Psychodynamik und Geschlecht: Die weibliche Pädagogin und der männliche Klient - Ein Fallbeispiel Szenischen Verstehens im Arbeitsfeld JVA
Von Vanessa Jilg
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Über dieses E-Book
Im Vordergrund der Untersuchung stehen Arrangements von Beziehungsgestaltung, welche sie vor dem Hintergrund sozialer Konstruktionen von Geschlecht im Sozialraum JVA überprüft. Die Arbeit wurde im November 2012 mit dem "Henriette-Fürth-Preis für die beste Abschlussarbeit eines Jahrgangs im Bereich Frauen- und Geschlechterforschung" ausgezeichnet.
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Buchvorschau
Psychodynamik und Geschlecht - Vanessa Jilg
Anhang)
1. Einleitende Worte
Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Kategorie Geschlecht in den Bezügen Sozialer Arbeit. Das zentrale Interesse gilt hierbei der Frage nach den Niederschlägen eines gesellschaftlich verankerten Konzeptes männlicher Hegemonie in der sozialarbeiterischen Praxis. Hierbei begrenze ich meine Untersuchungen auf die Interaktionsdimensionen zwischen weiblichen Fachkräften der Sozialen Arbeit und deren männlicher Klientel in männlich dominierten Sozialräumen.
Die Fragestellung entwickelte sich aus einem Fall meiner theaterpädagogischen Praxis. Es handelte sich hierbei um ein sechsmonatiges Theater-Projekt in einer deutschen Justizvollzugsanstalt, das ich im Jahre 2009 mit der Unterstützung einer Praktikantin durchführte. Wie im Jahr zuvor, in dem ich bereits ein ähnliches Projekt in dieser Anstalt geleitet hatte, sollte eine Theateraufführung den Abschluss des Angebotes darstellen. Ungeachtet der bereits erarbeiteten Inszenierung wurde diese jedoch wenige Tage vor der Präsentation von einigen Gruppenmitgliedern abgesagt. Dabei war insbesondere der Entschluss eines einzelnen Teilnehmers ausschlaggebend für den Projektabbruch. Die vorausgegangenen Interaktionen zwischen diesem Teilnehmer und mir sollen im Fokus der Auswertung stehen und unter dem Aspekt des oben formulierten Forschungsinteresses untersucht werden; es steht die Frage im Mittelpunkt, ob geschlechtsrelevante Faktoren den Ausgang des Projektes bestimmt haben können. In diesem Zusammenhang sollen schwerpunktmäßig die Bedeutung männlicher Habitusformationen im Arbeitsfeld Jugendstrafvollzug erörtert und hier mögliche Auswirkungen geschlechtsspezifischer Interaktionsdimensionen auf Arbeitsprozesse mit weiblichen Sozialpädagoginnen thematisiert werden.
Um eine fundierte Auseinandersetzung mit Deutungen, Konstruktionen und Erfahrungen von Geschlechtlichkeit und den hierin enthaltenen Formeln von Beziehungsgestaltung zu gewährleisten, erhalten die Leserinnen und Leser in Kapitel 2 zunächst eine thematische Einführung in aktuelle sozialwissenschaftliche Diskurse zu einer gesellschaftlich konstruierten Dichotomie der Geschlechter
Anschließend soll anhand ausgewählter Theorien (Bourdieu, Connell, Meuser u.a.) veranschaulicht werden, in welchen Sinn- und Strukturzusammenhängen die Dimension männlich segmentierter Macht in diesem Kontext zu verstehen ist. Unter Berücksichtigung der spezifischen Fragestellung grenze ich umfangreichere Theoriediskurse in dem Maße ein, wie sie für das zu bearbeitende Thema relevant sind und verweise dementsprechend auf weiterführende Literatur.
