Die Schärfe des Augenblicks
Von Klaus Ratheiser
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Über dieses E-Book
So gelassen und schlicht, dass einem immer wieder der Atem stockt, erzählt er von dem vierjährigen Mädchen Natalie, das mitansehen muss, wie seine Mutter plötzlich beim Frühstück das Bewusstsein verliert und zu Boden stürzt, von Angela Bassetti, der hübschen jungen Studentin aus Italien, die auf einer fröhlichen Europatour abrupt von der Diagnose Leukämie eingeholt wird, von Tomaz, dem an einem Lymphom erkrankten Marburger Mechanikerlehrling, den sein verzweifelter Vater gewaltsam heim nach Slowenien bringen will, und von vielen Menschen mehr, die ihm unvergesslich geblieben sind.
Er berichtet aber auch über das Dasein eines Arztes, über Grenzen, an die er stößt -- dort wo er Patienten an den Rand des Lebens begleitet, wo das Maß physischer und psychischer Belastungen unerträglich wird. Wo Ängste sich mit Ängsten vermischen, eigene mit fremden.
Am Ende begreift der Leser, wie schmal der Grat ist, den wir Leben nennen, und er nimmt Abschied von Natalie, Angela, Tomaz und all den anderen, Ärzten, Verwandten, Betreuern, als ein gewandelter, getrösteter, an Zuversicht reicher gewordener Mensch.
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Buchvorschau
Die Schärfe des Augenblicks - Klaus Ratheiser
Für in den Erzählungen vorkommenden Personen und Institutionen wurden Pseudonyme verwendet.
Unveränderte eBook-Ausgabe
Copyright © 2013 by Seifert Verlag GmbH
2. Auflage (Hardcover) 2012
ISBN: 978-3-902924-13-1
ISBN des Hardcovers: 978-3-902406-00-3
Seifert Verlag GmbH
Ungargasse 45/13
1030 Wien
www.seifertverlag.at | facebook.com/seifert.verlag
INHALT
Vorwort zur zweiten Auflage
Die Schärfe des Augenblicks 2012
Vorbemerkung des Autors
Einleitung
Natalie
I. Begegnung mit dem Tod
Die Familie Bassetti
Das Gemälde
Später Dialog
II. Karriere
Endspurt
Die beste Forschungsgruppe der Welt
Therapeutengefängnisse
III. Ängste und Konflikte
Entscheidungslos
Unter Druck
Im freien Fall
Lucas
IV. Medicus homo
Primarius J.
Heute noch!
V. Innehalten
Der Störenfried
Nicht im Griff
Die voreilige Schelte
Intuition
VI. Sprach-Gewissen
Das Beruhigungsmittel
Schlechte Venen
Herzkrank
Visite
Der gute Rat
Ein Tag im Leben des Assistenzarztes Schweig
Intensivpflichtig
VII. Die Parabel vom »Turmbau zu Babel«
VIII. Grenzgänge
Grenzen, die fallen
Es zieht mich zurück
Ein Volk betet
Epilog
Über den Rand
Anmerkungen
Dank
Das gesprochene und geschriebene Wort berührt. Ich danke Maria Nicolini, deren Kraft diese Erkenntnis entspringt. Sie hat das Heranreifen des Manuskripts gefördert, mein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Sprache und Schreiben geweckt und mir als unbestechlichen Begleiter an die Seite gestellt.
Für Katharina, Maximilian und Anna
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Die Schärfe des Augenblicks 2012
»Amie ist sechs. Ihre Mutter und die fünf älteren Geschwister wollten sie nicht belasten mit der schweren Krankheit des Vaters. Amie will zu ihm. Ich habe das Mädchen von zu Hause holen lassen; es eingeweiht; mit ihm zu Ende geredet. Papa wird sterben. Wir stehn beim Bett, die Familie und ich«, lese ich: »Plötzlich löst sich Amies Hand aus der meinen und auch aus der Hand ihrer Mutter; das Kind macht ein paar Schritte auf das Bett zu, neigt ihren Kopf zum Gesicht ihres Vaters hin, und wir Umstehenden hören ein leises, deutliches »Papa, ich liebe dich!«
Ich muss das Buch absetzen. Bin tief berührt. Müsste ich mich meiner Tränen schämen? Im zehnten Jahr nach der Erstauflage steigen sie auf. Sollte ich nicht längst abgeklärt genug sein? Ich traute mich, nach Amie zu schicken. Die notwendige Einsicht und der Mut entstanden erst im Verlauf der Arbeit an diesem Buch (2001–2003).
