Aufgeklappt: Roman
Von Ludwig Laher
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Über dieses E-Book
In über vierzig kurzen Kapiteln nimmt sich Ludwig Laher dieser schillernden Figur an, entlang ihrer ungewöhnlichen Lebenspraxis und außergewöhnlichen Literatur gewinnt Vernebeltes scharfe Konturen zurück, gestaunt darf werden, geschmunzelt, geschwelgt.
Authentisch, poetisch, emotionell, v.a. immer unterhaltsam, erzählt Ludwig Laher die Geschichte eines Mannes, viel aber auch aus der Geschichte Österreichs um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Autor schlägt den Bogen zur Gegenwart, löst zeitliche Gebundenheit in nichts, macht begreifbar, wie Österreich werden mußte, was es ist. Ein engagierter Roman, der die Augen öffnet.
Kurz vor seinem Tod verfaßt Ferdinand Sauter seine eigene Grabschrift. "Und der Mensch im Leichentuch / Bleibt ein zugeklapptes Buch" heißt es da lapidar. Ludwig Lahers Annäherung beweist, daß das nicht so sein muß.
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Buchvorschau
Aufgeklappt - Ludwig Laher
II
I
Eines doch bedenke jeder,
Was er immer tut und treibt,
Ob mit Hammer oder Feder
Brot er schmiedet oder schreibt,
Daß die Mühsal des Erwerbens
Ihm sein Bestes untergräbt
Und am Tage seines Sterbens
Niemand weiß, ob er gelebt.
Wer ist niemand? Es paßt so gut zu Sauter, daß er eine lakonische Schlußzeile serviert, die das eine oder das andere meinen kann, am besten aber paßt zu ihm, daß er wohl beides meint: Weder der, der im Sterben liegt, noch die, die übrigbleiben und ihn kannten, niemand weiß.
Und was heißt gelebt? Vegetiert? Existiert? In Saus und Braus? Oder Eindruck gemacht? Sich selbst, den anderen?
Solange er lebt, soviel steht fest, macht Ferdinand Sauter ausgiebig Eindruck Fast jeder in Wien und Umgebung kennt ihn zumindest dem Namen nach, ein ausgeprägter Charakter, heißt es unverbindlich auf Nachfrage. Geordnete Unregelmäßigkeit kennzeichne seinen Tagesablauf, den Alltag eines außergewöhnlichen Menschen, der alle nur erdenklichen Widersprüche in seiner schillernden Persönlichkeit unterzubringen scheint.
Auf dem Weg in die Kanzlei der k. k. privilegierten ersten österreichischen Versicherungsgesellschaft kommt er jeden Morgen an einem Kaffeehaus am Josefstädter Glacis vorbei, wo er frühstückt und die telegraphischen Depeschen überfliegt.
Dann hinkt er durchs Burgtor in die Dorotheergasse, arbeitet bis Mittag. Gewöhnlich ißt er im Michaeler Bierhaus. Auf einen Sprung schaut er anschließend gern noch im Cafe’ National vorbei, ehe er wieder im Büro verschwindet. Kurz, sehr kurz nach fünf stößt er heute mit dem Kopf gegen die Schwingtür desselben Cafes, aus Unachtsamkeit, aus Vorfreude:
So eine saublöde Tür aber auch! Habe die Ehre, meine Herren!
Servus, Dinand!
Dinand nennen ihn manche Freunde, ob sie’s wohl französisch aussprechen? Ein paar von ihnen begleiten ihn ein, zwei Stunden später zu Fuß hinaus Richtung Lerchenfeld, wo wir seine Spur für diesmal auch schon wieder verlieren. Vielleicht sitzt er jetzt in der Blauen Flasche oder gar oben im alten Klosterhof zu Weinhaus, vielleicht hat es ihn hinüber nach Hernals zum Gschwandner gezogen wie gestern. Und garantiert ist es bereits Morgen, als er, endlich daheim angekommen, langmächtig und umständlich das Schlüsselloch im Haustor sucht. Wiener Leichenbestattungs-Unternehmung steht groß über dem Geschäftslokal gleich links neben dem Eingang des zweistöckigen Gebäudes, jedenfalls wird es bald einmal dort stehen.
II
Die Sammlung wird klein sein, aber das schadet nichts, die Welt hat ohnedies wenig Zeit, Gedichte zu lesen.
Bei Ludwig August Frankl, dem umtriebigen Herausgeber der renommierten Sonntagsblätter für heimatliche Interessen, sitzen seit Stunden einige honorige Männer zusammen und redigieren die knapp bevorstehende neue Ausgabe. Da stürzt, völlig außer Atem, Ferdinand Sauter grußlos herein.
