Was bleibt?: Nachhaltigkeit der Kultur in der digitalen Welt
Von iRights Media
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Buchvorschau
Was bleibt? - iRights Media
Was bleibt?
Nachhaltigkeit der Kultur in der digitalen Welt
Herausgeber: Paul Klimpel, Jürgen Keiper
Verlag iRights.Media
Vorwort
John H. Weitzmann, Philipp S. Müller, Ulrike Höppner, Marianne Wulff und Martin G. Löhe
Traditionell haben Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Bibliotheken und Museen dafür gesorgt, dass die Zeugnisse unseres Schaffens der Nachwelt erhalten bleiben. Mit dem Übergang in die digitale Welt aber entstehen gänzlich neue Herausforderungen.
Wie sich die Rollen der Akteure ändern und welche neuen Aufgaben entstehen, war Thema der 8. Initiative „Nachhaltigkeit in der Digitalen Welt" des Internet und Gesellschaft Collaboratory e. V. Die Experten haben sich unter anderem mit unterschiedlichen Strategien digitaler Langzeitarchivierung, dem Medienwechsel und den Rollen von privaten und öffentlichen Akteuren beschäftigt.
Die Treffen der von Paul Klimpel und Jürgen Keiper geleiteten Expertengruppe ermöglichten einen sachorientierten, inhaltlichen Diskurs, bei dem die organisatorische Einbindung der Teilnehmer und damit auch die Interessen der verschiedenen Institutionen in den Hintergrund traten. Dieser freie Diskurs war es, der die Arbeit der Initiative auszeichnete und aus dem heraus deutlich wurde, wo gehandelt werden muss. Der Berliner Appell zum Erhalt des digitalen Kulturerbes ist Ausdruck eines Konsenses, der über institutionelle und kulturpolitische Gräben hinweg besteht.
Die Frage, was mit den eigenen privaten Daten auf digitalen Trägern in 10 oder 20 Jahren sein wird, veranschaulicht gut, dass dieses Thema große Relevanz besitzt – für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Mit diesem Band hofft das CoLab, einen Beitrag zum Diskurs über Nachhaltigkeit in der digitalen Welt zu leisten – einem Diskurs, der noch nicht zu Ende ist und fortgesetzt werden muss.
I. Einführung
Was bleibt?
Paul Klimpel
Was bleibt von den hunderten oder gar tausenden digitaler Fotos, die heute bei einer Hochzeit gemacht werden? Fotoalben von Hochzeiten im letzten Jahrhundert finden sich in den meisten Familien – auch wenn damals weniger fotografiert wurde als heute.
Was bleibt von den Objekten der Medienkunst, deren digitale Technik nach kurzer Zeit schon nicht mehr gebräuchlich ist? Was bleibt von den Ergebnissen der vielen Projekte, in denen heute kulturelles Erbe digitalisiert wird? Was wird aus den Sammlungen originär digitaler Objekte? Was bleibt von Filmen, die zunehmend digital in die Kinos kommen?
Was wird aus der großen Masse digitaler Information gesammelt?
Oder werden die Zeugnisse des kulturellen Schaffens und der Wissenschaft, die auf digitalen Trägern festgehalten werden, schon bald verschwinden? Werden die ersten Jahre nach der digitalen Revolution in der Erinnerung späterer Generationen ein „weißer Fleck" sein?
Traditionell haben Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Bibliotheken und Museen dafür gesorgt, dass die Zeugnisse kulturellen Schaffens für die Nachwelt erhalten bleiben. Doch mit dem Übergang zu digitalen Trägern entstehen gänzlich neue Herausforderungen. Diese betreffen die traditionellen Gedächtnisorganisationen ebenso wie die neuen Formen des kulturellen Gedächtnisses, etwa kollaborative Online-Projekte wie Wikipedia oder History Pin. Es werden neue technische und organisatorische Kompetenzen gefordert, wenn es um Fragen der digitalen Langzeitarchivierung geht.
