man sich beim Lesen einfach laut amüsieren muss!« (Neue Zürcher Zeitung)

    »José Pablo Feinmanns Geschichte ist kunstvoll komponiert und hat hohes Tempo […] und obendrein ist sie so spannend, dass man sie vor dem verblüffenden Ende kaum mehr aus der Hand legen mag.« (Burkhard Scherer, Frankfurter Allgemeine)

    Der Autor

    José Pablo Feinmann wurde 1943 in Buenos Aires geboren. Der Romancier, Journalist, Drehbuchautor und Philosoph ist Leitfigur einer Generation jüngerer argentinischer Schriftsteller. Neben zwölf Romanen schrieb er zahlreiche Essays und philosophische Abhandlungen, er ist Kolumnist der Tageszeitung »Página 12« und moderiert seit 2010 die vielbeachtete Fernsehsendung »Filosofía aquí y ahora«. Er hat mit prominenten Regisseuren zusammengearbeitet, darunter Eduardo de Gregorio und Hector Oliveira; zwei seiner Romane wurden verfilmt.

    Die Übersetzer

    Thomas Brovot, geb. 1958, übersetzt aus dem Spanischen und Französischen, u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca, Mario Vargas Llosa, Joann Sfar.

    Christian Hansen, geb. 1962, übersetzt aus dem Spanischen und Französischen, u. a. Roberto Bolaño, Alan Pauls.

    Für ihre Übersetzungen wurden beide mehrfach ausgezeichnet.

