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Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten
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Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten
eBook703 Seiten10 Stunden

Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten

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Über dieses E-Book

"Der Begriff Moral ist verpönt, ein Wort wie Held ist tabu, gut und böse tauchen nur mit Anführungszeichen auf", so Susan Neiman, Philosophin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.
Susan Neiman ist eine Moralphilosophin mit dem Anspruch, das Handwerkszeug ihrer Zunft so einzusetzen, dass es für den Alltag relevant wird. Mit Vernunft und Leidenschaft zugleich entdeckt sie den Idealismus der Aufklärung neu und möchte seinen Tugenden wieder Geltung verschaffen. Neiman erweckt ein moralisches Vokabular zu neuem Leben, um uns an den Dogmen der Rechten und dem hilflosen Pragmatismus der Linken vorbeizusteuern. Überzeugt davon, dass Politik ein moralisches Unternehmen ist, formuliert sie eine Einladung an ihre Leserinnen und Leser, daran mitzuwirken, die Welt gerechter zu gestalten.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Jan. 2014
ISBN9783868546095
Moralische Klarheit: Leitfaden für erwachsene Idealisten
Autor

Susan Neiman

Susan Neiman is the director of the Einstein Forum. Her previous books, which have been translated into many languages, include Why Grow Up?: Subversive Thoughts for an Infantile Age; Moral Clarity: A Guide for Grown-Up Idealists; Evil in Modern Thought: An Alternative History of Philosophy; The Unity of Reason; and Slow Fire: Jewish Notes from Berlin. She also writes cultural and political commentary for diverse media in the United States, Germany, and Great Britain. Born in Atlanta, Georgia, Neiman studied philosophy at Harvard and the Free University of Berlin, and was a professor of philosophy at Yale and Tel Aviv Universities. She is the mother of three grown children, and lives in Berlin.

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    Buchvorschau

    Moralische Klarheit - Susan Neiman

    458.

    Erster Teil

    Real und Ideal

    1Nackte Tatsachen

    Unter all dem, was verändert werden sollte, wird die Metaphysik vermutlich nicht die oberste Priorität haben. Doch um zu verstehen, wie die Metaphysik in unser Leben eingreift, betrachte man einmal, was es denn heißt, jemanden aufzufordern: Sei realistisch. Eine gute Übersetzung wäre: Schraube deine Erwartungen runter. Man äußert diesen Satz gegenüber einem Jüngeren oder jemandem, dem wir das Gefühl geben wollen, jünger zu sein. Er hat immer noch Träume oder Ziele, die man selbst schon aufgegeben hat, und er kämpft beständig gegen die Begrenztheit des Lebens an, die man selbst seit Langem akzeptiert hat. Er will mehr von der Welt, als diese zu geben geneigt ist. Seine Pläne zu verwirklichen, würde für ihn bedeuten, Teile der Realität zu verändern, die man selbst für unabänderlich hält. Und deshalb begegnen wir ihm mit einer Palette von Binsenweisheiten über die menschliche Natur und andere Naturgegebenheiten, wovon noch die harmloseste der gut gemeinte Rat ist, realistisch zu sein. Für gewöhnlich schieben wir dergleichen auf die individuelle Psyche. Nähern wir uns der Welt zynisch oder mit einem gewissen Maß an Hoffnung? Welche Mischung aus Kultur und Natur auch immer unsere Haltung zur Welt geformt hat, letztlich gründet diese in einer Metaphysik. Ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht, ist dabei bedeutungslos. Tatsächlich verfestigt die Neigung, metaphysische Abhängigkeiten zu übersehen, diese nur noch mehr. Denn unter anderem legen sie fest, was man für selbstverständlich und was man für möglich hält, wovon man meint, es sei substanziell, und wovon man glaubt, es ignorieren zu dürfen. Menschen, die dem Zynismus widerstehen, nennen wir Idealisten, weil sie nicht glauben, dass die Welt, so wie sie uns gegeben ist, die gesamte Realität ausmacht. Sie sind davon überzeugt, dass auch Ideen Kraft haben und Folgen zeitigen. Hoffnung beruht auf einer metaphysischen Einstellung oder wird von ihr untergraben.

    Beobachter des Konservativismus im heutigen Amerika haben viel Zeit darauf verwandt, über die Überzeugungen einzelner Konservativer zu spekulieren. Fühlte Cheney sich je etwas anderem als dem höheren Ruhm von Halliburton verpflichtet? Glaubte Bush wirklich an seine Vision von Erlösung? Solche Fragen zielen auf die individuelle Aufrichtigkeit und sind unwichtiger, als es den Anschein hat. Zynismus und Fanatismus können gleichermaßen skrupellos sein. Die beiden ganz und gar unterschiedlichen metaphysischen Standpunkte zu verstehen, die den konservativen Positionen zugrunde liegen, ist demgegenüber einfacher und bedeutsamer.

    Der eine Strang knüpft an die konservative Weltsicht an, die auf den englischen Philosophen Thomas Hobbes, und vermutlich noch weiter, zurückgeht. Nach dieser Auffassung steckt die Realität in einem starren Korsett. Was die Menschen und ihre Nationen antreibt, sei ein endloser Kampf um Macht, Reichtümer und Ruhm. Wer davon überzeugt ist, nennt sich selbst einen Realisten und achtet darauf, das als eine Tatsache, nicht als eine Haltung hinzustellen. Alles andere sei bloß Rhetorik, mit der wir unsere wirklichen Ziele verschleiern wollten. Berufungen auf Gerechtigkeit, Würde und Pflicht seien nichts als Nebelwerfereien, um die Schwächeren für die Motive der Stärkeren blind zu machen. (Gelegentlich, wenn die Starken schläfrig werden, kehrten die Schwachen den Spieß um, und bedienten sich derselben Rhetorik, um diejenigen zu bekämpfen, die sie nicht in einem fairen Kampf besiegen könnten.) Es wäre ja schön, in einer Welt zu leben, in der Gerechtigkeit und Ehre substanziell sind, aber erwachsen zu werden, verlangt von uns, die Realität dieser Welt zu akzeptieren. Gesunder Menschenverstand, ja selbst Ehre, wenn man danach strebt, gebieten, den Schwulst zu durchschauen, mit dem Moral und Religion verschleiern, was die Welt eigentlich antreibt. Wer ihn ernst nimmt, sei bestenfalls naiv, und schlimmstenfalls … Nun ja, hat der Stalinismus uns denn nicht gezeigt, was aus denen wird, die meinen, man könne die Welt mit Idealen am Laufen halten?