Grad noch is sich’s ausgangen, triumphiert er und wachelt vergnügt mit einem zerknitterten Blatt Papier. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich das Manuskript als eine auf der Rückseite beschriebene Speisekarte. Sauters jüngstes Gedicht macht natürlich sofort die Runde. Allgemeiner Beifall.
Wirklich eine Schande, meint jetzt Frankl, daß man Ihre so vortrefflichen Sachen stets nur in lächerlich kleinen Dosen gedruckt serviert bekommt. Wär’s nicht längst schon an der Zeit, einen Auswahlband Ihrer Lyrik zu veranstalten, mein lieber Sauter?
Ja, wer druckt’s denn, das heißt: Wer zahlt’s denn? Ein Buchhändler findt sich nicht dazu, und ich, ich hab’s Geld nicht.
Wie viele Bogen könnte die Sammlung denn geben?
Zehne gwiß.
Nun also, meint Dr. Frankl bestimmt und klopft mit beiden Fäusten auf den papierübersäten Tisch. Wir sind zufällig — außer Ihnen — genau unser zehn. Jeder von uns übernimmt einfach die Druckkosten eines Bogens, und schon ist das Buch fertig. Die Auflage, versteht sich, bleibt natürlich ganz zu Ihrer Verfügung. Ist’s recht so?
Sauter zieht sein Sacktuch aus der Hose und schneuzt sich umständlich. Ganz verlegen schaut er drein.
Die Sache ist die: Ich hab s’ ja gar nicht mehr.
Und wo sind sie in Gottes Namen?
Versetzt.
Versetzt? Bei wem?
Beim Greißler.
Um wieviel?
Um fünf Gulden.
Also gut, daran soll’s nun auch nicht mehr scheitern, hier sind die fünf Gulden, gehen Sie bitte stante pede und holen Sie uns das Pfand.
Wenn’s denn sein muß! fügt Sauter sich widerwillig in sein Schicksal.
Als er endlich durch die Tür ist, möchten manche der Anwesenden am liebsten Wetten abschließen, wie’s weitergehen wird.
Der kommt heut nicht wieder, meint einer.
Den Greißler möcht ich sehen, der einen solchen Kunstsinn hat, daß er für einen Packen beschriebenen Papiers eine Summe von fünf Gulden riskiert, bezweifelt ein anderer überhaupt den Wahrheitsgehalt von Sauters Geschichte.
Typisch der Ferdinand, schüttelt ein dritter den Kopf, jeder andere, der vielleicht allen Grund hätt, seinen Versen gründlich zu mißtrauen, wär Feuer und Flamme bei unserem Angebot. Und er ziert sich wie eine Ballerina.
Aber kaum ist eine Stunde vergangen, da stolpert Sauter wieder ins Zimmer, atemlos wie beim ersten Mal. Seine Augen funkeln. Mit großer Geste wirft er das ersehnte Pfandstück auf den Tisch und fast ein paar Gläser um. Das Deckblatt ist fettverschmiert, und Sauter merkt, daß die Freunde es merken. Amüsiert sprudelt es aus ihm heraus, und die Stimme überschlägt sich fast dabei:
Der Greißler hat fleißig drin glesen und hätt’s bald nicht mehr hergeben, wenn ich nicht gsagt hätt, daß ich’s justament bringen muß.
Mit seinen langen Armen fuchtelt er bei diesen Worten in der Gegend herum, rastlos geht er auf und ab. Als er sich aber endlich doch einen Stuhl unter den Hintern zieht, weil Frankl und die anderen in den Gedichten zu blättern anfangen, ist Sauters Hochstimmung auch schon wieder verflogen. Kleinlaut räsoniert er schließlich in die plötzliche Stille hinein:
Den ganzen Weg zurück hab ich mir’s überlegt, es ist vielleicht doch besser, wir lassen die Gschicht sein.
Alles Drängen der überraschten Runde ist umsonst, Sauter schaltet auf stur:
Ich trau mich einfach nicht.
Zu seinen Lebzeiten erscheint tatsächlich kein einziges Buch dieses unvergleichlichen Dichters. Was er nicht in Zeitschriften veröffentlicht, ist zeitlich, sofern es überhaupt auf uns gekommen ist, nur selten eindeutig zuzuordnen. Was bleibt, sind zahllose Seiten, lose Blätter, Notizzettel, Reinschriften. Ich nehme mir ein paar davon vor und springe mit ihnen durch die Jahre, durch sein Leben und durch sein Nachleben.
III
Was weinest du neben dem Grabe,
Und hebst die Hände zur Wolke des Todes
Und der Verwesung empor?
