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Wort_Zone 2.0
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eBook261 Seiten2 Stunden

Wort_Zone 2.0

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Über dieses E-Book

Neue Texte von Hermann L. Burger, Ingeborg Kaiser, Hermann Kinder, Peter Salomon, Elmar Schenkel, Verena Stössinger und anderen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Sept. 2015
ISBN9783739278612
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    Buchvorschau

    Wort_Zone 2.0 - Books on Demand

    Editorial

    Mit dem Begriff »Fortsetzungen« ist das Heftthema dieser Ausgabe der »Wort_Zone« umschrieben. »Fortsetzungen« einerseits, weil der ersten Nummer tatsächlich eine zweite folgte – was nicht immer der Fall ist – und weil nach dieser noch möglichst viele andere erscheinen sollen. »Fortsetzungen« aber auch andererseits, weil man sich als Herausgeber eines Literaturmagazins wünscht, daß sich nach der Lektüre der Beiträge Anknüpfungen ergeben mögen, beispielsweise der folgenden Art: ein Verlag setzt sich mit dem Autor eines Manuskriptvorabdrucks in Verbindung, um danach ein Buch daraus zu machen; ein Leser tritt in Kontakt mit einem Autor, weil er von einem Text so angetan ist, daß er unbedingt mehr von dem Autor und seinem Werk erfahren möchte; ein inspirierter Literaturveranstalter möchte einen Autor, den er in der »Wort_Zone« entdeckt hat, gerne zu einer Lesung einladen. Oder ein Literaturkritiker, der auch Mitglied einer Literaturjury ist, schlägt einen Autor, den er gerade begeistert gelesen hat, für einen Literaturpreis vor. Von solchen »Fortsetzungen« träumt der Editor …

    Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften sind jedoch auch »Fortsetzungen« für die Autorinnen und Autoren selbst. Sie können Zwischenberichte aus einem lange andauernden Schreibprozeß sein, sie können Experimentcharakter ohne größeres Risiko (wie es beispielsweise ein eigenständiges Buch mit sich brächte) besitzen, und sie können helfen, Wartezeiten bis zur nächsten Buchveröffentlichung zu überbrücken, von der manchmal nicht gewiß ist, ob sie jemals kommen wird.

    Es scheint sich inzwischen die Marotte eingeschlichen zu haben, daß jede Zeitschrift mit einem Editorial eingeleitet werden müsse – so, als ginge es nicht mehr anders. Oder gar in der Annahme, das Lesen des Editorials erspare die Lektüre der einzelnen Beiträge, biete zumindest eine Zusammenfassung des Inhalts, die fürs nächste literarische Coffee-Table-Gespräch ausreiche. Man kann da auch anderer Meinung sein … Deshalb ist es gut möglich, daß dies das letzte Editorial ist, das Sie, liebe Leserin, lieber Leser, zu Gesicht bekommen werden. Denn schließlich soll nur eines im Mittelpunkt der »Wort_Zone« stehen: spannende neue Texte von ambitionierten Autorinnen und Autoren. In diesem Sinne …

    Klaus Isele

    Inhalt

    PROSA & LYRIK

    Ingeborg Kaiser . Wortschachtel / Ende gut

    Heiner F. Welter . Das verschwundene Grab der Manns

    Ruedi Bind . Aufgehalten

    Jan Rieckmann . Der kanadische Traum

    Philip J. Dingeldey . Und Garfield grinst diabolisch

    Hermann Duros . EC homo – eine Erzählung von der schwäbischen Heimatfront

    Verena Stössinger . Die Gespenstersammlerin

    Marianne Ganzenmüller . Thekla

    Peter Salomon . Müller und Freud

    Susanne M. Ried . Nicht die Kahlköpfe / Maidan

    Konrad Pauli . Geldregen

    Inge Muntwyler . Wer hat Angst vor dem Alter?