In der Einleitung erzählte ich damals von »Natalie«. Hier wäre ich ohne Hilfe nicht zurechtgekommen. Ich bekam diese Hilfe. Durch Zufall, guten Willen und Offenheit. Trude Bogyi hat vorgelebt, wie ein erwachsener Mensch einem Kind in seelischer Not die Hand reicht, kompetent, gefühlsstark, sensibel; sie hat in mir diese Gabe entfacht und mich in die Lage versetzt, sie selbst zu entwickeln und an andere Menschen weiterzugeben, dem Leben zuliebe. Meine Tränen 2012 bedeuten, ich bin berührbar. Jetzt atme ich tiefer, lasse mich von den österlichen Sonnenstrahlen auf dem Balkon erhellen, wärmen, durchdringen.
2012 wagen Ärztinnen und Ärzte sich bewusster in die Welt des Gefühls. Wir erkennen, wo noch ein Stück weiter zu gehen ist. Wir verschweigen Amie nicht, dass ihr Papa sterben wird. Wir begleiten sie. Wir können das nur, wenn wir uns selbst nichts verschweigen. Das erkennen wir mit den Jahren besser. Es braucht Gefühlsstärke, Soft-Skill-Power! Diese Kraft ist nicht käuflich. Man kann sie erwerben durch einen unverstellten Blick auf sich selbst. Keine Umwege möglich! Wir gehen in Resonanz, auf Patienten zu, auf Mitmenschen, auf Außenseiter, auf den Fremden; mit dieser Lebenskraft umarmen wir unsere Kinder, Freunde, Partnerinnen und Partner. Wer mit sich selbst im Einklang ist, kommt auch mit allem anderen klar. Wer an seine Quellen geht, wird selbst zur Quelle. Der Lebenssinn besteht nicht darin, eine funktionierende Maschine zu sein. Sinnerfüllung kommt von innen her, indem der Mensch von seinem Besten überfließt und gibt.
In der Erzählung »Unter Druck« erkennt der Arzt am Telefon, dass seine Kollegin am anderen Ende der Leitung unter Druck steht. Drohung durch Angehörige führt beinahe zum gefährlichen Transport der alten Patientin, zur Dialyse einer Sterbenden. In »Entscheidungslos« flüchten die Ärzte vor der Wut eines Angehörigen im Ausnahmezustand, bleiben bei ihren Ängsten stecken. »Der gute Rat« erzählt vom Alleinlassen der anderen. Dieses Davonlaufen rührt von eigenen Ängsten her, von Urängsten, Urverletzungen. Angstverdränger vermeiden Empathie. Und was tragischer ist: Sie vermeiden tiefe Lebensfreude. Ein sehr hoher Preis. Alleinlassen ist Wegschauen, Vorbeischauen, wenn einer hingestreckt am Boden liegt. Ein junger Kollege sagte bei einer Supervision vor kurzem: »Das Problem ist nicht die Angst, sondern wie man vor ihr davonläuft und anderen schadet, vor allem dem Patienten.« Mut heißt nicht, keine Angst haben. Mut heißt, seiner Angst ins Gesicht sehen und neu entscheiden. Die Schärfe des Augenblicks 2012 fördert eine Kultur, in der wir über unsere Ängste reden, wir legen unseren Mut frei.
Wahrhaftig sein bedeutet: im Außen so sprechen und handeln, wie man sich im Inneren wahrnimmt. Viele Menschen kommen als falsch herüber, wirken unfreundlich, aggressiv, verschlossen. Nicht List und Boshaftigkeit sind dabei im Spiel, sondern Unvermögen. Bei der Entdeckung des Selbst hilft das Du als Spiegel. Geradeaus fahren. Identität leben und Wahrhaftigkeit. Authentizität ist eine Kraft. Diese Kraft fließt ein in die Energiebilanz eines Menschen, einer Organisation. So erhebt sich der Mensch aus der Aphasie, aus der Sprachlosigkeit. Dazu eine Geschichte.
