Lernen im bewegten Klassenzimmer
Von Reinhard Schönherr-Dhom und Martin Carle
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Buchvorschau
Lernen im bewegten Klassenzimmer - Reinhard Schönherr-Dhom
Reinhard Schönherr-Dhom
Lernen im bewegten
Klassenzimmer
Verlag Freies Geistesleben
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Das bewegte Klassenzimmer am Beispiel der Otterberger Waldorfschule
Ein Vormittag im bewegten Klassenzimmer
Fünf Motive zur Veränderung des Unterrichtskonzeptes
Kinder brauchen mehr Bewegung – auch beim Lernen
Kinder brauchen verlässliche Betreuung – auch in der Schule
Kinder brauchen einen gleichmäßigen Rhythmus – möglichst jeden Tag
Kinder brauchen eine Gemeinschaft – auch im Klassenzimmer
Kinder brauchen weniger Frontalunterricht – auch in der Unterstufe.
Einwurf: Von Stühlen und Kindern
Die Praxis der Otterberger Waldorfschule
Die Wochenstundentafel
Unterrichtsablauf eines Vormittags
Zeitplan der 1. und 2. Klasse an einem Vormittag
Das Volldeputat des Klassenlehrers
Grundlagen für eine gesunde Entwicklung des Kindes in der Zeit der Schulreife
Das Entwicklungsfenster zwischen dem sechsten und neunten Lebensjahr
Sinnesreife – Sinnesschulung
Tastsinn
Lebenssinn
Bewegungssinn
Gleichgewichtssinn
Die Bedeutung des Spielens
Das Erleben der Gemeinschaft
Die Förderung der Bewegung
Das bewegliche Klassenzimmer
Das Mobiliar und der Raum
Die Bänke
Die Sitzkissen
Die Gestaltung des Klassenraumes
Die Sitzhaltung
Regeln und Vereinbarungen
Die Unterrichtsformen
Der Kreis – Lernen in der Gemeinschaft
Frontalunterricht. Lernen vom Lehrer
Die Inseln. Lernen in Gruppen
Die «Tafel». Feste feiern
Der leere Raum. Platz zum Bewegen
Erfahrungen
Veränderungen
Die Zusammenarbeit mit den Kollegen
Was ist bei der Umstellung auf das bewegliche Klassenzimmer zu beachten?
Einwände und Bedenken
Wie kann die Lernkultur der Eingangsstufe in der Mittel- und Oberstufe weiterentwickelt werden?
Aus anderen Schulen und Projekten
Praktischer Teil
Bewegung und Spiele in den Unterrichtsfächern
Formenzeichnen
Spiele für den Deutschunterricht
Spiele für den Rechenunterricht
Mit Geld rechnen lernen – das Rechnen an das Leben anbinden.
Aus dem Englischunterricht
Spiele für die Bewegungszeit
Der morgendliche Parcours
Spiele zum Kräftemessen und Kämpfen
Berührungsspiele
Gleichgewichtsspiele
Spiele zum Lauschen
Spiele für Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit
Fadenspiele⁶⁰
Klatschspiele⁶¹
Murmelspiele⁶³
Spiele für draußen
Fangspiele
Ballspiele
Sing- und Tanzspiele
Hüpfspiele⁶⁵
Danksagung
Anmerkungen
Register der Spiele und Lieder
Vorwort
Reinhard Schönherr-Dhom legt mit diesem Buch zum «Lernen im bewegten Klassenzimmer» eine umfangreiche Sammlung an praktischen Unterrichtsbeispielen vor und skizziert darüber hinaus auch die pädagogischen und konzeptionellen Hintergründe dieser in den Waldorfschulen noch recht neuen, aber sich in den letzten Jahren rasch ausbreitenden Entwicklung. Eine Übersicht über mögliche Unterrichtsformen und -methoden im bewegten Klassenzimmer rundet dieses kleine Kompendium ab.