    Jürgen Lodemann . Mit närrischem Lachen

    Hanspeter Padrutt . Selbstmord einer Maschine

    Hermann L. Burger . Eine Prosaskizze

    Johanna Walser . Seuses Leben, von ihm selbst erzählt

    Margit Koemeda . Perspektiven

    Katrin Züger . Rosettas Stein

    ESSAY

    Elmar Schenkel . Die Magie des Buches

    Hartmut Löffel . Jessenins Blick zu Hebel und Uhland

    Hansjörg Straub . Adjektive in Wangen (Ein Protokoll)

    Merkwürdigkeiten des Literaturbetriebs (Folge 1):P. Frömmig

    25 Fragen (Folge 2):beantwortet von Hermann Kinder

    Lieblingssätze aus empfehlenswerten Büchern

    Rezensionsteil

    Ingeborg Kaiser

    Wortschachtel

    Mit den Worten unterwegs, auch schon hausieren, aber kein dolles Geschäft, womöglich zu leise, womöglich am Rosten in der Schachtel unterm Bett, die sie mit einem Kälberstrick verschnürte und in die Casa del Leone mitnahm. Unförmig das Ding in der Halle der Klassiker, das sie die ersten Tage lieber übersah. Um das Haus die Wolkenvögel, alle Landschaft weg, und die Vorstellung ins Nirgendwo zu fliegen, doch allmählich wuchs ihr Ruhe zu, sie war angekommen, See, Bergtiere, Inselchen, Kirchturm, Häusermosaike, der Süddschungel im Licht der langen Tage. Der Einfall von Landschaft durch die offenen Türen und Fenster, gespiegelt im Glas der Bilder, Bücherfenster. Blaue Weite, Bergkulisse, die sattgrünen Tatzen des Feigenbaums, das Windspiel im Bambus wiedergegeben, verdoppelt. Eines Nachts das Gesicht des Mondes im Badezimmerspiegel, ob ihm der gläserne See nicht genügte, was suchte er wohl? Auch die Wortschachtel, die Worte, endlich am Rumoren, den Kälberstrick zerschnitten, sie freigelassen. Schon machten sie sich selbstständig, die Worte wie Katzen, nur ohne Pelz, lassen sich nicht zähmen oder nach Erik Orsenna, Wörter und Katzen würden zur Rasse der Nichtgreifbaren gehören. Manche Worte blitzten auf und verschwanden eidechsenschnell ins Vergessen, manche wollten höher hinaus, kamen ins Fliegen oder Rollen oder verkrochen sich im dichten Grün des Hanges, der Natur unterlegen, vor ihrer Schönheit verstummt. Manche wieder trafen auf andere Worte, und es entspann sich eine Dusprache, wurde zu einem beglückenden Abend. Nur wenige liessen sich formen, wurden Sätze, die sich aneinanderreihen, vielleicht ins Ende fänden.

    Ende gut

    Die Künstlergarderobe, über eine Wendeltreppe zu erklettern, schien ihr ein sicherer Horst vor der Lesung auf der Provinzbühne. Am Schminktisch ein freundliches Stillleben, widergespiegelt wie ihre Person und der schlauchartige Raum, rasch zu erkunden. Rechtsseitig die tiefgezogene Fensterfront, die an ein Aquarium erinnerte, sie wäre der Fisch und im Kunstlicht zu beäugen, aber dem Fisch nicht verwehrt, dasselbe zu tun. Ihr gefiel die Sicht auf Geleisstränge, den Bahnsteig, auf die Reisenden im Nahzug, zu beobachten, bis die Wagen in Bewegung kamen, die Köpfe, Körper mit zunehmender Geschwindigkeit zu verfliessen schienen. Das Donnern eines Fernzugs im Raum, rasende Lichtpfeile in der frühen Nacht, dann das Nachbeben.