Nur einige Fragen, die sich stellen: Wie ändert sich durch die Digitalisierung die Rolle von Archiven, Bibliotheken und Museen? Welche Aufgaben nehmen heute Rechenzentren und privatwirtschaftlich organisierte Dienstleister wahr? Wer trägt die Verantwortung für die digitale Langzeitarchivierung, wer finanziert sie? Was bedeutet der Medienwechsel für die kleinen und mittleren Museen und Archive und für die neuen Gedächtnisorganisationen und ihre Rolle in dem Ensemble kultureller Institutionen? Wie lässt sich ein „flüchtiges Medium" wie das Internet archivieren? Wer entscheidet über Auswahl? Welche Rolle spielt die Semantik für die Nachhaltigkeit?
In Archiven, Bibliotheken und Museen weiß man aus Erfahrung: Bei jedem neuen Medium sind die Anfangsjahre nicht erhalten. Dies war beim Radio so, auch beim Film oder beim Fernsehen. Die Veränderungen durch die Digitalisierung sind sehr viel weitreichender und dringen in jeden Lebensbereich. Die Herausforderungen an die nachhaltige Sicherung sind gewaltig.
Inhalte auf analogen Trägern bleiben grundsätzlich erhalten, sofern man sie nicht aktiv zerstört. Probleme der Erhaltung treten erst nach einer gewissen Zeit auf, in der Regel vergeht mindestens eine Generation, bis sie akut werden. Bei Inhalten auf digitalen Trägern verhält es sich genau umgekehrt: Um sie angesichts häufiger Formatwechsel und der begrenzten Haltbarkeit von Trägermedien erhalten zu können, muss aktiv gehandelt werden.
Wir sind am Scheideweg: Nehmen wir diese Herausforderung an, oder wird sich wiederholen, was wir bei Radio, Film und Fernsehen erlebt haben? Es geht darum, was von den Zeugnissen menschlichen Tuns unserer Zeit – der ersten Jahren der Digitalisierung – in Zukunft erhalten bleibt. „In Zukunft" heißt in diesem Falle schon in den nächsten 5, 10 oder 20 Jahren. Nachhaltigkeit in der digitalen Welt ist deshalb kein Nischenthema.
Die Herausforderungen sind gewaltig. In den vergangenen Jahren sind bereits wichtige Ansätze formuliert worden, wie diesen Herausforderungen zu begegnen ist. Diese Publikation nun gibt Zeugnis eines Diskurses, der Nachhaltigkeit und digitale Langzeitarchivierung nicht als ein isoliertes technisches, archivarisches, kulturpolitisches, rechtliches oder finanzielles Problem sieht, sondern die Interdependenz verschiedener Aspekte in den Vordergrund stellt. Diese Betrachtung ist notwendig, will man die Rahmenbedingungen schaffen, Informationen und Wissen im Zeitalter der Digitalisierung zu sichern, zu bewahren und zugänglich zu machen.
So wird in diesem Buch die Problemlage aus unterschiedlicher Perspektive beschrieben. Tobias Beinert und Armin Straube erläutern die Sicht der Gedächtnisinstitutionen. Stefan Wolf geht auf das Verhältnis von kulturellem Erbe und dem Wissenschaftsbereich ein und beschreibt die Bemühungen um eine Infrastruktur zur digitalen Langzeitarchivierung. Eric Steinhauer schließlich nimmt eine juristische Perspektive ein. In Nahaufnahmen werden Einzelaspekte beleuchtet: So erörtert Maik Stührenberg Fragen der digitalen Langzeitarchivierung aus Sicht der IT, und Ralph Giebel zeichnet die Entwicklung der Speichertechnologie nach und geht auf die Rolle der Industrie ein, in einer Welt, in der Informationen und große Datenmengen immer wichtiger werden. In anderen Beiträgen stehen medienspezifische Besonderheiten im Fokus: Andreas Lang beschreibt, wie in offenen, nicht-kommerziellen und kollaborativen Projekten Werkzeuge und Methoden entwickelt wurden, um Videospiele zu erhalten, etwa mit Hilfe von Emulatoren. Jan Fröhlich beschreibt die Herausforderungen der Langzeitarchivierung bei Farbraum und Bildzustand und geht dabei der Frage nach, welchen Charakter und welche