Das Buch beschränkt sich dabei nicht nur auf die Erweiterung der Bewegungselemente in der waldorftypischen sogenannten rhythmischen Arbeit, sondern bezieht auch die klassischen Lernteile des Unterrichtes mit ein: Formenzeichnen, Lesen, Schreiben, Rechnen oder Fremdsprachen. Damit vollzieht es konsequent den Schritt vom «bewegten Klassenzimmer» zum «bewegten Lernen». Nicht die andersartige Möblierung (zumeist Bänke und Kissen) ist das wirklich Neue, sondern das Ernstmachen der Tatsache, dass der Unterrichtsstoff durch aktive und spielerische Handlungen vielfältig variiert und differenziert im Kreisrund des Klassenzimmers von den Schülern motivierter und besser erfasst werden kann. Damit verändert sich das soziale Geschehen im Klassenzimmer und auch die Rolle des Lehrers: weg vom Dozierenden und Lehrenden hin zum Mitspielenden und Mitlernenden. Lernen auf «Augenhöhe»» nennt dies Schönherr-Dhom. Dass dies auch die Umgestaltung der bisherigen Tages- und Stundenplanstruktur an Waldorfschulen, die konkrete Zusammenarbeit von Klassen-, Assistenz- und Fachlehrern und damit letztlich auch die Überwindung immer noch vorhandener enger Zuständigkeits- und Fächergrenzen mit sich bringt, kommt aus den Ausführungen deutlich hervor. Schon Rudolf Steiner nannte den Stundenplan eine «Mördergrube» und forderte für den Klassenlehrer, dass eine Konzentration auf die eigene Klasse als (bezahlte) Aufgabe ausreichend sei. In Zeiten der auf die Schulen immer stärker zukommenden Inklusionsaufgaben sind all diese aufgeführten Elemente wichtiger denn je.
Das vorliegende Buch bietet den unterrichtenden Lehrern und den interessierten Laien eine gute Einführung und umfassende Übersicht in die Praxis des Lernens im bewegten Klassenzimmer und schließt damit eine Informationslücke über eine in vielen Schulen gelebte «Pädagogik in Bewegung».
Martin Carle
Einleitung
Das bewegte Klassenzimmer – hinter diesem Schlagwort verbergen sich unterschiedliche Vorstellungen, wie Bewegung und Lernen in der Schule zusammenklingen können.
Bereits 1995 experimentierten einzelne Waldorfschulen, angeregt von dem schwedischen Pädagogen Pär Albohm, mit mehr Bewegungselementen im Unterricht. Seit 1998 arbeiten Waldorfschulen in Deutschland nach dem Modell des bewegten Klassenzimmers. Ihre Zahl nimmt weiterhin stetig zu. Die erste Waldorfschule, die über ihre Konzeptänderungen berichtete, war die Bochmer Rudolf-Steiner-Schule, die ihr Konzept «Schule 2000» nannte. ¹ In den Waldorfschulen trat zur Bewegungsschulung das bewegliche Mobiliar hinzu. So schafften viele Schulen, die das bewegte Klassenzimmer einführten, ihre Tische und Stühle ab. Die Kinder sitzen auf Bänkchen, die so gebaut sind, dass sie, verbunden mit festen Kissen, als Tisch dienen, aber auch zum Bauen von Bewegungslandschaften Anlass geben und vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten für ein bewegtes Lernen ermöglichen. Radikal stellt dieses Mobiliar das übliche Stillsitzen auf einem Stuhl an einem Tisch infrage, das Voraussetzung für das schulische Lernen landauf und landab ist.
Unter dem Titel Das bewegte Klassenzimmer veröffentlichte Dorothea Beigel 2002 Erfahrungen aus einem hessischen Projekt im Bereich der staatlichen Schulen, das stark motopädagogische und kinesiologische Elemente in der Bewegungsschulung berücksichtigte.² Das Konzept «Bewegte Grundschule», vorgestellt von Tassilo Knauf, sieht eine Integration von Bewegung in möglichst viele Bereiche des Schullebens vor.³ Simone Medlin verfasste 2011 eine Diplomarbeit über Bewegtes Lernen. Das Wiener Modell, in der sie die Förderung der motorischen und kognitiven Entwicklung durch bewegungsorientierten Unterricht untersucht.⁴
Sowohl den Projekten im staatlichen Bereich als auch dem bewegten Klassenzimmer im Bereich der Waldorfschulen ist gemeinsam, dass Lehrer und Erzieher erkannt haben: Sicherheit in der eigenen Bewegung ist eine zentrale Voraussetzung, um ausreichend Selbst-, Umwelt- und Sozialerfahrungen zu sammeln. Sicherheit in der Bewegung beeinflusst die Konzentrationsbereitschaft und damit die Lernfähigkeit. Festzustellen ist auch, dass Kinder, die unsicher und ängstlich erscheinen, oft Bewegungsprobleme haben. Jede Fähigkeit, die sie dazugewinnen, sei es im Balancieren, in der Feinmotorik, beim Ausschneiden, beim Fadenspiel oder beim Stricken, gibt dem Kind mehr Sicherheit und stärkeres Selbstvertrauen.