    José Pablo Feinmann

    Die Verbrechen des van Gogh

    Kriminalroman

    Aus dem argentinischen Spanisch

    von Thomas Brovot und Christian Hansen

    Edition diá

    Inhalt

    Über dieses Buch

    Kapitel I: Erstes Ohr

    1. Die Wirklichkeit erschaffen

    2. Jack the Ripper

    3. Das Auge der Marion Crane

    4. Doña Clara Castelli, Witwe

    5. Der Todeskuss

    6. Mütterchen die Treppe hinunterstoßen

    7. Nelly

    8. Eine Frage von Jack the Ripper

    9. Die Phantasie der Schriftsteller

    10. Eine merkwürdige Unterhaltung

    11. Blutige Pläne

    12. Seitensprünge

    13. Whisky im Gesicht

    14. Nicht nur ein Heft

    15. Fernandos Notizen

    16. Frage, was lieber

    17. Ein Gesicht des Teufels

    18. Der Tod macht seine Aufwartung

    19. Rickys Tricks

    20. Ein Schüler des Rippers

    21. Fernandos Notizen

    22. Die Serie des Serienmörders

    23. Lupe Quintana

    24. Das erste Verbrechen

    Kapitel II: Zweites Ohr

    1. Mary Ann Nichols

    2. Kommissar Pietri

    3. Nelly, Fotomodell

    4. Fernandos Drehbuch

    5. Adiós, Tim Cruise

    6. Der Verrückte will auf sich aufmerksam machen

    7. Ana Espinosa

    8. Diese übergeschnappte Hexe

    9. Ana, ein neuer Star

    10. Fernando schwankt

    11. Der Himmel wartet

    12. Der Clown-Mörder

    13. Ein Geschenk für Ana

    14. Erwachsene Alpträume

    15. Die letzten Tage von Pompeji

    16. Neue Erfahrungen

    17. Der Schatz der alten Dame

    18. Ein unerwarteter Besuch

    19. Fragen und Antworten

    20. Einen allerletzten Satz

    21. Guten Abend, unartige Ana

    Kapitel III: Drittes Ohr

    1. Die Medien belagern Pietri

    2. Fernandos Notizen

    3. Die nächste Beerdigung wird Ihre eigene sein

    4. Ana Espinosa fordert erneut heraus

    5. Ein schlechter Tag für Fernando

    6. Das Blitzen der Klinge

    7. Schon wieder der Clown

    8. Weitere Fragen und Antworten

    9. Literatur von vorgestern

    10. Nur gute Freunde

    11. Gekniffen wird nicht

    12. Ein gemeinsames Grab

    13. Die Politiker

    14. Einen Schurken für Harrison Ford

    15. Nelly und Teresa, Verschwörerinnen

    16. Fernandos Drehbuch

    17. Colombres ermorden?

    18. Nur nichts überstürzen

    19. Ein tödlicher Ricky Mintrone

    Kapitel IV: Viertes Ohr

    1. Der Ripper mag keine Ravioli

    2. Fünf Buchstaben mit Blut

    3. Der Mörder der Demokratie

    4. Die neunziger Jahre

    5. Die Massenmedien im Rausch

    6. Ich bin nicht van Gogh

    7. Eine Erzählung von Borges

    8. Elementar, Holmes

    9. Eine Differenz bleibt

    10. Ay, Carmela!

    11. Greta Toland in der Bredouille

    12. Die drei Pfeifen

    13. Noch drei Verbrechen

    14. Ein 40er Mercury

    15. Ein Revolutionär

    16. Nichts steht geschrieben

    17. Eine so gute Geschichte hätte Borges nie geschrieben.

    18. Der verräterische Satz

    19. Fragen ohne Antworten

    Kapitel V: Fünftes Ohr

    1. Ein monströser Kater

    2. Der Sieg über die Inflation ist nicht alles

    3. Verliebt

    4. Colombres wird modernisiert

    5. Sie lieben sich

    6. Sie ist das Kino

    7. Fernandos Drehbuch

    8. Dunkel und buschig

    9. Noch einmal die Massenmedien

    10. Ein Blick

    11. Intelligente Frauen

    12. Fernandos Notizen

    13. Teresa

    14. Fliehen und wieder auftauchen

    15. Das große Finale

    16. Das Böse ist unendlich

    17. Pressekonferenz im Hyatt

    18. Abschiedstango

    Bibliographie

    Impressum

    Für María Julia Bertotto,

    das Herz weiß, warum

    Kapitel I

    Erstes Ohr

    1. Die Wirklichkeit erschaffen

    Es war in jenen Tagen, als ihm Jack the Ripper erschien.

    Fernando Castelli war gerade dreißig Jahre alt geworden, schrieb Drehbücher, und kein einziges hatte man je verfilmt. Noch konnte er nicht ahnen, dass er, damit dies geschah – das heißt, damit wenigstens eins verfilmt wurde, wenigstens eins –, erst zu einem unfehlbaren und brillanten Serienmörder werden musste. Was er dagegen sehr wohl ahnte, war, dass sein Leben auf des Messers Schneide stand, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und mit der Zeit auch nichts mehr zu rechtfertigen. Würde er den Rest seiner Tage im Groll verbringen oder Trübsal blasen?

    Falls dem so sein sollte, sagte er sich, würde sich sein Dasein kaum von dem seiner Landsleute unterscheiden. (Ein Wort übrigens, das Fernando nur mit Abscheu benutzte: Landsleute.) Schließlich und endlich lebte er in einem Land der Trübseligen und Frustrierten. In einem Land, das auf das Ende des Jahrhunderts zuging und zwischen der oberflächlichen, dummen und schamlos zur Schau getragenen Fröhlichkeit einiger weniger und der Trostlosigkeit, Erbitterung und Ohnmacht der Übrigen keine Ruhe fand. Weshalb Fernando sich weder mit den einen noch mit den anderen identifizieren mochte. Weshalb Fernando das Wort Landsleute verabscheute. Denn mit ihm hatte das alles nichts zu tun. Denn er wollte sich weder auf die Seite der aufgeblasenen Dummköpfe schlagen noch auf die Seite derer, die in ihrer Ohnmacht resignierten. Denn er war Fernando Castelli: ein Einzelgänger. Und Einzelgänger haben keine Landsleute.

    Außerdem, und das kam gar nicht so selten vor, hielt er sich gerne für etwas mehr als einen Einzelgänger. Er hielt sich gerne für einen Schriftsteller, eine Eigenschaft, die wahrscheinlich ein weiteres Gesicht der Einsamkeit war, ihr schönstes allerdings, wer wollte das bezweifeln, ihr faszinierendstes und auch die einzige Möglichkeit, die erdrückende Mauer der täglichen Wirklichkeit zu durchbrechen, hinter der sich vielleicht noch etwas anderes fand. Eine Utopie?, fragte er sich dann ironisch und lächelte in sich hinein.

    Es amüsierte ihn, dieses abgegriffene, von Journalisten, Fernsehsoziologen und Politikern tausendfach entwertete Wort – Utopie – mit etwas so Zartem, Zerbrechlichem und Ungreifbarem wie seinem Schicksal in Verbindung zu bringen. Deshalb stellte er sich mit genau diesem entwerteten Wort auch so beharrlich die immer gleiche Frage, die seine ärgsten Obsessionen zum Ausdruck brachte.