    Die einzige Welt, in der wir je gelebt haben, sei eine, in der die Mächtigen in dem Glauben, sie hätten das Recht auf ihrer Seite, ihren Gerechtigkeitssinn anderen aufzwingen. Solche Thesen lassen sich ohne Weiteres in den Leitartikeln vieler Zeitungen finden. Da auch Robert Kagan ihr anhängt, lohnt es sich, die These genauer zu betrachten, denn die Meinungen dieses einflussreichen Neokonservativen liefern uns gute allgemeine Hinweise auf die Gesinnungswandlungen der Republikanischen Partei. Außerdem ist er derzeit der einzige konservative Autor, der die philosophischen Fragen in der Außenpolitik offen anspricht. Obwohl seine Behandlung dieser Fragen reichlich verwirrt ist, sodass er in seinen aufeinanderfolgenden Büchern gegensätzliche Auffassungen verteidigt, gebührt ihm Dank für die Klarstellung, dass metaphysische Themen in der gegenwärtigen politischen Welt ein Echo finden. In seinem Buch »Of Paradise and Power« aus dem Jahr 2003 rechtfertigt er den Angriff der USA auf den Irak.¹ Es wurde ein internationaler Bestseller – die Washington Post nannte Kagan den »Rockstar der Außenpolitik«, weil er über die unmittelbaren außenpolitischen Fragen hinausgeht, um eine Weltsicht zu präsentieren, die die Lage des Westens insgesamt zu erklären scheint. In seiner Beschreibung der wachsenden Distanz zwischen Europa und den USA brachte er diese auf den denkwürdigen Punkt, die Europäer stammten von der Venus, die Amerikaner hingegen vom Mars. Nicht irgendeine alte Differenz würde die beiden Kontinente scheiden; was sie trennte, hätte schon den alten Olymp gespalten: Der eine Kontinent lasse sich vom verführerischen Zauber der Liebesgöttin und anderen Schwelgereien einfangen, während der andere von den männlichen Forderungen des Kriegsgottes angetrieben würde.

    Warum nicht? Nach allem, was wir wissen, könnten wir ganz und gar aus einer anderen Galaxie stammen. Weitaus wichtiger ist freilich Kagans weniger griffige These: »Eine der größten Differenzen zwischen Europäern und Amerikanern ist heute eine philosophische, ja metaphysische Kontroverse darüber, wo genau die Menschheit auf dem Kontinuum zwischen den Gesetzen des Dschungels und den Gesetzen der Vernunft steht.«² Amerikaner, so sein Fazit, seien Hobbesianer, während Europäer Kantianer seien. Die Europäer hätten sich in einen Kokon zurückgezogen, der nur deshalb gegen die raue Wirklichkeit der Konflikte geschützt sei, weil die USA im anarchischen und instabilen Zentrum der Geschichte verharrten, anerkannten, wie schlimm die Lage tatsächlich sei, und mit militärischen Mitteln verhinderten, dass alles in die Brüche ging. Europäer glaubten, wir seien dort angekommen, wovon Kant geträumt hätte: bei friedlichen Verhandlungen, internationalen Gerichtshöfen, dem allgemeinen Engagement für eine globale Verteilung der Güter. Zwar würden auch sie gerne in einer Traumwelt leben, doch Amerikaner verschlössen nicht die Augen vor den nackten Tatsachen dieser Welt und seien resolut genug, sich ihnen zu stellen – und so nähmen sie die Last auf sich, damit die Europäer weiter träumen können.

    Wie sah denn nun Hobbes’ Realität aus? Seine Mutter, schreibt der Philosoph über seine Frühgeburt im Jahr 1588, habe »Zwillinge zur Welt gebracht, mich und die Furcht«, da sie bei der Nachricht über das Eindringen der spanischen Armada vorzeitig Wehen bekam.³ Sein langes Leben gestaltet sich auch weiterhin dramatisch und schreckenerregend. Nicht nur sein Studium in Oxford, sondern auch mehrere Reisen auf den Kontinent hatten ihm klarer als den meisten bewusst gemacht, dass England am Rande eines Bürgerkriegs stand. In seinem Eifer, eine Theorie zu formulieren, die diesen verhindern könnte, schrieb Hobbes Bücher, die so umstritten waren, dass er um sein Leben fürchten musste. 1640 setzte er sich nach Paris ab und rühmte sich, »der Erste gewesen zu sein, der floh«. Erst nach der Hinrichtung Karls I. kehrte er nach England zurück und vermied den von ihm gefürchteten Bürgerkrieg. Trotz der provozierenden Thesen seiner Schriften – insbesondere bestritt er das göttliche Recht des Königs – musste Hobbes nur noch zu einer anderen Gelegenheit um sein Leben fürchten. Nach dem verheerenden Brand von London und der großen Pest von 1665 untersuchte ein Parlamentsausschuss die Gründe für die Plagen, die England heimsuchten. Hobbes’ »Leviathan« wurde eine kurze Zeit lang vorgeworfen, den Atheismus geschürt zu haben, der den himmlischen Zorn ausgelöst hatte. Die Anklage wurde jedoch fallen gelassen. Zwar erhielt Hobbes ein Publikationsverbot, aber man ließ ihn weiter in Ruhe Tennis spielen und bis ins hohe Alter Homer übersetzen.

    Die Rahmenbedingungen des eigenen Lebens als ganz selbstverständlich hinzunehmen, ist eine verbreitete Form der Kurzsichtigkeit; die eigenen Umstände für natürlich zu halten, ist etwas Natürliches. Hobbes ist da keine Ausnahme gewesen. Jemand, dessen Geburt unter dem Unstern einer Invasion und dessen Leben im Schatten eines Bürgerkriegs stand, wird sich nur schwer eine andere Normalität vorstellen können. Der brüchigen Schutzmaßnahmen beraubt, die das Recht bereitgestellt hatte, sah die ihm bekannte bürgerliche Gesellschaft wirklich jämmerlich aus, und er konnte sich keine andere denken. Hobbes übertrug, was vielleicht nicht mehr als die denkwürdige Beschreibung des Lebens im natürlichen Zustand als »einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« war, auf die Ansicht, diese Bedingungen markierten den Naturzustand überhaupt.⁴ Zwar ist das nur eine sprachliche Verschiebung, doch dadurch wird die Beschreibung zu einer Mischung von Metaphysik, transzendentaler Anthropologie und negativer Theologie erhoben. Für die These, der Naturzustand des Menschen gleiche dem blutigen und furchterregenden Chaos Englands im 17. Jahrhundert, gibt es kein Argument – und es kann auch keines geben. Hobbes zeichnet vielmehr ein Bild des Naturzustandes, das den ihm bekannten Zustand spiegelt. Mit seiner Übertragung einer deskriptiven Analyse der von ihm erfahrenen Realität auf überhistorische Behauptungen über die Realität generell hat Hobbes einen Schritt vollzogen, der für die politische Theorie und die Politik selbst ungeheure Folgen haben sollte.