Färbung audiovisuelle Inhalte unserer Tage in Zukunft haben werden. Eine gänzlich andere Perspektive bieten Kathrin Passig, wenn sie einen allgemeinen Blick auf Aspekte der Überlieferung nimmt, aber auch Stefan Willer, der den Begriff des kulturellen Erbes kritisch hinterfragt. Kontovers ringen die Autoren um Fragen der Nachhaltigkeit, der Auswahl und der Semantik des Wissens. Während Felix Sasaki verschiedene Ansätze für die Semantik des Netzes darstellt und ihre Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit beleuchtet, positioniert sich Stefan Gradmann klar gegen alle Versuche, Strukturen aufzubauen, die nach seiner Meinung Kontrolle und Zensur im Netz ermöglichen. Jens Best beantwortet Fragen zur Nachhaltigkeit der Wikipedia. Der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann, erläutert traditionelle, auf die Relevanz für staatliches Handeln hin orientierte Auswahlkriterien. Jens Crueger warnt vor dem Verlust von Informationen für die spätere Geschichtsschreibung und entwickelt ein weiteres Verständnis dessen, was zu bewahren ist. Schließlich plädiert Georg Rehm eindringlich für die Entwicklung einer Strategie zur digitalen Langzeitarchivierung.
Die Beiträge entstanden im Rahmen einer Initiative des Internet und Gesellschaft Collaboratory e. V. Zwischen März und Juni 2013 diskutierten Experten Fragen der Nachhaltigkeit von Kultur in der digitalen Welt. Die Initiative fand statt in Kooperation mit dem Institut für Museumsforschung, dem Kompetenznetzwerk zur digitalen Langzeitarchivierung, nestor, und dem iRights.Lab Kultur. Neben einem wertvollen Diskurs über zahlreiche Einzelaspekte konnten sich diese Experten auf den „Berliner Appell" verständigen, der die gesellschaftliche Bedeutung des Themas hervorhebt und konkrete Handlungsfelder benennt.
Was bleibt also?
Die Erkenntnis, dass gehandelt werden muss, damit etwas bleibt in der digitalen Welt.
II. Berliner Appell
Berliner Appell
Unsere Gesellschaft ist seit langem von dem Konsens bestimmt, dass Wissen und Kultur zu erhalten sind. Das Wissen unserer Tage wie die Kultur unserer Gesellschaft werden aber zunehmend mittels elektronischer Medien gespeichert und sollen über diese überliefert werden. Die Bewahrung dieses Wissens und dieser Kultur steht auf tönernen Füßen.
Die Bereitschaft, auch in der elektronischen Welt in die Bestandserhaltung zu investieren, ist nicht sehr groß. Die Einsicht in die Notwendigkeit, die Prozesse der digitalen Langzeitarchivierung nachhaltig und dauerhaft zu finanzieren, ist noch nicht ausgeprägt. Die Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie zur Bestandserhaltung auch von analogen Informationsträgern sind noch lange nicht ausgeschöpft.
Das ist ein Appell zur Nachhaltigkeit in der elektronischen Welt.
1. Gefahr des Verlustes
Digitale Inhalte sind fragil. Sie unterliegen einer rasanten technischen Entwicklung. Es besteht dringender Handlungsbedarf bei der Archivierung, da digitale Inhalte und Informationen sonst unwiederbringlich verloren sind.
2. Dauerhafte Aufgabe
Digitale Langzeitarchivierung ist Teil der Bestandserhaltung für digitale Objekte und muss als eine dauerhafte Aufgabe begriffen werden, die sich nicht in Projekten erschöpft.
3. Ausbildung / Organisation
Digitale Langzeitarchivierung muss ein gezielter Ausbildungs- und Forschungsschwerpunkt an Universitäten und Fachhochschulen werden und auch Eingang in die Curricula von anderen Disziplinen finden.
4. Recht
Der derzeitige Rechtsrahmen behindert vielfach die digitale Langzeitarchivierung. Es müssen eindeutige und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen für die digitale Langzeitarchivierung in all ihren Aspekten geschaffen werden.