    Wie sah Fernando Castellis Utopie aus?

    Er konnte ein paar Antworten versuchen.

    Eine ging so: Er wollte ein großes Drehbuch schreiben, eine große Geschichte – die größte jemals erzählte Geschichte? –, und er wollte, dass nach dieser Geschichte ein Film gedreht würde – der größte jemals gedrehte Film? –, und er wollte Erfolg haben und als Autor triumphieren und für neue Filmprojekte umworben werden. All das konnte man mit Fug und Recht seine Utopie nennen.

    Und doch zweifelte er. Was würde der Erfolg aus ihm machen? Würde er ihn nicht kopfüber und unwiderruflich in die Welt der aufgeblasenen Dummköpfe stürzen? Er kannte Beispiele genug, die ihm bewiesen, dass in dieser Welt des ausgehenden Jahrhunderts der Triumph, der Erfolg die Leute verblödete, dass er sie eitel und leer machte. Und diese Möglichkeit erschreckte ihn.

    Wenngleich die andere ihn nicht weniger schreckte. Er wollte nicht der Mann aus dem Kellerloch sein. Er wollte nicht auf der anderen Seite stehen, auf der Schattenseite, verblassend in seiner Bedeutungslosigkeit, bloßer Zuschauer des pompösen Aufmarschs der Sieger, des Zirkus der happy few. Gab es nur entweder oder? So schwarz-weiß war die Wirklichkeit? So plump dualistisch?

    Hier zeichnete sich nun etwas ab, das man allerdings die wahre Utopie des Fernando Castelli nennen könnte: Er wollte einen neuen Raum in der Wirklichkeit aufstoßen. Einen bislang nicht vorhandenen Raum. Einen Raum, der sich nur öffnete, um ihn, seinen Schöpfer, aufzunehmen. Einen Raum zwischen den selbstgefälligen Siegern und den tristen, gescheiterten Existenzen.

    Er dachte: Die Wirklichkeit erschaffen.

    Und dieser Gedanke machte ihn glücklich und stolz.

    Es war in jenen Tagen, als ihm Jack the Ripper erschien.

    2. Jack the Ripper

    Zuerst war es ein leichter Nebel, der vom unauslotbaren Grund der Unwirklichkeit emporstieg und sich auf einen der Stühle im Zimmer herabsenkte. Dort verharrte er, ein paar Minuten nur. Er nahm keinerlei Gestalt an, noch gab er den leisesten Laut von sich. Es war nicht mehr als das, was es zu sein begonnen hatte und was es schließlich war, kaum dass es sich wieder auflöste: ein leichter Nebel.

    Doch Fernando Castelli hatte nicht den geringsten Zweifel: Dieser leichte Nebel, diese bloße Dichte, die nach einer Gestalt suchte, war durch seinen Wunsch, seine Phantasie heraufbeschworen worden. Er selbst, sagte er sich, war seine Wunderlampe. Wie lange würde es dauern, bis der Geist sich zeigte?

    Eine Woche ließ er auf sich warten. Aber was dann folgte – das heißt, was nach dem leichten Nebel kam –, war gleich eine echte Materialisation. Dies überraschte Fernando, der irgendeinen Zwischenschritt erwartet hatte, den Umriss eines Schattens, eine Silhouette, so etwas in der Art. Was folgte – wenngleich nicht im Zimmer, sondern draußen –, war ganz eindeutig Jack the Ripper.

    Fernando sah ihn im Licht einer rötlichen Dämmerung, die schon mit den ersten schwarzen Schatten der Nacht verschmolz. Er sah ihn in diesem magischen Augenblick, wenn der Tag sich ergibt, wenn das Feuer des Abends zu Asche verglimmt und erkaltet, um sein Ende anzuzeigen, wenn der Tag schon zurückliegt, es aber noch nicht richtig Nacht ist. Dort sah Fernando Castelli zum ersten Mal Jack the Ripper, wie er, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit, seine Pfeife rauchte, mitten auf der Straße, mit seinem kleinen Hut, mit Mantel und Pelerine, mit seinem Arztköfferchen und seinem sorgfältig gestutzten Schnurrbart.