Seit dem Jahre 1999 arbeitet die Otterberger Waldorfschule (Freie Waldorfschule Westpfalz bei Kaiserslautern) mit einem veränderten Unterstufenkonzept, seit dem Frühjahr 2006 kam das bewegliche Mobiliar hinzu. Obwohl das neue Unterrichtskonzept einen leicht erhöhten Deputatsaufwand bedeutete, wurde das Konzept in den letzten vierzehn Jahren stets vom ganzen Kollegium getragen. Auch in Zeiten, in denen uns die Finanzlage der Schule wegen hoher Zinsbelastungen oder zu niedriger Schülerzahlen zu Einsparungen zwang, wurde daran nicht gerüttelt. Dies zeigt, wie stark die Einsicht im Kollegium verankert ist, dass Schule viel stärker Bewegung in den Unterrichtsalltag integrieren muss, wenn sie den heutigen Kindern gerecht werden will.
Der vorliegende Band möchte weniger eine theoretische Auseinandersetzung über bewegtes Lernen bieten oder wissenschaftliche Beweise dafür erbringen, wie Bewegung das Lernen fördert. Anhand der praktischen Darstellung unseres Unterrichtsablaufes in der Otterberger Waldorfschule und meiner Erfahrungen möchte ich vielmehr Mut machen, mit mehr Bewegung den Alltag des Unterrichtes zu erweitern. Dazu dienen insbesondere die vielen praktischen Anregungen aus den Unterrichtsfächern und der Bewegungszeit. Einige kurze Schlaglichter auf die Grundlagen einer gesunden Entwicklung des Kindes ergänzen die Überlegungen, die zum bewegten Klassenzimmer führen.
Bewegtes Lernen aber macht nicht nur die Schüler, sondern vor allem auch den Lehrer beweglich. Mit viel Einfallsreichtum und Empathie gilt es immer wieder unterschiedlich bewegte Situationen zu schaffen und diese wieder zur Ruhe zu führen, damit aus äußerer Beweglichkeit inneres Bewegen werden kann.
Ich wünsche allen interessierten Lesern eine anregende Lektüre und darüber hinaus allen Kolleginnen und Kollegen viel Freude bei der Umsetzung der Anregungen zur Bewegung im Klassenzimmer.
Reinhard Schönherr-Dhom
Das bewegte Klassenzimmer am Beispiel der Otterberger Waldorfschule
Ein Vormittag im bewegten Klassenzimmer
Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn ist der Klassenlehrer in seinem Raum. Die ersten Kinder kommen schon früh, weil die Eltern arbeiten müssen, einige auch, weil sie morgens nichts verpassen möchten. Der Lehrer begrüßt die Kinder an der Tür. Er hat zwei Bänkchen umgedreht, ein zwei Meter langer Balancierbalken ist entstanden, der die Kinder schon beim Betreten des Raumes zu einer ersten Gleichgewichtsschulung herausfordert. Freudig überqueren sie mit der Schultasche in der Hand den Balken. Nachdem der Schulranzen auf seinen Platz im Regal abgestellt ist, beginnen die Kinder, mit den Bänkchen und Kissen eine Bewegungslandschaft zu bauen. Eine «Burg» mit einer Auffahrrampe entsteht, ein Wassergraben mit schmaler Brücke, ein Fluss mit Steinen (Kissen). Fast alle Kinder, die nach und nach kommen, beteiligen sich an Aufbau und Spiel. Nur wenige setzen sich in eine Ecke, schauen zu, holen das Frühstück nach oder erzählen sich etwas. Immer wieder kommt der Lehrer in den Kreis der Konstrukteure, gibt kleine Anregungen oder Hilfestellungen beim Aufbau. Dabei hat er stets alles Geschehen im Blick, damit keinem Kind beim Bauen und Klettern etwas zustößt. Alle halten die gelernten Regeln für das Benutzen der Möbel ein:
–Bänke müssen mit Teppichstoppern gesichert werden.