5. Kosten
Für die digitale Archivierung besteht eine dauerhafte öffentliche Verantwortung. Digitale Langzeitarchivierung ist kostenintensiv.
6. Aufmerksamkeit und öffentlicher Diskurs
Nachhaltigkeit in der digitalen Welt erfordert eine breite öffentliche Diskussion und starke politische Wahrnehmung. Digitale Langzeitarchivierung ist kein Nischenproblem.
7. Langzeitarchivierung und Digitalisierung
Digitale Langzeitarchivierung sichert und stärkt das Demokratie- und Transparenzversprechen des digitalen Kulturerbes.
8. Rollen und Strategie
Zuständigkeiten und Rollen im Bereich der digitalen Langzeitarchivierung müssen im Rahmen einer nationalen bzw. europäischen Strategie klar bestimmt sein.
9. Auswahl
Auswahlkriterien für die digitale Langzeitarchivierung müssen Teil eines gesellschaftlichen Diskurses sein.
10. Reichweite
Kulturarchivierung ist im Digitalen eine Aufgabe, die in ihrer Bedeutung und ihren Folgen über die Aufgaben der Kulturinstitutionen hinausgeht.
11. Recherchierbarkeit, Verfügbarkeit und Zugang
Der Zugang zum digitalen Erbe ist durch neue Technologien so leicht wie noch nie. Er birgt einen großen Nutzen für die Bildung und Forschung. Um den Zugang zu erhalten, sind verlässliche Finanzierungsmodelle notwendig.
12. Technische Fragen
Langzeitarchivierung kann nur unter geregelten technischen Rahmenbedingungen nachhaltig erfolgen. Dazu gehören offene und standardisierte Datenformate.
Thomas Bähr, Tobias Beinert, Winfried Bergmeyer, Christoph Bruch, Jens Crueger, Jan Engelmann, Ellen Euler, Frederik Fischer, Jan Fröhlich, Ralph Giebel, Stefan Gradmann, Monika Hagedorn-Saupe, Michael Hollmann, Jürgen Keiper, Paul Klimpel, Andreas Lange, Verena Metze-Mangold, Georg Rehm, Thorsten Siegmann, Beate Rusch, Ralf Schneider, Eric Steinhauer, Tobias Steinke, Armin Straube, Maik Stührenberg, Anne von Raay, Chris Wahl, Katrin Weller, Stefan Wolf
www.berliner-appell.org
Überblick über die Expertendiskussion zur Nachhaltigkeit
Jürgen Keiper
Das Besondere der Arbeit im CoLab war das Zusammentreffen von Experten aus unterschiedlichsten Disziplinen. Dies allein garantiert zwar noch keine Interdisziplinarität, sorgte aber für einen erstaunlich offenen Diskurs und eine Atmosphäre, die weniger von Belehren und Erläutern geprägt war als vielmehr von der Vernetzung und Weiterführung von Gedanken. Die Machtansprüche unterschiedlicher Akteure waren damit keineswegs verschwunden, schoben sich aber nicht mehr in den Vordergrund, wodurch der Blick für die vernünftigsten Lösungen geöffnet wurde.
Im Folgenden sollen hier gleichermaßen kursorisch wie abstrakt die wichtigsten Ergebnisse des Internet & Gesellschaft Collaboratory vorgestellt werden. Diese resultieren aus den Referaten, aus den Beiträgen der Teilnehmer und den Gesprächen, die vor und nach den eigentlichen Veranstaltungen geführt wurden.
Im Unterschied zur öffentlichen Diskussion spielte in dieser Diskussion die Haltbarkeit der Datenträger kaum eine Rolle. Mehr noch: Die digitale Langzeitarchivierung wurde fast nie als isoliertes technisches Problem begriffen. Nicht, dass es keine technischen Probleme gäbe, aber die eigentliche Herausforderung, dies wurde schnell klar, ist das Zusammenspiel der vier Themen Technologie, Organisation, Recht und Auswahl. Man kann diese auch in dem Akronym TORA zusammenfassen.