    3. Das Auge der Marion Crane

    Angetan mit den Kleidern seiner Mutter, stieß Norman Bates sein Messer wieder und wieder in den wehrlosen, nackten Körper von Marion Crane. Marion schrie sich die Seele aus dem Leib und hob ihre Hände, in dem vergeblichen Versuch, sich zu schützen, oder in dem noch vergeblicheren Bemühen, um Gnade zu flehen, denn eine Tötungsmaschine, und das war Norman Bates zu diesem Zeitpunkt, konnte niemals Gnade gewähren.

    Nachdem er sein Werk mehr als vollbracht hatte, als er endlich zufrieden war, verschwand Norman aus dem Bild, und in der Dusche blieb nur Marions Körper zurück, an die weißen Fliesen gelehnt (waren sie wirklich weiß?), ehe sie auf den Boden der Wanne glitt, die Augen halb geschlossen, über ihnen der schwere, dunkle, endgültige Schleier des Todes. Und dann, mit einer vielleicht absurden Anstrengung, die mehr von dem Wunsch beseelt als in der Möglichkeit begründet war, weiterzuleben, denn ihre Verletzungen waren absolut tödlich, streckte Marion Crane ihre Hand nach dem Plastikvorhang der Dusche aus, hielt sich daran fest, um sich hochzuziehen, und zog mit solcher Kraft – wie stark mag das sein, wenn man sagt: mit letzter Kraft? –, dass der Vorhang, der mit Ringen an einer Stange befestigt war, sich mit einem atemberaubenden und schauerlichen Stakkato von ihr löste, Ring für Ring, wie das Knattern eines Maschinengewehrs; und Marion, die arme Marion, der weniger die vierzigtausend Dollar, die sie sich unter den Nagel gerissen hatte, zum Verhängnis geworden waren als der Entschluss, eine Nacht im Bates Motel zu verbringen, Marion sank, die Hand noch immer an den Plastikvorhang geklammert, sank, wenn man so sagen darf, dem Tod in die Arme.

    Ihr Blut lief jetzt zum Abfluss der Wanne, wirbelte dort herum und verschwand, für immer. Danach zoomte die Kamera auf dieses dunkle, unendliche Loch (ein schwarzes Loch?), und in einer Überblendung sah man Marions rechtes Auge, offen, weit offen und entsetzlich starr. Das war alles. Zumindest für Marion Crane war das alles. Denn so war ihr Tod. So starb Marion Crane in Psycho, ermordet von Norman Bates.

    Wie, fragte sich Fernando Castelli jedes Mal, hatte Hitchcock die vollkommene Starre dieses Auges hinbekommen? Warum war dieses Auge, dieses reglose Auge, das erschütterndste Bild des Todes, das er je im Film gesehen hatte? War es ein Standfoto? Nein, das war es nicht, denn wenn man ganz genau hinsah, konnte man erkennen, wie der eine oder andere Tropfen über Marions Gesicht lief. Ob Hitchcock Janet Leigh, die Darstellerin der Marion Crane, wirklich umgebracht hatte? Auch das war wenig wahrscheinlich. Zwar hätte eine solche Szene – die Perfektion dieser Szene – es wohl gerechtfertigt, sie umzubringen, aber es war offensichtlich, dass der Meister es nicht getan hatte, denn Janet Leigh hatte nach Psycho noch in anderen Filmen gespielt.

    So dass Fernando Castelli, der leidenschaftliche Cineast, der dieses und andere Geheimnisse der großartigen Szene gerne gelüftet hätte – sieben Tage hatten die Dreharbeiten gedauert, mit siebzig Einstellungen für fünfundvierzig Sekunden –, das Videoband bis zu der Stelle zurückspulte, wo Marion Crane in die Dusche trat und alles von neuem begann.

    Heute aber sollte er diese Szene kein zweites Mal zu sehen bekommen.

    4. Doña Clara Castelli, Witwe

    Marion Crane schrie vor Schmerz und Entsetzen, Norman Bates ließ sein Messer erbarmungslos auf sie niedersausen, und Fernando Castelli, der in seinem Sessel hing, schaute durch seine Trotzki-Brille gebannt auf den Bildschirm, während er große Mengen Schokonüsse aß.