    Hobbes’ Theorie einzig und allein deshalb abzulehnen, weil sie von seinen Lebensumständen beeinflusst ist, wäre jedoch dumm. Für welche Theorie gälte das nicht? Hobbes’ düstere Schilderung des menschlichen Kampfes um Macht mag das England des 17. Jahrhunderts spiegeln und gleichwohl auch für uns Übrige gelten. Vielleicht wäre er zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen, wenn er im 9. Jahrhundert in Polynesien oder im 19. Jahrhundert in Paris gelebt hätte. Der Witz ist ja, dass keine dieser Perspektiven Behauptungen über den Naturzustand der Menschheit fundiert. Um gegenwärtige Bedingungen in einen für uns unzugänglichen vorhistorischen Zustand hineinzudeuten, brauchten wir weitere Argumente, aber Hobbes kann sie nicht liefern. Anstelle der fehlenden Argumente neigen Konservative von heute dazu, uns Phrasen wie »hobbessche Realitäten« einzuhämmern, als genügte schon die ständige Wiederholung, um jedem, der die Welt anders sieht, blindes Wunschdenken vorzuwerfen. John Grays kleiner Aufsatz ist dafür ein typisches Beispiel, er lehnt kurzerhand »die Phantasiewelt der liberalen Philosophen ab«, bevor er zu dem Schluss kommt: »Wie Hobbes wusste, wollen die Menschen vom Staat nicht so sehr Freiheit, sie wollen Schutz. Das mag man beklagen, doch eine politische Philosophie auf der Leugnung der menschlichen Natur aufzubauen ist Narretei. Man tut besser daran, sich den Tatsachen zu stellen.«⁵ Es ist ebenso eine Tatsache, dass es Menschen gibt, die unter Einsatz ihres Lebens Fremde in einer Untergrundbahn retten, aber auch solche, die Amok laufen und Fremde vor einen einfahrenden Zug stoßen. Scheinbar unumstößliche Tatsachen können sich ins Gegenteil verkehren, das Umsichgreifen eines immer aggressiveren Raubtierkapitalismus schien unvermeidlich, bis der Kollaps der Wall Street selbst Neoliberale fragen ließ, warum die unsichtbare Hand so schwach ist. Hobbesianer picken sich sorgfältig die Tatsachen heraus, denen wir uns zu stellen haben. Wenn das Leben aus all den reizenden Dingen bestünde, die Hobbes ihm nachsagt, müsste man sich doch sehr wundern, warum sich irgendjemand über seine Dauer beklagt. Aber Widerspruchsfreiheit soll ja etwas für Kleingeister sein, und Hobbes war ein großer Geist. In seinem wichtigsten Werk, dem »Leviathan«, argumentiert er, dass allein durch die Übertragung der gesamten Macht auf einen absoluten Souverän der Krieg aller gegen alle zu verhindern sei; wenn die Natur nicht durch das menschliche Recht beschränkt werde, würde der Krieg unvermeidlich stattfinden. Denn Hobbes meinte, die Wörter gut und böse hätten losgelöst von den Wünschen derer, die sie benutzen, keine Bedeutung. Was uns bewegt, sei nicht das Verlangen nach dem Guten, sondern das Streben nach Macht und Ruhm. Da unsere körperlichen und geistigen Vermögen im Großen und Ganzen gleich seien, könnten die Wünsche von Millionen Ruhmsüchtiger uns nur ins Chaos, in die Anarchie und den Tod stürzen. Die Furcht vor dem Tod sei jedoch der Hebel, mit dem man uns in Bewegung setzen kann, denn selbst die schlichtesten Gemüter wüssten, dass das Leben die Grundlage für alle anderen Wünsche ist. Hobbes stellt sich also einen Naturzustand vor, in dem die wilden Horden immerhin so vernünftig sind, ihren rasanten Lauf in den Weltuntergang dadurch zu bremsen, dass sie sich gemeinsam gegenüber einem Souverän zum Gehorsam verpflichten, der weitere Kriege zu verhindern weiß. Der Herrscher muss ein absoluter sein und die Macht haben, Ungehorsam mit dem Tod zu bestrafen, denn nur die Furcht vor dem Tod ist stark genug, den Kampf um Macht als Antriebsmotiv zu überwinden.

    Mit dieser Auffassung handelte Hobbes sich von einigen Seiten den Vorwurf des Atheismus ein. Zumindest der Theorie nach hatten Regenten auch vorher schon absolute Macht besessen, nur stützten sie ihren Anspruch auf göttliches Recht und religiöse Tradition. Indem er dieses Recht bestreitet, behauptet Hobbes, bloße Vernunft und empirische Beobachtung sollten uns zu der Schlussfolgerung führen: Jede Freiheitsbeschränkung ist besser, als ständigem Schrecken ausgeliefert zu sein. Der Staat des »Leviathan« sorgt für Frieden, nicht für Gerechtigkeit. In der Tat ist Hobbes’ Welt sogar noch nüchterner. Anders als Platon und Aristoteles beginnt noch endet er mit der Frage: Welche Form des Staates ist gut oder gerecht? Nach Hobbes fällt nur eine Sache ins Gewicht: Welche Staatsverfassung wird dem blutigen Wahnsinn eine Ordnung aufdrücken?