–Das Betreten ist nur mit Gymnastikschläppchen oder barfuß gestattet.
–Anstoßen und Antreiben anderer Kinder ist nicht erlaubt.
–Jeder achtet auf den anderen und nimmt Rücksicht.
Den ganzen Klassenraum durchzieht eine «schaffige» Atmosphäre. In einer Ecke wird es recht laut. Ein Mädchen hält sich die Ohren zu. Der Lehrer hebt die Hand. Alle Kinder verharren einen Moment im Tun. «Ein bisschen leiser, bitte, damit sich niemand die Ohren zuhalten muss!» Die Kinder haben verstanden. Fleißig wird weiter gebaut.
Um 8.00 Uhr beginnt die reguläre Unterrichtszeit. Eine Klangschale gibt einen wohlklingenden Ton. Alle Kinder setzen sich still, wo sie gerade sind. Der Lehrer nimmt den gebauten Parcours, wie ihn die Kinder gestaltet haben, und stellt für alle Schüler einfache Bewegungsaufgaben. Unter eine umgedrehte Bank werden ein, zwei blaue Kissen gelegt. Jedes Kind überquert den «Fluss» über den Holm der Bank balancierend. Manche Kinder brauchen eine stützende Hand, andere gehen ganz souverän den Weg. Für diese wird der Rückweg erschwert durch ein Säckchen, das sie auf dem Kopf oder den Schultern transportieren. Durch die gemeinsamen Bewegungsaufgaben werden auch die unsicheren Kinder, die sich beim freien Spiel zurückhielten, zur gezielten Bewegungsschulung angeregt. Weitere Aufgaben folgen. Der Weg wird durch eine zweite Bank verlängert. Es wird dunkel und Nacht. Die Kinder legen den Weg mit geschlossenen Augen zurück. Nach zehn bis fünfzehn Minuten ertönt die Klangschale zum zweiten Mal. Alle Kinder helfen nun, rasch die Bänkchen und Kissen im Kreis anzuordnen. Das dauert nicht einmal zwei Minuten, und schon sitzen alle zum gemeinsamen Beginn im Kreis. Viele Kinder gehen rasch noch zur Schultasche, holen ihre «Schätze» heraus und legen sie auf einem Tuch ab.
In der Mitte des Klassenzimmers liegt ein Teppich, darauf steht ein kleiner Hocker, bedeckt mit einem Baumwolltuch, einer Kerze und einem Edelstein, daneben das Tuch mit den mitgebrachten Schätzen. So rennen die Kinder nicht unkontrolliert durch die Mitte. Dann beginnt der Morgenkreis. Der Lehrer erzählt eine kurze sinnige Geschichte von dem Eichenblatt, das vom Fliegen träumt. Dann kommen die Kinder dran. Der Erzählball, ein gefilztes Bällchen, wird weitergereicht – so lange, bis vier oder fünf Kinder von dem erzählt haben, was sie gerade beschäftigt, was sie gestern erlebt haben.
Danach werden die Schätze angeschaut, die die Kinder auf das Tuch abgelegt haben. Eine Vogelfeder liegt da, mehrere Hausaufgabenhefte, einige von den Kindern zu Hause gemalte Bilder, ein Kieselstein, ein Papierflieger. Die Kinder stellen kurz ihren mitgebrachten Schatz vor, auch die freiwilligen Hausaufgaben gehören dazu und regen so die anderen an, zu Hause das Gelernte zu üben oder in verwandelter Form zurückzubringen. Gestern wurde die Drei im Rechnen hervorgehoben und die Ziffer gelernt. Ein Kind hat ein ganzes Blatt voller bunter Dreier gemalt, ein anderes lauter Dinge dreimal – drei Blumen, drei Tiere, drei Steine –, ein drittes hat drei Flieger gefaltet.
Nachdem alle Schätze wahrgenommen wurden, werden sie wieder eingepackt. Nach einem Schlückchen aus der Trinkflasche beginnt der Lehrer mit dem Morgenlied «Guten Morgen, lieber Sonnenschein» die bewegte rhythmische Arbeit. Mit großen Bewegungen werden gesprochene Verse begleitet, fest gestampft, leise getrippelt. Von Spruch zu Spruch werden die Bewegungen kleiner und feiner und enden schließlich mit einem Fingerspiel. Alle Kinder