Technologie
Seitens der Technologie kann die Frage der Bitstream Preservation, also des Sicherns des reinen Datenstromes, prinzipiell als gelöst betrachtet werden – wenn man entsprechend aufwändige, und dies heißt aktuelle und redundante, Technik einsetzt. Deutlich wurde, dass Technologie im Bereich der digitalen Langzeitarchivierung nicht als etwas Statisches im Sinne von „store and forget" verstanden werden kann, sondern kontinuierlicher Veränderung unterworfen ist. Auch das Anfassen der Objekte zwecks Migration wird sich oft nicht vermeiden lassen. Langzeitarchivierung als Prozess gedacht erfordert aber auch eine völlig andere Kostenstruktur als bisher bekannt. Ähnliches gilt für die Personalstrukturen, welche mit jenen der Informationstechnologie verschmelzen werden: Hochqualifizierte Mitarbeiter und kontinuierliche Weiterbildung werden unverzichtbar.
In der Diskussion angesprochen wurde auch das Problem der geeigneten Archivformate. Hier sind in wichtigen Bereichen wie dem Film noch Fragen offen. Auch die Frage, welche digitale Version denn überhaupt archiviert werden soll, – und damit die Loslösung vom traditionellen Konzept des Originals – tauchte immer wieder als Thema auf.
Organisation
Die Frage der Organisation ist eine zentrale. Denn aufgrund der hohen Kosten ist eine zufällige Archivierung zu teuer. Die Kette von Akquise und Ingest in den Archivworkflow ist nicht für alle Medien gleichermaßen geklärt, zumal wenn sich die digitalen Medien seitens der Vertriebe weg von Erwerbsmodellen (Kauf eines physischen Objektes) und hin zu Nutzungsmodellen (eingeschränkte Bereitstellung von Inhalten) verschieben.
Diskutiert wurde auch die Rolle der Verantwortlichkeiten. So die Frage, ob digitale Langzeitarchivierung nicht auch durch selbstständige, von der Industrie getragene Services jenseits von staatlichen Strukturen abgebildet werden kann.
Offen blieb auch – trotz einer Diskussion der zwei vorliegenden Studien zum Aufbau einer Archivierungsinfrastruktur –, wie zentrale und dezentrale Strukturen, föderale, nationale und europäische Interessen vereinbart werden können.
Recht
Zum Thema Recht lässt sich schlicht zusammenfassend sagen, dass eine Archivierung von digitalen Objekten sehr schnell an massive rechtliche Grenzen stoßen kann – und in der Praxis zahlreicher Gedächtnisorganisationen auch stößt. In der Diskussion wurde aber auch deutlich, dass dies nicht für Archive, Bibliotheken und Museen gleichermaßen gilt. Hier spielen unterschiedliche Regelungen für unterschiedliche Institutionen eine bedeutende Rolle.
Auswahl
Die Archivierung hat bekanntlich mit einer zentralen inhaltlichen Paradoxie zu kämpfen. Einerseits ist eine Auswahl zu treffen, andererseits gibt es keine verlässlichen Prognosen über zukünftige Interessen. Felix Sasaki erläuterte am Beispiel der Anschläge vom 11. September 2001, wie historische Ereignisse völlig neue Interessen seitens der Politik und der Wissenschaft hervorbringen können und den Rückgriff auf Archivmaterial notwendig machen. Insbesondere bei dem Themenkomplex Webarchivierung wurde diese Paradoxie deutlich.
Dies sind die Kernpunkte der TORA, der vier Felder Technologie, Organisation, Recht und Auswahl. Vieles davon ist nicht neu, sondern wurde auch schon im Rahmen von nestor, dem Kompetenznetzwerk zur digitalen Langzeitarchivierung, benannt.
Jenseits dieser vier Felder haben wir uns zwei weiteren Bereichen zugewandt, die weniger im Zentrum stehen.
Dies sind einerseits die Randgebiete des Archivierens, nicht von ihrer Bedeutung, sondern von ihrem Stand her. Dies trifft insbesondere auf die Computerspiele zu. Probleme wie die soziale Interaktion von Spielern können als praktisch nicht archivierbar gelten.