    Für Hobbes, wie auch 200 Jahre später für Kant, kam der Rechtsstaat an erster Stelle. Erst wenn die Individuen sich auf einen Rahmen einigen, der allen ihren widerstreitenden Willensäußerungen Grenzen setzt, beginnt Zivilisation. Die Unterschiede zwischen den beiden Philosophen sind jedoch größer als ihre Ähnlichkeiten. Für Hobbes ist jeder Rahmen besser als der Abgrund, der sich auftut, wenn es gar keinen Rahmen gibt – ausgenommen vielleicht einer, der unmittelbar unser Leben bedroht. Im Gegensatz dazu meint Kant, der Rahmen müsste der richtige sein und auf Gerechtigkeitsvorstellungen gründen, die alle Regeln, die sie einzulösen versuchen, bedingen. Für Hobbesianer kommt das Recht zuerst: Die Herrschaft des uneingeschränkten Souveräns ist das Fundament für alle anderen Regeln, und die ihm geschuldete Untertanentreue ist absolut. (Allerdings geht Hobbes davon aus, dass man gegen jeden Widerstand leisten darf, der einem das Leben nehmen will. Nach dieser Ansicht müsste Abraham wohl am Berg Morija vor Gott schweigen, doch Isaak hätte ein Widerstandsrecht.) Für Kant kommt demgegenüber die Ethik zuerst. Gott hat die Gesetze der Vernunft, die die Grundlage aller anderen darstellt, zu befolgen, und wenn Abraham diese vor den Toren Sodoms klarer sieht als der HErr, dann ist er verpflichtet, auf sie hinzuweisen. Ohne das vom Souverän errichtete Gesetzeswerk gibt es für Hobbes nur den Abgrund zu sehen.

    Hobbes’ größter Beitrag zur modernen politischen Theorie besteht darin, die säkulare Grundlage staatlicher Macht herausgestellt zu haben, aber dennoch ist die Religion in seinem gesamten Werk präsent. Leviathan und Behemoth sind die vom HErrn im Buch Hiob erwähnten Ungeheuer. Hobbes verwirft zwar die überkommene Vorstellung, dass die Herrschaftsrechte des Königs durch göttliche Autorität legitimiert sind, gibt seinen Schriften aber Titel, die die absoluten Ansprüche des Königs der Könige selbst beschwören. Vor der Aufklärung stand Hiob für die Lehre, dass allmächtige Macht Recht schafft: Gott kann tun, was Ihm gefällt, Er braucht keine Gründe dafür anzugeben. Für Hobbes war das Buch ein in der ganzen Heiligen Schrift einzig dastehender »Moraltraktat«, er machte als Erster auf den Leviathan aufmerksam und verwendete das Untier als Metapher für den Staat. Sich auf die Bibel zu stützen, um das religiöse Fundament politischer Autorität zu untergraben, ist an sich ein interessanter Kunstgriff, doch warum muss man dafür einen der grausamsten Abschnitte bemühen, in dem Gott durch die Betonung von Hiobs Machtlosigkeit dessen Elend zu verspotten scheint? Warum sollte Hobbes sein Buch nach dem Ungeheuer nennen, das Gott anführt, um Hiob zu schmähen, weil dieser Seine Gerechtigkeit infrage gestellt hat? Ein Grund ist dieser: Wenn Gott selbst meint, Macht und nicht Gerechtigkeit sei das Ausschlaggebende, dann würde Hobbes mit göttlichem Segen alle Gerechtigkeitsforderungen ablehnen.

    Das Buch Hiob lässt sich, wie ich am Ende dieses Buches zeigen werde, ganz anders deuten. Kehren wir zunächst zu der Frage zurück, inwieweit Hobbes’ Ansichten unsere eigene Welt beschreiben. Der unendliche Kreislauf von Furcht und Unterwerfung, der seiner Meinung nach die Realität beherrscht, erklärt eine Triebfeder der jüngsten amerikanischen Außenpolitik, die durch einen nicht endenden, unvorhersagbaren Krieg gegen den Terror das Leben in absehbarer Zukunft ekelhaft, tierisch und kurz gestalten könnte. Nur ein Herrscher mit uneingeschränkter Macht hätte die Möglichkeit, den Krieg zu begrenzen. Von welcher Nation die Neokonservativen meinen, sie sei für die Aufgabe, den internationalen absoluten Souverän zu spielen, am geeignetsten, ist wohl kein Geheimnis.

    Kagans transatlantische Analysen wurden aus historischen Gründen stark kritisiert. Der europäische Historiker Tony Judt beispielsweise erinnert den Leser daran, dass internationale Strukturen wie die von Kagan heruntergemachte UNO das Werk starker Mächte – vor allem der USA – waren, als Europa in Trümmern lag. »Die Normen, gegen die Washington derzeit verstößt, sind seine eigenen«, schließt Judt. »Am Rechtsstaat oder der Wünschbarkeit von Frieden anstatt von Krieg ist nichts besonders Europäisches und erst recht nichts Postmodernes.«⁶ Und der frühere deutsche Außenminister Joschka Fischer bemerkte, dass die heutigen Europäer keineswegs von der Venus stammten, sie seien Kinder des Mars: Nicht die Illusionen der Bequemlichkeit, sondern die Erinnerung an zwei Weltkriege seien der Grund dafür, dass Europa auf friedliche Lösungen setze. Wenn er über europäische Geschichte schreibt, sind Kagans Pinselstriche genauso breit, als wenn er über Philosophie schreibt; beide liefern eigentlich nur das Schmuckwerk für den politischen Anspruch, dass die Fähigkeit, die Welt zu regieren, das Recht mit sich bringt, den moralisch bequemsten Weg einzuschlagen. Dennoch machten Kagans Ansichten eine Zeitlang Eindruck – nicht bloß als Diskussionsgegenstand in außenpolitischen Zirkeln, sondern auch als Grundlage für politische Richtlinien. Ein 2005 vom Verteidigungsministerium vorgelegtes Papier zur nationalen Verteidigungsstrategie kommt daher zu dem Schluss: »Unsere Stärke als Nation wird weiterhin von denjenigen herausgefordert, die zu einer Strategie der Schwachen greifen, auf internationale Foren, Rechtsverfahren und Terrorismus setzen.«⁷