    Plötzlich der Vierkantmensch auf dem Bahnsteig, wie aus dem Boden gestampft, angewachsen, starrte auf das lichthelle Fensterbild mit der Frau am Tisch, holte sie mit dem Fernglas näher. Sie drehte den Kopf und sah den ruhigen Beobachter, eine Szene, die ihr bekannt vorkam, ohne weiter nachzurätseln. Doch sass er in der letzten Reihe des Theaters, ein Schattenriese, der die Lesende im Bühnenlicht unbemerkt fixierte. Eine Geschichte über Opfer und Täter, die Austauschbarkeit ihrer Rollen, Gewalt wie Gegengewalt die gleiche Münze, und keine der Seiten ein Glückswurf. Der Text im Wechsel mit der artistischen Flöte, tönende Haikus, ein Tanz um den Tod, ein Requiem?, periodisch vom Rollen der Fernzüge unterlegt. Eine lähmende Ruhe lag über dem Raum und war von der Lesenden nicht aufzuheben, als würde ihre Stimme von Schatten aufgesaugt. Endlich das lockere Fortplaudern bei Zopf, Wein und Käse, vielleicht ein Leichenschmaus, wo man sein Überleben feiert, vielleicht auch nichts dergleichen.

    Während sie auf den letzten Bummler wartete, ihr Gedanke, den Abgang verpasst zu haben, der Vorhang gefallen, und ihre Person ohne Stichwort, nur die Bilder des Abends hinter den Augen, auch ihr Beobachter vom leeren Bahnsteig. Es schien ihr, dass sie als Einzige noch unterwegs sei, als der Mann breit wie gross ihr gegenüber Platz nahm. Das geschwärzte Fenster zeigte sie als gemeinsam Reisende, dazwischen die hellen Stationen, ein kurzer Halt, der fremde Blick auf rasche Passanten, rasch zerstreut. Und ihr alter Schrecken, sobald der Zug in den Tunnel tauchte, angespannt horchte sie hinaus, und erwartete das Ausklicken, Auftauchen, aber der Zug verlangsamte und blieb stehen. Stecken, dachte sie, in dieser Betonröhre stecken, ihr Horror war diesmal Wirklichkeit.

    Sie habe wohl Angst, sagte der Mann in die Leere, bestens, das habe er ihr gewünscht, denn sie sei auch nicht gerade zimperlich mit ihren Mordgeschichten, grabe aus, was längst vermodert sei, und wecke die Gespenster. Aber was sie sich da aus den Fingern gesogen habe, sei einfach daneben. Der Täter erschlagen, gelyncht? Das wisse er besser, denn er lebe in ihrer Stadt und schätze seinen Ruhestand.

    Seine Hände zwischen den gegrätschten Schenkeln ständig am Reiben, Kneten, als wolle er sie einüben, geschmeidig machen, Mordwerkzeuge, dachte sie, und dass ihr Gegenüber vielleicht ein Spinner sei, dachte an die seltsamen Anrufe, seltsamen Nachgeschichten, seit das Buch in einem Massenblatt vorgestellt worden war, an die Verquickung von Fiktion und Wirklichkeit.

    Wer als Putzer im Aufzugskorb an den Glasfassaden von Bankhäusern und Versicherungen lebenslang raufrunterrauf fahre, sagte er dann, sei näher dran, habe den Einblick in die Chefetagen und lerne von denen im Massanzug das Killen ohne Risiko, und was ihn angehe, habe es sich gelohnt. Sie habe ja auch keine Skrupel, aus einer Bluttat Kapital zu schlagen, sie seien also Partner, aber diesmal wolle er nicht abkassieren. Der Fernzug auf dem Nachbargeleise überdröhnte seine Stimme, sekundenlang meinte sie, der Wagen bewege sich mit, spürte die wachsende Kälte, knöpfte sich ein. »Ein Schaden an der Lok«, sagte der Zugschaffner im Eilschritt, »alles sitzenbleiben«, und verschwand.