    Exakt in diesem Moment ging die Tür auf. Es war seine Mutter, Fernandos Mutter, die sie öffnete, nachdem sie, unaufhaltsam wie das Geschoss einer Kanone, mit ihrem Rollstuhl gegen die Tür gekracht war. Derart ungestüm kam sie ins Zimmer, mit wutentbranntem Gesicht und bereit, alles niederzumachen.

    »Idiot«, schrie sie, lauter noch als Marion Crane. »Schwachkopf! Jämmerlicher Versager!«

    Fernando wandte den Blick nicht vom Bildschirm – gerade streckte Marion die Hand nach dem Duschvorhang aus, und gleich würden sich die Ringe von der Stange lösen –, und er hörte auch nicht auf, seine Schokonüsse zu essen. Kurz, er schaute seine Mutter nicht an. Er sagte nur gelassen:

    »Sei nicht immer so lieb zu mir, Mama. Du wirst mich noch verziehen.«

    Fernandos Mutter war, freundlich ausgedrückt, zum Fürchten. Ihre ausladenden Hüften wollten kaum in den Rollstuhl passen. Auf dem Kopf trug sie Lockenwickler in den buntesten Farben – schreienden Farben, genau genommen –, sie schwitzte, als würde sie ihr Leben in einem niemals endenden tropischen Sommer zubringen oder als wäre sie eine arme Seele, die in der Hölle schmort. Sie hatte ein Doppelkinn, hatte Warzen im Gesicht, aus denen kleine Härchen sprossen, kurze, spitze, bedrohliche Härchen, und mit Vorliebe aß sie – wie zum Beispiel gerade jetzt – kalte Nudeln, die sie aus einem schäbigen Aluminiumtopf fischte.

    Fernando rührte sich nicht aus seinem Sessel und wandte kein Auge von den Bildern seines geliebten Films. (Waren die Fliesen wirklich weiß?) Seine Mutter ergriff wieder das Wort: »Du bist ja schon verzogen«, sagte sie. »Aber ich habe dich nicht verzogen. Auch nicht dein Vater. Gott hab ihn …«

    »Selig«, ergänzte Fernando.

    »Selig, ja«, jammerte seine Mutter. »Dein armer Vater, der sich abgerackert hat, um aus dir etwas Anständiges zu machen. Bis er … Bis sein Herz nicht mehr konnte!«

    »Bis er vom Torre de los Ingleses gesprungen ist, Mama«, präzisierte Fernando, während er, immer grimmiger und ohne dass es ihn am Sprechen hinderte, seine Schokonüsse kaute. »Oder ist er etwa nicht vom Turm gesprungen? Aber nicht wegen mir. Wegen dir. Weil er es keine Sekunde länger mit dir ausgehalten hat.«

    Doña Clara – denn so lautete der Name von Fernandos Mutter – keifte:

    »Du Mistkerl! So etwas Gemeines kannst auch nur du sagen!«

    »Würdest du so nett sein und, wenn irgend möglich, beim Sprechen nicht mit Nudeln spucken?«, bat Fernando.

    Doña Clara schluckte und keifte weiter:

    »Blödmann!«

    Fernando nahm die Fernbedienung, drückte auf stop, und das sehr offene, sehr tote Auge von Marion Crane verschwand vom Bildschirm. (Wie hatte Hitch das bloß so meisterhaft hingekriegt?) Er stellte die Schachtel Schokonüsse auf einen kleinen Tisch, erhob sich, betrachtete das Scheusal, zu dem seine Mutter geworden war – sie war nicht immer so gewesen –, und fragte:

    »Darf man erfahren, was dich zu mir führt? Warum du so taktvoll mein Zimmer betreten hast?«

    »Ich habe es satt, die Schreie von deinen Morden zu hören«, erklärte Doña Clara. »Nicht mal in Ruhe essen kann man. Ständig schreit in deinem Fernseher irgendjemand wie am Spieß. Messer, Blut, Mord und Totschlag. Und alles in diesem dämlichen Schwarz-Weiß!«

    Sie schob sich eine weitere Gabel Nudeln in den Mund. Fernando sagte:

    »Sie gefallen mir nun mal, Mama. Oder wäre es dir lieber, wenn ich Deckchen besticken würde wie du?«

    »Ich bringe wenigstens Geld nach Hause«, antwortete Doña Clara in schneidendem Ton. »Du dagegen … ein Nichtsnutz!«, keifte sie, und wieder flogen kalte Nudeln aus ihrem Mund.