    Dem Verteidigungsministerium fiel es nicht schwer, daraus Konsequenzen zu ziehen. Real sei (militärische und wirtschaftliche) Macht. Wer über sie verfügt, kann es sich leisten, ehrlich darüber zu sprechen, was ihn antreibt; wem sie fehlen, der muss zu einer Reihe von Listen greifen, um seine stärkeren Nachbarn so sicher zu lähmen, wie die Liliputaner Gullivers Hände fesselten. Wenn man Kriege gewinnen kann, wird man den Krieg als einen praktikablen Teil internationaler Beziehungen betrachten, wenn nicht, wird man die Vorteile von Verhandlungen loben. Für Neokonservative war die Botschaft klar: Die USA sind die mächtigste Nation nicht nur der Welt, sondern der Geschichte, und nachdem sie alle Rivalen um die Vorherrschaft aus dem Feld geschlagen haben, können sie nun die Samthandschuhe abstreifen. Die Europäer hingegen sind nicht mehr imstande, größere militärische Aktionen durchzuführen. Ihre Ablehnung des amerikanischen Alleingangs beruht daher nicht auf dem Bekenntnis zu Prinzipien der Weltordnung, sondern auf der Furcht, die USA würden das tun, wozu sie selbst nicht in der Lage sind. In diesem Punkt war Kagan anfänglich konsistent. Er räumte ein, dass das junge Amerika sich von Ansichten angezogen gefühlt hatte, in denen Rechte und Verträge betont wurden. Was sonst hätte man auch von einer aufstrebenden Republik erwarten sollen, die inmitten des europäischen Kolonialgerangels auf die Beine kommen wollte? Wenn die Weltanschauungen sich seit 1776 umgekehrt hätten, dann, weil auch das Machtgleichgewicht sich verkehrt habe.

    Hier geht es mir weniger um die historische Darstellung als vielmehr um die Form der vorgebrachten Metaphysik: Real sind die von Amerikas Macht gesicherten militärischen und wirtschaftlichen Beziehungen, alles andere sind eigennützige Luftgebilde. Einigen wir uns mal darauf, diese Ansicht als hobbesianisch zu bezeichnen, auch wenn der wirkliche Hobbes subtiler und reichhaltiger war, als es die meisten auf ihn sich berufenden Anschauungen für sich beanspruchen können. Die außenpolitischen Äußerungen der US-Regierung kurz nach den Angriffen vom 11. September und während der ganzen ersten Amtszeit von Präsident George W. Bush fügen sich größtenteils in diese Auffassung ein. Die Satirezeitschrift The Onion übertrieb nur unwesentlich, als sie Bushs Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter der Überschrift zusammenfasste: »Bush enthüllt seine die USA-machen-was-sie-wollen-Doktrin«. Ohne Zweifel haben uns viele Aktionen der Regierung Bush näher an hobbessche Realitäten herangeführt, als irgendjemand sich je hätte vorstellen können. Die Katastrophe im Anschluss an den Hurrikan Katrina bot viele Einblicke in den Zusammenbruch der Zivilgesellschaft, unter dem die Amerikaner in ihrem Land leiden. Auch wenn die amerikanische Außenpolitik – wie die vieler anderer Nationen – schon immer bereit war, die Fehler ihrer Verbündeten zu übersehen, so ist es doch eine rezente Entwicklung, dass der Wille, den amerikanischen Interessen zu dienen, das einzige Kriterium dafür ist, ein Verbündeter zu sein. Wie ein ehemaliger CIA-Agent der amerikanischen Journalistin Jane Mayer erklärte: »Wir sagten ihnen, wir unterstützten ihre Aufnahme in die NATO, wenn sie uns dabei unterstützen, Menschen zu foltern.« Man muss sich nur vor Augen halten, wie sich die Vereinigten Staaten zum Internationalen Strafgerichtshof stellen, um ihre Politik als durch und durch hobbesianisch zu entlarven. Schließlich wurde der Gerichtshof in dem Bemühen gegründet, einen von jeder Macht unabhängigen und allgemeingültigen Rechtsmaßstab zu fördern. Als die Regierung für amerikanische Soldaten, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen worden waren, Immunität verlangte, machte sie damit klar, dass der Mächtige sich keine Gedanken über das Recht machen müsse. Noch unverfrorener zu sein fällt schwer, doch die Regierung hat es versucht. Als sie die Entwicklungshilfe für bitterarme Länder wie den Niger strich, weil diese die Immunitätsforderung der USA nicht unterstützten, legte sie bei ihren Machtbestrebungen eine Rücksichtslosigkeit an den Tag, die ihresgleichen sucht.

    Aber Taten sind eines, Prämissen ein anderes. Die Hauptschwierigkeit, Amerikaner als Hobbesianer zu bezeichnen, hat wenig mit der Geschichte der politischen Theorie, aber sehr viel mit dem amerikanischen Selbstverständnis zu tun. Selten haben Amerikaner die Welt als einen grenzenlosen Dschungel betrachtet oder Politik als Kontrolle des unbeschränkten Machtwillens der Menschheit. Im Gegenteil: Henry Kissinger hat 2005 beklagt, dass die USA vermutlich das einzige Land der Welt seien, in dem Realist als Schimpfwort gemeint sein kann. Amerikaner halten sich an das Ideale, nicht an das historisch Kontingente, ihr Patriotismus fordert nicht Blut und Boden, sondern das Bekenntnis zu Ideen. Die Macht, die sie wollen, ist die Macht der Vernunft: nicht vor der Realität in die Knie zu gehen oder die uns von unseren Altvorderen ererbten Bedingungen hinzunehmen, statt andere zu schaffen. Und anders als die Napoleonische Armee sollten wir keine Bajonette brauchen, um unsere Revolution zu verbreiten. Die Armen, die Müden, die Hungrigen werden von ganz allein kommen, denn Amerika eröffnete eine in der Geschichte bis dahin unerhörte Möglichkeit: eine eigene Welt neu zu schaffen. Amerikas Naturzustand war nicht der von Hobbes, sondern der Lockes: ein Ort, an dem Menschen sich oft von der Aussicht auf Wohlstand antreiben ließen, aber nie von der Gegenwart der Furcht. »Gebt mir Freiheit oder Tod« lautet ein Schlachtruf aus der amerikanischen Revolution, denn mehr als den Tod fürchten Amerikaner die Tyrannei. Statt nach einer absoluten Macht zu suchen, die sie schützen könnte, strebten Amerikaner daher nach dem Gleichgewicht dreier Mächte. Absoluten Machtansprüchen zuvorzukommen, war für die Schöpfer der amerikanischen Verfassung so wichtig, dass sie der Forderung des französischen Philosophen Montesquieu nach einer Gewaltenteilung folgten: Exekutive, Legislative und Judikative sollten unabhängige Regierungsbereiche sein.