Konfuzius wurde einmal gefragt, was er als Erstes tun würde, wenn er in einem Staat die Macht zugesprochen bekäme. Seine Antwort: »Ich würde zuerst den Sprachgebrauch verbessern.« – »Wie das?!, riefen seine Schüler, erstaunt, verblüfft und verärgert. »Das hat doch nichts mit den wirklich wichtigen Dingen zu tun!« Der Meister erwiderte:
»Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das, was gesagt ist, nicht das Gemeinte.
Wenn das, was gesagt wird, nicht das Gemeinte ist, dann gedeihen die Werke nicht.
Gedeihen die Werke nicht, so verderben die Sitten und die Künste.«
Lasst uns also unseren Sprachgebrauch verbessern! Wer zuhört, kann Sprache bilden. So gedeihen die Werke, die Sitten und die Künste.
Das Schreiben von »Die Schärfe des Augenblicks« war 2003 auch Therapieersatz für mich. Ich war ein Betroffener, der Hilfe suchte. Heute lebe ich in zweiter Berufung das, was mir als junger Oberarzt gefehlt hat: Ich begleite Kolleginnen und Kollegen in die Räume des Gefühls, in die Weiten ihrer Erlebnisse, in die Tiefen ihres Selbst – Mitgefühl leben geht nur, wenn du mit Gefühl lebst, nur so gelangst du zur originalen Lebensfreude. »Ich freue mich, dass du die Jahre als Intensivmediziner überlebt hast und damals davongekommen bist. Und ich freue mich, dass du heute wieder zurückkommst und uns hilfst!«, sagte eine Anästhesistin zu mir beim Abschluss ihrer Supervision.
Von 2003 bis 2012 hat sich Erfahrung gesammelt und Evidenz: Durch Schärfen unseres Bewusstseins lässt sich der individuelle Weg zu Selbstwert und ganzheitlicher Lebenskraft gestalten. Bleiben wir Feuer & Flamme für unseren Beruf, erheben wir uns über Frust & Erschöpfung!
Die Kraft des schwachen Lächelns schenkt uns in »Intensivpflichtig« die schwerkranke Patientin. Sie sieht ihren Wunsch wahrgenommen und erfüllt. In »Es zieht mich zurück« bekommen wir ein zartes Lächeln von der 8-jährigen Doris: Weil wir zu ihr hingegangen sind, ihr im entscheidenden Augenblick unsere Hand gegeben haben; weil wir ihr erklärt haben, warum ihre Mama so krank ist, und dass sie sterben wird; dass sie zu ihr gehen, sich verabschieden kann, und dass ihr Papa jetzt für sie da sein wird. Weil wir uns mit uns selbst in eigene Gefühlstiefen voranwagten, konnten wir Doris dies anbieten. So bekamen wir ihr Lächeln. Es stärkt uns noch heute. Es zeigt, wir liegen richtig. Dieses Lächeln ist Evidenz.
Die Kraft der Beschämung erfahren wir in »Grenzen, die fallen«: »Wir spüren Ihre Menschlichkeit … und wir danken Ihnen, wir alle. Ich bin bewegt, erstaunt, betroffen und beschämt.« Die kleine Doris flüstert beim Verabschieden: »Du bist ein Netter!« – Ich weiß keine Antwort. Kein Konzept. Die linke Gehirnhälfte setzt aus. Doch die Kostbarkeit des Augenblicks kann tief empfunden werden, im offenen -Kanal. Diese Beschämung geht Hand in Hand mit der Erkenntnis: Es ist recht, wie es ist. Da ist ein Lebensstrom, der auf uns zukommt. Dieser Lebensstrom berührt uns. Der Mensch kann Dinge auch richtig machen, wenn er keine Antwort weiß.
»Die Schärfe des Augenblicks« ist erfüllt von der Erschütterung des ganzen Menschenwesens. Aber das Würgen im Hals erfasst mich zugleich mit der Gewissheit: Ich bin hier am richtigen Ort. Es geschieht hier und jetzt. Es kann nicht aufgeschoben werden. Es ist recht, wie es ist. Das winzige Lächeln von Doris macht uns sicher: Wir liegen richtig, auch wenn wir keine (logische) Therapieoption haben. Das Entscheidende ist die Geistesgegenwart. Wie im Kleinen so im Großen, wie oben, so unten, wie innen, so außen, wie einst, so jetzt. Um dieser Geistesgegenwart willen weiß ich, dass ich mich meiner Tränen nicht schämen brauche, jetzt, zehn Jahre danach.