    »Nichtsnutz? Ich?« Fernando war empört. »Ich habe zwei Jobs. Findest du das wenig?«

    Mit unglaublicher Geschwindigkeit drehte Doña Clara ihren Rollstuhl und verließ das Zimmer.

    »Ja, wenig!«, hörte Fernando sie brüllen. »Ich finde das wenig! Ich finde das erbärmlich wenig! Du führst ein jämmerliches Leben!«

    Und indem sie weiter die unglaublichsten Dinge von sich gab – natürlich alle an Fernandos Adresse –, fegte sie quer über den Innenhof, verschwand in ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Ein kleiner Blumentopf mit Geranien, der an einem Vogelbauer hing, geriet in heftige Bewegung und zerschellte auf den roten Steinplatten des Hofs. Ob das Blut von Marion Crane die Fliesen so rot wie diese Platten gefärbt hatte?, fragte sich Fernando. Dann schloss er die Zimmertür, lehnte sich dagegen und verbarg sein Gesicht in den Händen.

    »Ich hasse sie«, knirschte er. »Ich hasse sie.« Er ließ die Hände sinken. Sein Gesicht und die Augen glänzten. »Wenn ich sie doch umbringen könnte«, murmelte er. »Und aufschlitzen …«

    Er ging ein paar Schritte durchs Zimmer. Am Schreibtisch blieb er stehen. Die Lampe, die ihn von unten beschien, zeichnete seltsame Muster von Licht und Schatten auf sein Gesicht. Mit dumpfer Stimme, wobei er jedes Wort dehnte und kaute, sagte er:

    »Sie aufschlitzen … Hätte ich nur den Mut dazu … Wäre ich doch … Wäre ich doch …«

    »Jack the Ripper?«

    Er stand neben dem Fernseher. Stand da in Mantel und Pelerine, mit seinem Arztköfferchen und dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er lächelte. Er schien zufrieden, nicht nur mit sich selbst, sondern, wenn man so sagen darf, mit der menschlichen Existenz im Allgemeinen.

    Verdutzt, verwundert – wenngleich er seinen Augen wohl trauen musste, denn Jack stand genau vor ihm, neben dem Fernseher, hier in seinem Zimmer – rief Fernando:

    »Jack the Ripper! Der größte Serienmörder der Kriminalgeschichte. Der im Londoner Nebel verschwand und nie gefasst werden konnte.«

    Der Ripper nahm seinen kleinen Hut ab, stellte das Köfferchen neben den Schreibtisch und machte es sich in einem Sessel bequem. Er schlug die Beine übereinander. Und rauchte, natürlich, seine Pfeife.

    »Ja.« Er nickte. »Da bin ich.« Er schaute Fernando in die Augen und fragte: »Kann ich dir helfen? Sag mir, was du dir wünschst. Ich werde es für dich tun. Oder dafür sorgen, dass du es tust.«

    Fernando Castelli fühlte, dass sich etwas in seinem Leben – und zwar sehr bald – ändern würde.

    Etwas, oder vielleicht alles, sagte er sich.

    5. Der Todeskuss

    Er war keineswegs der Nichtsnutz, als den ihn seine Mutter beschimpft hatte. Er besaß, wie er ihr klipp und klar gesagt hatte, zwei Jobs. Einen am Vormittag und einen am Nachmittag. Zwei Arbeitsverhältnisse, pflegte er sich in Anlehnung an die eine oder andere Marx-Lektüre zu sagen, in denen er den nötigen Mehrwert produzierte, um die Investition seiner Arbeitgeber zu rechtfertigen, das heißt: seinen Lohn. Das war alles, was er sich dazu sagte, er dachte weder an Revolte noch daran, die wirtschaftliche und soziale Ordnung des Systems zu verändern. 1973 war Fernando Castelli zehn Jahre alt gewesen. Die orkanartigen Stürme jener Zeit erreichten ihn als sanftes, stilles Lüftchen, und er musste noch nicht einmal Abstand gewinnen, um den Kopf frei zu haben für das Super-Action-Kino, das jeden Samstag zwischen 14 und 20 Uhr auf Kanal 11 lief. Er lebte einfach am Rande der sozialen Heilsbewegung der Siebziger. Er wuchs heran und trank Nesquik. Er wuchs heran, wie es ihm damals und in den darauf folgenden Jahren

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