    Der ältere Konservativismus war ein Produkt der Alten Welt und auf sie zugeschnitten. Er ging von der Prämisse aus, es könne wohl nicht besser werden, und daher sei es die Aufgabe der politischen Kultur, einer Verschlechterung entgegenzuwirken. Aus dieser Perspektive gesehen, sind Ideen den Köpfen von Intellektuellen entsprungen, die sie nutzten, um etwas wie den jakobinischen oder stalinistischen Terror zu errichten. Da hielte man sich besser an die erprobten und zuverlässigen Sitten und Gebräuche, geeignet, die Ordnung aufrechtzuerhalten, die wir dem Chaos in uns und um uns abgerungen haben. Traditionelle amerikanische Konservative haben diesen Standpunkt übernommen, und in einigen Militärkreisen steht er hoch im Kurs. Auf die Mehrheit der Amerikaner, deren Selbst- und Geschichtsbild dieser Position diametral entgegensteht, hat er indes keinen Reiz ausgeübt. Erst als die Konservativen dazu übergingen, einen Interpretationsrahmen für diese Bilder zu liefern, haben sie an Boden gewonnen. Nur wenige Amerikaner werden einer Weltsicht zustimmen, die letztlich vor einer unerbittlichen, festgezurrten Realität resigniert. Hobbessche Überzeugungen vermochten die amerikanische Rechte auf Dauer ebenso wenig zu begeistern wie der Marxismus die amerikanische Linke, und das aus demselben Grund. Wie immer ihre politischen Überzeugungen beschaffen sind, Amerikaner tendieren zu einer Metaphysik, die ihren Glauben untermauert, dass Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit jede alte Welt verändern können.

    Seit ihren Anfängen galten die Vereinigten Staaten als die fleischgewordene Aufklärung. Mag Europa die Aufklärung auch erfunden haben, Amerika war in der Lage, sie zu verwirklichen. Europäische Denker spekulierten darüber, ob alle Menschen gleich geschaffen waren, amerikanische Denker schrieben es ins Gesetz. Tatsächlich hat, wie der Historiker Henry Steele Commager meinte, Amerikas Gründung Platons Traum gerechtfertigt: Zum ersten Mal in der Geschichte waren alle seine Staatsmänner Philosophen und alle seine Philosophen Staatsmänner.⁸ Die These wird all denen seltsam vorkommen, die Denker per definitionem für Menschen halten, die nicht handeln. Solche Voraussetzungen könnten uns in Franklin und Jefferson Politiker sehen lassen, deren dilettantische Ausflüge in die Theorie dieselbe gutmütige Belustigung verdienen wie Rousseaus Verfassungsentwürfe für entstehende Staaten.

    Im 18. Jahrhundert waren aber auf beiden Seiten des Atlantiks Theorie und Praxis zu einem Paket geschnürt. Der Unterschied bestand bloß darin, dass die Aufklärung in Amerika zu funktionieren schien. Mitte des 18. Jahrhunderts sah es so aus, als wären die Pläne europäischer Philosophen zum Scheitern verurteilt. Friedrich der Große umschmeichelte Voltaire zwar, doch dann vertrieb er ihn aus Potsdam; Katherina die Große forderte Diderot auf, das russische Schul- und Universitätswesen zu gestalten, schlug aber all seine Vorschläge in den Wind. Weder die Polen noch die Korsen zeigten sich an den Verfassungen, die Rousseau für sie entworfen hatte, wirklich interessiert. Europa war anscheinend so stark ins Geflecht von Hierarchie und Bürokratie verstrickt, dass keine neuen Ideen blühen konnten. Das Gefühl zu ersticken kam in den Metaphern zum Ausdruck, die für die Erde selbst verwandt worden sind: Europas ausgelaugter Boden konnte gegen das jungfräuliche Land des neuen Kontinents nicht ankommen. Und 13 Jahre vor den Franzosen erklärten die Kolonialisten die Unabhängigkeit von ihrem Monarchen. Die in Philadelphia verfasste Bill of Rights inspirierte die Pariser Erklärung der Menschenrechte. »Die Französische Revolution«, so der Historiker Simon Schama, »hat in Amerika begonnen.«

    »Wir können nicht länger sagen, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt«, schreibt Thomas Jefferson, »denn dies ganze Kapitel der Menschheitsgeschichte ist neu.«¹⁰ Jeffersons biblische Anspielungen sind so erstaunlich wie die von Hobbes. Amerika hat die weltmüde Weisheit König Salomons zurechtgewiesen. Von seinen Tagen bis zu den unseren mag alles mehr oder weniger demselben Kreislauf von Langeweile und Eitelkeit gefolgt sein, doch nun, meinte Thomas Paine, »liegt es in unserer Hand, die Welt neu zu beginnen«.¹¹ Überschwängliche Äußerungen blieben keineswegs auf Amerikaner beschränkt. Vor allem französische Philosophen gerierten sich überaus vollmundig. Raynal erwartete, »ein neues Olympia, ein neues Arkadien, ein neues Athen, ein neues Griechenland wird vielleicht auf dem Kontinent einen neuen Homer, einen neuen Theokrit und vor allem einen neuen Anakreon hervorbringen«.¹² Turgot schrieb, dass »dieses Volk die Hoffnung der Welt ist. Es könnte ihr zum Vorbild werden.«¹³ Condorcet meinte, als höchste bislang von der Zivilisation erreichte Stufe beweise Amerika die Realität des Fortschritts. Fragonards Gemälde von Benjamin Franklin, der in einer Wolke biblischer und römischer Allegorien über den Blitz und die Gerechtigkeit gebietet, ließ keinen Zweifel daran, wo die Macht der Zukunft zu suchen war.

    Die Aufklärung als Antrieb für Amerika gehört zu der Sorte von Bildern, wie Gertrud Himmelfarb sie jüngst in »The Roads to Modernity« entworfen hat. Himmelfarb ist eine konservative Historikerin, deren Spezialgebiet der Viktorianismus ist, dessen Vorzüge sie in einer Fülle von Büchern und Aufsätzen dargelegt hat. Wenn prominente Neokonservative die Aufklärung anführen, ist das ein Zeichen für einen entscheidenden Wandel. Dass Himmelfarb sich in ihrem revisionistischen Aufsatz dem 18. Jahrhundert zugewendet hat, ist daher ein ebenso interessantes Barometer für den konservativen Wandel wie Kagans »Dangerous Nation«, sein zweiter Beitrag zur Politikgeschichte. Aus dieser Darstellung der amerikanischen Außenpolitik ist Hobbes völlig verschwunden. Stattdessen beginnt das Buch mit einem Zitat von Lincoln, dazu gedacht, die These abzusegnen, dass Amerika sich immer von einer unauflöslichen Verbindung von Interessen und Idealen habe leiten lassen. Die These ist stärker als die banale, aber wahre Behauptung, dass die meisten Handlungen gemischte Motive spiegelten. Nach Kagans zweitem Standpunkt zeugt jeder innen- wie außenpolitische Aspekt der amerikanischen Politik von der prästabilierten Harmonie des Materiellen und Moralischen. Plötzlich folgten Amerikas Handlungen, von der Handelspolitik bis zu Invasionen, Idealen, die zufällig Amerikas Interessen förderten, aber stets allgemeine im Blick hatten: Macht und allgemeiner Nutzen ergänzten sich wunderbar. In einem typischen Beispiel wird die Asienpolitik der USA in den 1890er Jahren geschildert: »Primär ergab sich das ganze Engagement in Fernost weder aus Amerikas kommerziellen Bestrebungen noch aus seinen engeren nationalen Sicherheitsinteressen, ausschlaggebend waren moralische und humanitäre Belange sowie ein Verantwortungsbewusstsein, das den mehr als ein Jahrzehnt zuvor angebotenen ›Hilfsleistungen‹ entsprang.«¹⁴