Es geht darum, dass wir uns einander zuwenden, das gilt beim Kind ebenso wie beim Erwachsenen. Amie holen gehen, ist das Entscheidende. Wir tun den Kindern keinen Gefallen, und auch nicht den Großen, wenn wir ihnen die Ursachen einer Krise verschweigen. Vom Unterlassenen und Verdrängten kann der Arzt nichts geben. Vom Unterlassenen und Verdrängten kann der Arzt nicht leben. Ehrlichkeit und Mut haucht Leben ein.
Amie führt uns vor, was uns trägt, worum es geht im Leben. Das kann sie nur tun, weil wir sie holen gegangen sind! Verhärtet euch also nicht! Erschließt euch, schließt euch auf! Das Entscheidende flüstert Amie ihrem Papa ins Ohr; zärtlich aus Herzenstiefen trifft sie den archimedischen Punkt. Und sie flüstert es uns, dir und mir, leise und in aller Schärfe zu.
Du bist heute da, wo deine Gedanken dich hingebracht haben.
Du wirst morgen dort sein, wo deine Gedanken dich hinbringen werden. (Chinesische Weisheit)
Wien/Kärnten am 15. April 2012
Klaus Michael Ratheiser
VORBEMERKUNG DES AUTORS
Wer sich von diesem Buch Klischees ärztlicher Heldentaten und turbulenter Reanimationen erwartet, wird enttäuscht sein.
Ein Intensivmediziner schreibt über seine Arbeit in einer Universitätsklinik, schreibt über das von ihm Erlebte, über das Arztsein an einer Intensivstation, über Grenzen, an die er dabei stößt – dort wo er Patienten an den Rand des Lebens begleitet, wo das Maß physischer und psychischer Belastungen unerträglich wird, wo der Mut bricht und die Sprache.
Das Buch berichtet von »Ärzten mit Grenzen« und den Menschen, die sie betreuen. Sie begleiten ihre Patientinnen und Patienten, möchten sie wahrnehmen, sie sehen, ihnen zuhören, mit ihnen innehalten, ihre Zeit anhalten. Und so oft ist die Wirklichkeit anders. Da treffen einander fremde Menschen, fremde Kulturen, Religionen. Ängste vor dem Fremden vermischen sich mit Ängsten vor dem Ungewissen. Wie können die Ängste bewältigt werden? Was erhält Vorrang? Sich zuwenden, auch dem Fremden. Im entscheidenden Augenblick von sich persönlich Zeit und Kompetenz hergeben. Eine ärztliche Führungskraft baut auf Sehen und Geben. Umschalten! Rechtzeitig. Gegen die Involution, für die Evolution! Statt Anhäufen Zur-Verfügung-Stellen. Aus der Gewaltherrschaft von Reflexen zur Macht der Zuwendung gelangen – randtauglich.
EINLEITUNG
Im Sommer 2000 treffe ich in einem Gasthaus auf dem Campus des alten Wiener Allgemeinen Krankenhauses einen Herrn, der eine leitende Position in einem Verlag bekleidet. Während wir die Speisekarte studieren und auf das Essen warten, beginnen wir von unserer Arbeit zu reden. So verschieden unsere Berufe sind, wir entdecken doch auch viel Ähnliches. Unsere Arbeit soll sinnerfüllt sein, das wünschen wir uns, und nicht bloß der mechanischen Erhaltung eines Systems dienen. Wir wollen gestalten, unser Arbeitsumfeld wie unser privates Leben pflegen und fördern. Beide spüren wir bei allem Enthusiasmus aber auch Grenzen: Grenzen des Machbaren, Grenzen der eigenen physischen, psychischen und schöpferischen Kraft! Grenzen, hart am Rande zum Scheitern.