    Verjährt und vorbei, sagte der Mann, kapiert? Er wolle nicht wieder das verdammte Zeitungsgeschmier und jede Nacht den Fahnder am Bett. Kurzum, ihr Buch müsse vom Tisch, alles in den Reisswolf, aus dem Verkehr. Und bis dann würden sie und ihr schöner Verlag massiv viel Terror erleben, sie habe keine Chance gegen den Profi, er sei nicht umzubringen. Auch das Buch nicht, sagte sie, aber er müsse womöglich aus dem Verkehr. Sie ging zur Abteiltür, die sich nicht mehr selbsttätig öffnete, zog sie auf. Die Reisenden im Nachbarwaggon ferne Inseln für sie. Seine Hände verschlossen ihren Mund, der losschreien wollte, seine Arme wie Klammern. Keine Panik, sagte er. Sie meinte zu ersticken, wand sich, schlug aus. Er liess los, ein Katzemausspiel, lehnte sich locker gegen die Tür, Arme verschränkt, aber sein Blick hielt sie fest, auch noch, als die entsicherte Wagentür aufging und er wuchtig in die Schwärze fiel. Sekundengleich der Ruck, die Räder am Rollen, während sich die Türseiten mechanisch schlossen. Der neue abrupte Halt kam nach ihrer Notbremsung. Ins Quietschen der Räder das Donnern des Gegenzuges.

    [Kurz vor meiner Lesung aus meinem Roman »Mord der Angst«, der mit einer fiktiven Täterfigur den Mordfall Seewen thematisiert, wurde nach 20 Jahren die Mordwaffe, eine Winchester, vom viel bemühten Kommissar Zufall aufgespürt. Schlagartig war der verjährte Mordfall wieder Mediengegenwart, hatte meine Fiktion als scheinbare Rivalin die Realität. Und ich wurde gefragt, ob ich nicht Angst vor dem Täter hätte, denn es gab überraschend viele Übereinstimmungen zwischen meiner Figur Doll und dem nun international gesuchten, vermutlichen Täter Doser. Daraus wurde ein Kurzkrimi, der das Thema der möglichen Begegnung aufgreift.]

    Heiner F. Welter

    Das verschwundene Grab der Manns

    I.

    Schon vor Wochen wollte ich eine neue Lesebrille in Auftrag geben. Seither trug ich das Rezept des Augenarztes ständig in meiner Brieftasche und ärgerte mich täglich über die nachlassende Sehkraft. Gleichwohl fehlte mir der Antrieb, etwas dagegen zu unternehmen. Heute nun, nachdem mir schon bei der morgendlichen Zeitungslektüre die Arme wiederum nicht lang genug erschienen, um scharf lesen zu können, plante ich endlich Abhilfe zu schaffen.

    Da ich einmal wieder, was meine Arbeit mir nur selten erlaubte, mittags zu Hause essen wollte, war ich zu ungewohnter Zeit mit meinem altersschwachen PKW auf der großen Ausfallstraße unterwegs. Das Reklameschild eines Optikers nahm ich erst kurz vor einer großen Kreuzung wahr, nachdem mich eine Ampel zum Halten gezwungen hatte. Eine Parklücke bot sich an. Schnell hatte ich das Fahrzeug abgestellt und hastete über die Straße. Doch auf dem Weg zum Optiker sah ich rechts von mir, wie ein ersehnter Rastplatz imponierend, die ersten Bäume des Waldfriedhofs, der dem soeben erreichten Viertel seinen Namen leiht.

    Urplötzlich verspürte ich, ohne dass mir eine plausible Erklärung schwante, einen unausweichlichen Zwang, diesen Ort, den ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte, sofort aufzusuchen. Lockten mich dabei etwa die zahlreichen Prominenten, die hier ihre Ruhe gefunden hatten: von Stuck, Krone, Junkers, Kortner, Fritz Wunderlich, Michael Ende und fast alle bayerischen Ministerpräsidenten? Jeder Totenkult lag mir freilich fern, aber in mir stiegen Erinnerungen an zahlreiche Beerdigungen auf, die ich gerade hier mit einem immer gleichen Herzklopfen, für das ich keine Erklärung fand, erlebt hatte.