    Europäer, die beispielsweise im Krieg gegen Spanien 1898 an der Moralität amerikanischer Motive zweifelten, huldigten nach dieser Auffassung nur ihren antiamerikanischen Vorurteilen. Während Himmelfarbs Versuch, die Aufklärung den Händen der Franzosen zu entreißen, daran erinnert, wie pommes frites zu freedom fries wurden, hat Kagan geschickt alte Zitate zusammengestellt, die die internationalen Reaktionen auf den Irakkrieg spiegeln. Über McKinleys Entscheidung, Kuba zu okkupieren, schreibt er:

    »Obwohl die meisten Amerikaner geglaubt haben, sie seien aus den hehrsten Motiven in den Krieg gezogen, hat fast ganz Europa es nicht so wahrgenommen. […] Europäische Kommentatoren aus allen ideologischen Lagern nahmen die Gelegenheit des Krieges wahr, um alte Vorstellungen von Amerikas Materialismus, Gier, Vulgarität, Eigennutz und Barbarei zu beleben. […] Sie betrachteten die Intervention ›als Verrat an der amerikanischen Tradition und an den allgemeinen Werten‹. Der Krieg ›hat, als der amerikanische Mythos vor ihren Augen zerbrach, ein Gefühl von Verlust, von unwiederbringlich besudelter Unschuld mit sich gebracht […]‹. In den liberalen Zirkeln der Internationalisten und unter Friedensaktivisten machte sich die Sorge breit, die Vereinigten Staaten hätten durch ihre Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihres Nachbarlandes der internationalen Rechtsordnung schweren Schaden zugefügt.«¹⁵

    Klingt das vertraut? Man könne den Schauplatz verändern, so Kagan, der Konflikt bleibe sich gleich: Amerikas auf dem Bekenntnis zu allgemeinen Rechten gegründete nationale Identität verlange nach einer Außenpolitik, die sich der Verbreitung von Gerechtigkeit verpflichtet fühlt, und das würde von schwächeren Nationen meistens übel genommen.

    Eigenartig an dieser Auffassung ist nicht bloß die uneingestandene – und gleichwohl völlige – Umkehrung seiner früheren Ansicht. Statt Hobbes ständig gegen Kant auszuspielen, wird nun eine glückliche, nie in Zweifel gezogene Verbindung zwischen den beiden behauptet. Ohne eine Atempause einzulegen, wird Allgemeingültigkeit an die Stelle von Eigenmächtigkeit gesetzt. Womöglich noch problematischer ist die Weigerung des Autors, irgendwelche Zweifel an der Glaubwürdigkeit zuzulassen. Die Behauptung, ein Appell an moralische Ideale sei immer aufrichtig, ist genauso dogmatisch wie die Behauptung, er sei immer unaufrichtig. Wenn wir etwas ideal nennen, dann loben wir es. Doch nicht alles, was sich ein Ideal nennt, ist lobenswert, und Kagans Bereitschaft, jeden Anspruch, dass wirtschaftliches Handeln einem moralischen Imperativ folge, ohne näheres Hinsehen zu akzeptieren, ist erstaunlich – vor allem in Anbetracht seiner früheren Ergebenheit für Hobbes.

    Dass die Rechten in letzter Zeit die Rede von universalen Idealen für sich entdeckt hat, beschränkt sich nicht auf Amerika. Der Schriftsteller Ian Buruma erläutert:

    »Die Geschichte der politischen Ideen in Europa, des linken Internationalismus und der konservativen Verteidigung traditioneller Werte, ist lang und oft vergiftet. Die Linke stand auf der Seite von Universalismus, wissenschaftlichem Sozialismus und dergleichen, während die Rechte an Kultur, im Sinne von ›unserer Kultur‹, ›unseren Traditionen‹, glaubte. Während der Zeit des Multikulturalismus in den 1970er und 1980er Jahren begannen sich die Schwerpunkte zu verschieben. Jetzt war es die Linke, die für Kultur und Tradition stand, besonderes für ›ihre‹ Kulturen und Traditionen, d.h. für die der Immigranten, während die Rechte für die universalen Werte der Aufklärung eintrat. Das Problem war die unklare Grenze zwischen dem, was tatsächlich universal, und dem, was bloß ›unser‹ ist.«¹⁶

    Problematischer als die verschwommenen Grenzen war der verdächtige Zeitpunkt: Just in dem Moment, als die Türkei sich anschickte, in die EU aufgenommen zu werden, bekannten sich plötzlich christdemokratische Politiker in ganz Europa zu den Ideen der Französischen Revolution, die von ihren Vorvätern verabscheut worden sind. Und so wie Christdemokraten noch gerade rechtzeitig den Feminismus für sich entdeckten, um Muslime aus der EU herauszuhalten, verbreitete sich die Sprache der Aufklärung gerade dann in Amerika, als deutlich wurde, dass nicht Ideale den Krieg im Irak antrieben, sondern ein übel riechendes Interessengemenge: Vorherrschaft in einer Region, Öl und das Bestreben, die Aufmerksamkeit von einer Präsidentschaft abzulenken, die sich schon damals als katastrophalste in der Geschichte der USA abzeichnete. Wie der frühere Neokonservative Francis Fukuyama bemerkt hat, brachten die Republikaner die demokratische Rhetorik als Rechtfertigung für den Irakkrieg erst dann richtig auf Hochtouren, als im Irak keine Massenvernichtungswaffen aufzufinden waren. Ein Kanister Sarin hätte uns Stunden rednerischer Ergüsse ersparen können.