Wie Gras auf dem Felde sind Menschen
Dahin, wie Blätter! Nur wenige Tage
Gehn wir verkleidet einher!
Ferdinand Sauter sitzt wie gewohnt im Kaffeehaus oder gar ausnahmsweise daheim, die gespitzte Feder in der Hand. Gestochen und ebenmäßig die Schrift, kaum eine Korrektur findet sich auf diesen Seiten. So wird man seine Lyrik nach Sauters Tod finden, jedenfalls das meiste vom Teil, der überlebt hat.
Geld für Bücher hat der leidenschaftliche Leser meist keines, er leiht sich halt die Bände. Wenn ihm etwas besonders gefällt oder wichtig scheint, schreibt er sich die betreffenden Passagen ab, einen Absatz Prosa, ganze Gedichte. Zu materiellem wie geistigem Eigentum hat er prinzipiell keine dauernde Beziehung. Zeitlebens zerrinnt ihm das Geld zwischen den Fingern. Seine eigenen Texte verschenkt er oft genug spontan, noch bevor er für den eigenen Gebrauch Abschriften angefertigt hat.
Um das is schad, das war eines von den guten. Zuweilen weint er mit solchen Worten einem verschollenen Gedicht nach, dessen ferner Nachklang ihm unerwartet dämmert, aber die Trauer ist schnell wieder weggewischt.
Nicht daß er nicht gelobt werden will, wenn er, egal ob im einfachen Wirtshaus oder im piekfeinen Salon, ein Publikum vor sich hat. Das jedoch vor allem, weil er als Mensch geliebt werden will, als dichtender Mensch eben. Den von ihm selbst ins reine geschriebenen Arbeiten des Ferdinand Sauter hingegen stellt ihr Autor uneitel oft nicht einmal seinen Namen voran, abstrakter Dichterruhm läßt ihn kalt, abschätzig spricht er von papierener Unsterblichkeit.
Gleich hält er es aus dem nämlichen Grund übrigens mit den für den Hausgebrauch kopierten Texten anderer Schriftsteller: Ihm geht es ausschließlich um das jeweilige Stückchen Poesie; daß es zufällig jemand Bestimmter aus ihrem unerschöpflichen Ozean geschöpft hat, scheint ihm meist vernachlässigenswert.
Durch nichts als die komplett andere Wellenlänge, den völlig unterschiedlichen Ton unterscheiden sich in Sauters exakter Handschrift seine Gedichte daher von jenen des Matthias Claudius zum Beispiel. Vor einer Claudius-Ausgabe sitzt er also momentan im Kaffeehaus, ausnahmsweise vielleicht gar daheim. Wie Gras auf dem Felde sind Menschen / Dahin, wie Blätter! notiert er gerade fein säuberlich. Und weiter: Nur wenige Tage / Gehn wir verkleidet einher! Er kann sich so versenken in die gottverdammte Poesie, daß es ihm glatt das Wasser in die Augen treibt. In Gesellschaft ist ihm das zuwider, dann wird er ansatzlos laut und lustig oder so.
Jetzt aber ist er allein mit sich und ziemlich sentimental.
Nur wenige Tage gehn wir verkleidet einher, wiederholt er die Worte aus dem Wandsbecker Boten von vor siebzig Jahren, nickt und seufzt schwer.
Wüßte Sauter freilich, daß er den alten Claudius ums Verrecken nicht wieder loswerden wird, augenblicklich würde er sich vor Begeisterung auf die Schenkel klopfen und beseligt ausrufen: Das gfallt mir aber, das is so recht nach meinem Geschmack. Und eine Runde würde er sofort spendieren, wenn da wer wäre, der ihm die Freude machte, mitzulachen bei diesem Mordsspaß.
In der großspurig zur Sauter-Gesamtausgabe ausgerufenen umfangreichen Gedichtsammlung aus dem achtzehner Jahr, als das österreich-ungarische Habsburgerreich gerade saft- und kraftlos sang- und klanglos untergeht, wird Claudius’ Paraphrase auf den hundertdritten Psalm nämlich zum ersten Mal als Sauteroriginal abgedruckt. Und noch die gut gemeinte kleine, doch nicht minder oberflächliche neue Sauterauswahl kurz vor der Jahrtausendwende will partout nicht darauf verzichten: Nur wenige Tage verkleidet herumrennen, das beläuft sich im Vergleich zu Gottes unermeßlicher Schöpfung schon in der Gedankenwelt des Matthias Claudius immerhin auf ein rechtschaffen protestantisch verbrachtes Menschenalter. Im schlecht sitzenden Kostüm von Ferdinand Sauter haben es die mahnenden Zeilen des Pfarrersohns aus Lübeck