Nachdem mir zuerst der Verleger seine Vorstellungen geschildert hat, ergreife ich das Wort und erzähle aus meinem Klinikalltag und was mich als Intensivmediziner bewegt: »Dass ich mich für die biologische Wiederbelebung der Organsysteme einsetze, genügt nicht, es ist eine Voraussetzung für alles Weitere, aber genügen kann es nicht! Die Menschen, die wir wiederbeleben, sollen auch ein Wozu erkennen! Unsere Nachuntersuchungen von Intensivpatienten zeigen Folgendes: Wenn auch körperliche Handikaps zurückblieben – die Überlebenden, die wir zwei Jahre nach dem Zusammenbruch interviewten, meinten, dass sie mit ihrem Leben zufriedener seien als zur Zeit vor der lebensbedrohlichen Krankheit.¹ Patienten, die schwere Krankheiten überleben, haben uns oft etwas voraus, sie selbst sind in einen Abgrund getaucht, haben die Lebensgefahr am eigenen Leib erfahren, kennen den Wert jeder Minute.« Um diese Erfahrung sind meine Patienten reicher. Viele von ihnen sind Meister eines Lebens im Augenblick, sie lassen sich nicht ein auf das Pokern um Mehr, um Effizienzsteigerung. »Hinter dem Leben steckt mehr als die stabile Kreislauf- und Atemfunktion«, fahre ich fort. »Ein Quäntchen der Zufriedenheit jener ehemaligen Patienten würde ich mir wünschen!«
Wir kommen vom Hundertsten ins Tausendste, reden von Qualitätsmanagement in großen Firmen und darüber, was die Quintessenz unseres Auftrags sei, abseits von allen Moden, Management-Floskeln und einschlägigen Seminaren: gestalten, Sinn stiften, Verantwortung tragen, Leid lindern, Entlastung schaffen, Freude empfinden und weitergeben. Der klinische Alltag zeigt, wie sehr es neben Fachkompetenz auf solche Tugenden ankommt, und um dies meinem Gesprächspartner besser veranschaulichen zu können, beginne ich eine Geschichte aus meiner beruflichen Praxis zu erzählen:
Natalie
Am 12. März 2000 übernehmen wir eine 44-jährige Frau (nur ein Jahr älter als ich selbst) von der Notfallabteilung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses auf unsere Intensivstation. Veronika Henesch ist geschieden, alleinstehend und hat zwei Töchter: Die größere, Thea, ist einundzwanzig. Sie geht bereits ihre eigenen Wege, ist vollkommen selbständig. Die kleinere, Natalie, ist vier und wohnt bei ihrer Mutter.
Folgendes ist geschehen: Am Morgen, während die Mutter mit Natalie frühstückt, bricht sie bewusstlos zusammen, stürzt vom Stuhl und bleibt reglos liegen. Niemand sonst ist da. Gerade noch hat die Mutter für Natalie ein Butterbrot aus der Küche gebracht, hat mit ihr gesprochen, hat ihr übers Haar gestreichelt und davon geredet, was sie heute gemeinsam unternehmen werden. Jetzt liegt sie da auf dem Boden und rührt sich nicht mehr. Sie sieht blass und krank aus. Natalie gleitet von ihrem Stuhl, beugt sich zu ihrer Mutter, rüttelt sie. Sie bewegt sich nicht. Ihre bläulichen Lippen sprechen nicht, die Augenlider sind geschlossen. Natalie spürt die Gefahr und läuft aus dem Esszimmer, streckt sich nach der Klinke an der wuchtigen Wohnungstür. Schnell und vorsichtig läuft sie die lange Stiege hinunter ins Erdgeschoss zu Herrn Novotny, dem Hausmeister. Natalie will für ihre Mami, die bestimmt sehr krank ist, alles richtig machen, alles: »Mami braucht die Rettung!« Der Hausmeister eilt hinauf in die Wohnung, sieht die Frau mit dem fahl-bläulichen Gesicht auf dem Boden liegen, nimmt sein Mobiltelefon vom Gurt. Acht Minuten später ist die Rettungsmannschaft da. Der Notarzt stellt eine Asystolie² fest.
Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen sofort – hier, auf dem Fußboden des Esszimmers. Das Herz beginnt aber erst 20 Minuten nach Intubation³, Beatmung, Herzdruckmassage und Verabreichung einiger Milligramm Adrenalin wieder zu schlagen. Die vierjährige Natalie steht ganz nah beim Hausmeister, den sie gar nicht so gut kennt. Sie hält seine Hand fest. Der Notarzt fragt nach Angehörigen. Zwei andere Helfer in roten Jacken legen die gerade wiederbelebte Frau – Puls positiv, aber nach wie vor bewusstlos und beatmet – auf die Tragbahre und schnallen sie mit breiten Gurten fest. Natalie ist zur Zeit die einzige Nahstehende, buchstäblich. Sie weiß aber, wo die Telefonnummern sind: Diejenige von ihrer großen Schwester Thea, die nach ihrer Mutter für sie der wichtigste Mensch auf der Welt ist. »Da, in der vierten Lade ist ein kleines Buch. Darin steht Theas Telefonnummer. Thea wohnt im 17. Bezirk!«, flüstert Natalie dem Notarzt zu, der sich zu ihr herunterbeugt. Die Rettungsmannschaft trägt die beatmete Patientin auf der Bahre zum Notarztwagen und fährt sofort los in Richtung Klinik. Das kleine blondgelockte Mädchen und der Hausmeister bleiben zurück. Vor einer halben Stunde haben Natalie und ihre Mami noch gefrühstückt. Mami muss jetzt dringend ins Spital.
»Die ›Notfall‹ wegen eines Bettes!«, ruft eine unserer Intensivschwestern, »44-jährige Frau, heute Morgen in ihrer Wohnung bewusstlos zusammengebrochen, asystol⁴, laut Notarzt, keine Laienreanimation, Eintreffen der Rettung nach acht Minuten, Diagnose der Notfallabteilung: Subarachnoidalblutung mit Hirnödem⁵, Verdacht auf Aspiration, sieht schlecht aus!« – »Ja, wir haben ein Bett!«
15:00 Uhr: Übernahme auf die Intensivstation. Intubiert und künstlich beatmet, Kreislauf wieder stabil. Neurologisch: Pupillen weit, Lichtreaktion und Kornealreflex negativ, Areflexie der Extremitäten, fehlende Antwort auf Schmerzreize, fehlender Hustenreflex.⁶ Alles lässt auf eine irreversible Gehirnschädigung schließen. Bereits in der Notfallabteilung hatten die neurochirurgischen Kollegen mittels Ultraschall ein Fehlen des Blutflusses im Gehirn bei massiver Gehirnschwellung und hohem Hirndruck festgestellt. Ein operativer Eingriff ist kontraindiziert⁷. Die Hirntoddiagnostik⁸ wird eingeleitet. Zusätzlich zum Ärzte- und Pflegeteam der Intensivstation untersuchen zwei neurologische Fachärzte unabhängig voneinander die Patientin. Bald steht der Hirntod fest. Es gibt keinen Zweifel. Neben anderen klinischen und ethischen Fragen haben wir bei Veronika Henesch auch rasch zu klären: Kommt die Patientin als Organspenderin in Frage?
Jemand läutet draußen bei der Eingangstür zur Intensivstation, die aus guten Gründen stets geschlossen gehalten ist. »Angehörige von Frau Henesch!«, ruft ein Pfleger, während er hinausgeht und die Besucher einfühlsam und vorsorglich schon bei der Tür in der sogenannten Umbettungszone⁹ empfängt. Das ist der Vorraum zur Intensivstation. Die schwere, breite Türe ist aus rostrotem Stahl gefertigt, die Wände sind mit breiten, cremefarbenen Metallplatten vertäfelt, der Boden ist aus einem rötlichen Kunststoff, abwaschbar. Lange Neonröhren geben diesem Raum ein grelles Licht. Links nach der Eingangstür stehen vier Klappstühle an der Wand. Daneben ein Waschbecken, ein Spiegel, Seifenspender und Desinfektionsmittel. Eine Packung weiße Einmal-Plastikschürzen und Informationsblätter zur freien Entnahme. Rechts neben dem Eingang sind an die Wand Garderobehaken montiert, auch einige Regale mit Monitoren, kleineren Geräten, Kabeln. Auf dem Boden unter den Regalen befindet sich, in einem fahrbaren Gestell gesichert, eine blaue Sauerstoff-Flasche, rechts an der Wand eine Collage mit Porträtfotos unserer Mitarbeiter: Das Team stellt sich vor. Durch eine weitere, breite, rot gestrichene Türe betritt man die Intensivstation.
Da