Auch zum Film als Objekt der Archivierung wurden kritische Anmerkungen gemacht. Er steht nicht im Fokus des Interesses, obwohl – oder gerade weil – die technischen Probleme sehr groß sind. So existiert keine Pflicht zur Rohdatenabgabe, obwohl dies eine technisch sinnvolle Voraussetzung zur Archivierung wäre. Auch Formatfragen, Fragen des Farbraumes etc. sind mit zahlreichen Problemen behaftet, die andere Medien nicht in diesem Umfang haben.
Wichtig war uns auch ein Blick in die Zukunft der digitalen Medien. Vernetzungskonzepte wie Linked Data stehen vor der Tür. Damit verbunden ist auch ein Wechsel weg vom Fokus auf Objekte und hin zu deren Kontextualisierung. Allerdings sind auch diese Verfahren nicht resistent gegen das Altern.
In der Diskussion um Linked Data wurde deutlich, wie sehr diese Konzepte letztlich auf Sprache basieren und sich damit auch in Abhängigkeit von Sprache befinden. Da auch Sprache altert, sind hier Grenzen für eine langfristige kulturelle Interpretierbarkeit gesetzt.
III. Problemlage
Aktuelle Herausforderungen der digitalen Langzeitarchivierung
Tobias Beinert und Armin Straube
Hintergrund
Der vorliegende Artikel soll die im Rahmen der 8. Initiative „Nachhaltigkeit in der Digitalen Welt des Internet und Gesellschaft Collaboratory e. V. von den Teilnehmern gemeinsam erarbeiteten Forderungen des Berliner Appells aus Perspektive der Gedächtnisorganisationen sowie des deutschen Kompetenznetzwerks nestor¹ in allgemein verständlicher Form erläutern und so einen Beitrag zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die digitale Langzeitarchivierung leisten.² Aus Sicht der Gedächtnisinstitutionen knüpft der Berliner Appell inhaltlich in vielen Punkten an das bereits 2006 im Namen von nestor veröffentlichte „Memorandum zur Verfügbarkeit digitaler Informationen in Deutschland
³ an und macht damit bereits auf den ersten Blick deutlich, dass im Bereich der digitalen Langzeitarchivierung nach wie vor massiver Klärungs-, Abstimmungs- und Handlungsbedarf besteht.
Zentral für das Verständnis der Aufgabe – und damit auch die derzeitigen Herausforderungen – der digitalen Langzeitarchivierung aus Sicht der Gedächtnisinstitutionen sind zunächst insbesondere zwei Aspekte, die in der nach wie vor aktuellen Definition von Hans Liegmann und Ute Schwens am besten zum Ausdruck kommen:
„Unter Langzeitarchivierung versteht man die Erfassung, die langfristige Aufbewahrung und die Erhaltung der dauerhaften Verfügbarkeit von Informationen. [...] ‚Langzeit‘ bedeutet für die Bestandserhaltung digitaler Ressourcen nicht die Abgabe einer Garantieerklärung über fünf oder fünfzig Jahre, sondern die verantwortliche Entwicklung von Strategien, die den beständigen, vom Informationsmarkt verursachten Wandel bewältigen können."⁴
Im Folgenden sollen die einzelnen Problemfelder näher beleuchtet werden, und es soll dabei sowohl auf Erfolge als auch auf weiter bestehende Herausforderungen eingegangen werden.
Auswahl und Nutzung
Der Einsatz der notwendigen Ressourcen für die Erhaltung digitaler Informationen kann nur durch den Hinweis auf die aktuelle oder die potentielle zukünftige Nutzung gerechtfertigt werden. Ist dies bei einem aktuellen Nutzungsszenario normalerweise kein größeres Problem, stellt sich bei möglicher Nutzung in der Zukunft eine alte Fragestellung der Gedächtnisorganisationen mit neuer Schärfe: Wie kann heute abgeschätzt werden, was morgen von Interesse ist?
Archive bemühen sich schon seit langem, aus