    Meine Gedanken wanderten zurück: Allzu gegenwärtig war mir noch jener bitterkalte Januartag des Jahres 1984, an dem der mächtige alte Chirurg Zinkler in Gegenwart einer großen Zahl seiner Schüler zu Grabe getragen wurde. In neuen, aber zu engen Haferlschuhen fror ich von der ersten bis zur letzten Minute dieser würdevollen Beisetzung, noch schlimmer aber auf dem Rückweg, der sich ungewöhnlich dehnte. Ich hatte mich in diesem Irrgarten verlaufen, dem aus meiner Sicht hilfreiche gradlinig-geometrische Strukturen fehlen. Noch vor Ende der Kondolenz-Zeremonie war ich aufgebrochen, vielleicht auch, um der Schar der meist eitlen Günstlinge Zinklers auszuweichen, die selbst noch dieses Ereignis nutzten, um sich wichtigtuerisch, stets nach allen Seiten wohlwollend lächelnd, zu präsentieren.

    Der Alte hatte in alttestamentarischer Herrlichkeit über Karrieren entschieden; manchmal war es nur ein Zucken seiner rechten Augenbraue, das sein Urteil widerspiegelte. Beteiligte aber verstanden sofort und beugten sich unter seinen Willen.

    Aber es gab noch einen weiteren Grund, früher als üblich aufzubrechen: An diesem Tag stand im Pathologischen Institut eine Sitzung an, die ich keinesfalls versäumen durfte, so oft ich auch – gedanklich das eigene Institut verlassend – von Universitätskarrieren in anderen Instituten oder Kliniken träumte. So beschleunigte ich meine Schritte und erreichte erst nach einem ermüdenden Umweg das große Eingangsportal.

    So intensiv es mich seinerzeit an meinen Arbeitsplatz zurückzog, so mächtig war heute nun meine Sehnsucht, diesen Ort einmal wieder aufzusuchen. Die neue Brille erschien mir plötzlich unwichtig, diese hätte ja auch noch Zeit bis zur nächsten Woche … ich vergaß sie schließlich ganz.

    So erreichte ich das Friedhofsportal, dessen beide Begrenzungen wuchtige Säulen darstellen, auf denen je eine Sphinx thront, jeweils eine der anderen zugewandt. Kaum wollte ich diesem Einlass zur Insel der Toten einen kurzen Blick schenken, schon scheuchte mich ein rasch einfahrender silbergrauer Leichenwagen von der Einfahrt zurück. Erst recht erschrak ich, als gleich hinter diesem ein zweites derartiges Transportfahrzeug erschien und mich an meine frühe Ausbildungszeit in Pathologie und Gerichtsmedizin erinnerte. Damals nämlich standen sie, noch im bewährten Schwarz der damaligen Taxis, in großer Zahl im Hinterhof dieses Instituts, wo sich die Gerüche einer benachbarten Essigfabrik mit denen der Sektionssäle mischten.

    Oft wurden Opfer von Massenunfällen oder Familientragödien angeliefert oder abgeholt, deren Sterben und Tod am nächsten Tag die Boulevardpresse vermarktete: So erschüttert mich noch heute die Geschichte jener Kollegin, die nach dem Unfalltod des Ehemannes in Depressionen verfiel und schließlich ihre beiden Töchter und dann sich selbst mit Narkotika tötete. Immer noch sehe ich vor mir die sterblichen Überreste der beiden Buben, die in Giesing auf den Schienen stehend, einen vorbei rasenden Zug anstarrten, den Gegenzug auf dem eigenen Gleis aber nicht kommen sahen.

    Ein stark verschuldeter Familienvater sah keinen Ausweg mehr und tötete seine sechsköpfige Familie mit einem Schlachtermesser, das er anschließend sich selbst in die Brust rammte.

    Vor diesen Familientragödien verblassten die Einzelschicksale, sofern es sich nicht um Prominente wie die verunglückte Frau eines bayerischen Ministerpräsidenten, den Selbstmord der verlassenen Freundin eines bekannten Fernsehmoderators oder die »Zweitsektion« von Hitlers Stellvertreter handelte. Nicht ohne Vergnügen las ich später das Buch unseres legendären Rechtsmediziners und Dauer-Dekans: »Kalte Chirurgie«. In gleicher Weise sah ich damals meine beruflichen Ambitionen im Spannungsfeld zwischen Rechtsmedizin und Chirurgie, zwischen kalter und feurig-scharfer Chirurgie.

    Wie viele waren wohl schon seit

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