    Hat der amerikanische Journalist Joe Klein die neokonservative Außenpolitik zu Recht als »einseitige Kriegslust« definiert, »die sich mit der utopischen Rhetorik von Freiheit und Demokratie maskiert«? Oder hat, wie der britische Autor Dan Hind in seiner scharfsichtigen Analyse meint, das unerwartete Auftreten des fundamentalistischen Terrors den etablierten Kräften Gelegenheit geboten, mit einem historischen Erbe, das sich für nahezu jeden politischen Zweck einspannen ließ, Legitimität zu erzielen? In »Threat to Reason« schreibt Hind:

    »Die Terrorangriffe in New York und Washington trugen viel dazu bei, die Geschichte des vorangegangenen Jahrzehnts zu verdunkeln. Die Vorstellung, dass das Erbe der Aufklärung von irrationalen Gegnern angegriffen wird, ist plötzlich spektakulär bestätigt worden. Die Verteidiger der etablierten Ordnung konnten sich wieder einmal als aufgeklärt betrachten. Die Befürworter der neoliberalen, unternehmerfreundlichen Globalisierung fühlten sich erleichtert, weil die wachsende Gewissheit des intellektuellen Bankrotts plötzlich einer anderen Ära angehört, den Jahren, bevor alles sich veränderte.«¹⁷

    Hinds These ernst zu nehmen, zwingt uns nicht, in der jüngsten konservativen Begeisterung für die Aufklärung einen bewussten Trick zu sehen. Selbsttäuschung ist ja immer eine Möglichkeit. Vielen konservativen Politikern ist es mit ihrer aufgeklärten Rhetorik sicherlich ernst gewesen. Tatsächlich muss es eine Erleichterung gewesen sein, die knallharten Töne vom Kriegsbeginn fallen zu lassen: Die geistige Kluft zwischen Amerikaner- und Hobbesianer-Sein ist einfach zu groß. In der Politik zählen subjektive Zustände allerdings wenig. Welche Ideale die Neokonservativen auch zu verfolgen meinten, ihre Bemühungen traten fast alles mit Füßen, was die Aufklärung als Erfolg verbuchen konnte. Man mag aufrichtig daran glauben, die Welt für die Demokratie zu retten, wenn man dafür jedoch die Folter legalisiert, die Grundrechte aushebelt, die Grenzen für die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung verschiebt und das Machtgleichgewicht im Staat untergräbt, dann hat man eine Welt geschaffen, für deren Auslöschung Diderot und Voltaire gekämpft haben.

    Gute Theorie ist in den neokonservativen Kreisen so wenig zu finden gewesen wie gute Praxis: Neben der Behauptung, dass die Werte der Aufklärung allgemeingültig sind, erfährt man kaum etwas über die Natur dieser Werte selbst. Nimmt man die neokonservativen Ansichten über die Menschheit näher unter die Lupe, wird klar, warum ihre aufgeklärte Rhetorik so schal klingt: Die hobbesschen Annahmen, wie Menschen funktionieren, untergraben die Möglichkeit, aus der Rhetorik Taten folgen zu lassen. Wie wir im 9. Kapitel sehen werden, müssen Verfechter der Aufklärung nicht an die Notwendigkeit von Fortschritt glauben, wohl aber an seine Möglichkeit. Anderenfalls bleibt einem nur, was Hind eine gewisse Verzauberung nennt:

    »Unter den gegenwärtigen Umständen ist die Sprache der Aufklärung selbst, die Sprache der allgemeinen Menschenrechte und der Moderne, erfolgreich auf den Stoff eines welthistorischen Kitsches heruntergebrochen worden, auf gleicher Stufe mit den apokalyptischen Fantasien von Amerikas umnachteten und verwirrten Evangelikalen stehend. Auf diese Weise wird die Aufklärung zum Deckmantel, womöglich auch zum Trost, für eine herrschende Klasse, die sich nicht mehr imstande fühlt, unter Bedingungen der Demokratie in Friedenszeiten zu funktionieren und stattdessen nach Mitteln eines anhaltenden Notstands verlangt.«¹⁸

    Dennoch findet die konservative Beschwörung der Aufklärung weit mehr Nachhall in der amerikanischen Realität als die frühere Bestrebung, sich Hobbes auf die Fahne zu schreiben. Tatsächlich kann man noch weiter gehen. Seit ihren Anfängen waren die Ideale der Menschenrechte für die Vereinigten Staaten konstitutiv. Amerika war immer ein Land des Idealen – ein Ort, zu dem Menschen mit Gründen gingen, und nicht ein Flecken Erde, auf dem Schwärme von Wanderern zufällig landeten. Amerikaner zu sein bedeutete Teil einer Idee zu sein, nicht Teil eines Stammes, und obgleich die Millionen von Sklaven, die an seine Küsten verschleppt worden sind, sich wohl kaum für die Idee von Amerika entschieden haben, ist es doch vielsagend, dass die große Mehrheit ihrer Nachkommen es taten. Statt das Ideal zurückzuweisen, kämpften Afroamerikaner lange und hart darum, dass Amerika ihm gerecht wurde. Tatsachen wie diese unterscheiden den Erfahrungshorizont eines Amerikaners von dem seiner europäischen Pendants. Europäer mögen sich gesagt haben, sie trügen zum Wohle anderer eine schwere Last, doch ihre Imperien waren auf der prinzipiellen Überzeugung von der Überlegenheit ihrer Rasse errichtet.¹⁹ Amerika ist noch weit davon entfernt, sich selbst verwirklicht zu haben, und der Weg dorthin ist nie ein stetiger gewesen. Doch seine Gründungsidee, dass die Nation durch einen gemeinsamen Grundsatz statt durch gemeinsame Abstammung zusammengehalten wird, hat weit über seine Grenzen hinaus gewirkt und ist entscheidend für die Bekämpfung des Rassismus in internationalen Angelegenheiten gewesen. Aus der Entfernung gesehen fallen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit Amerikanern natürlich zu, sie mussten nicht mit dem Blutvergießen erkauft werden, das in Europa alle Versuche, diese Vorstellungen durchzusetzen, begleitet hat. Amerikaner sind weder ein auserwähltes noch ein zufällig zusammengewürfeltes Volk. Amerikaner zu sein geht auf eine Entscheidung zurück. Gerade das hat Amerika zu einer neuen Welt

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