Nachdem das Praxisbeispiel in Kapitel 3.1 vorgestellt wird, werden in Kapitel 3.2 zentrale Themen des Falles formuliert und im Rahmen der zuvor skizzierten wissenschaftlichen Thesen beleuchtet. In Kapitel 4 wird die Auswertungsmethode des Szenischen Verstehens nach Alfred Lorenzer, welche unter anderem in der psychoanalytischen Pädagogik angewandt wird, vorgestellt. Die Wahl der Methode ist zu verstehen als eine Annäherung an die Deutung komplexer Sinngehalte in zwischenmenschlichen Konstellationen. Dabei sollen optionale Erklärungsmodelle aufgezeigt werden, die keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Methodologie des Szenischen Verstehens ermöglicht es, neben der soziologischen Perspektive psychoanalytische Lesarten des Falles anzubieten. Diese werden in Kapitel 5 formuliert und vor der Ebene von Geschlechtlichkeit analysiert. In diesem Rahmen werden komplexe Zusammenhänge innerpsychischer und habitueller Konzepte der Beteiligten veranschaulicht. Das Ziel ist nicht, ein Abbild einer beweisbaren Realität zu produzieren, sondern eine subjektive Deutung innerhalb erlebter (professioneller) Beziehungskonstellationen aufzuzeigen. In der Identifikation solcher Strukturen sollen Bezüge zu intra- und interpersonellen Prozessen dargelegt werden. Diese werden vor dem Hintergrund geschlechtertheoretischer Erkenntnisse erörtert. Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse des Auswertungsprozesses formuliert und im Rahmen eines Ausblicks auf ein persönliches und wissenschaftliches Professionsverständnis Sozialer Arbeit zusammengefasst (Kapitel 5.3 und Kapitel 6).
In der vorliegenden Ausarbeitung bemühe ich mich um eine einheitliche gendergerechte Schreibweise. Ist mir dies aufgrund direkter Zitationen nicht möglich, so bitte ich dies in Hinblick auf die Formalia zu entschuldigen.
2. Zur sozialen Kategorie Geschlecht
Eine Analyse geschlechtlich organisierter Interaktionen im Kontext Sozialer Arbeit setzt voraus, dass die Kategorie Geschlecht in ihren gesellschaftlichen Bezügen begriffen wird. Um der Frage nach dem Sinngehalt sozialer Konstruktionen von ,Männlichkeit‘ und ,Weiblichkeit‘ auf den Grund zu gehen, muss zunächst geklärt werden, in welchem Kontext wir Begriffe und Definitionen von Geschlecht, Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtlichkeit betrachten.
2.1 Die Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit
Die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung hat sich innerhalb der vergangenen Jahrzehnte prägend mit sozialisationsbedingten Aspekten von Geschlechtskonstruktionen in unserem Kulturkreis beschäftigt. Ein bedeutender Schritt war und ist die in den Hintergrund tretende Annahme einer rein biologisch bedingten Geschlechtsdifferenz, die seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts eine Aufwertung der Differenz weiblicher und männlicher Wesensmerkmale etablierte (Vgl. Brandes 2002, 47), hin zu einer Verschiebung des Denkens in Richtung einer sozialen und kulturellen und somit veränderbaren Interpretation von Geschlecht innerhalb menschlicher Gemeinschaften.
Einen wesentlichen Beitrag zur kritischen Betrachtungsweise eines gesellschaftlichen Konsens dessen, was Männlichkeit und Weiblichkeit sei und was es nicht sei, liefert unter anderem Carol Hagemann-White, die uns 1988 eine Kultur der Zweigeschlechtlichkeit diagnostiziert, in welcher die Kategorie Geschlecht alltagstheoretischen Attribuierungen von Eindeutigkeit, Naturhaftigkeit und Unveränderbarkeit unterworfen sei (Vgl. Hagemann-White 1988, 228). Auch Hannelore Faulstich-Wieland (2008) zeigt auf, dass die Zugehörigkeit zu einem der beiden kulturell affirmierten Geschlechter eine omnipräsente Komponente unserer Gesellschaftsstruktur sei (Vgl. Faulstich-Wieland 2008, 240).
Mit dem Hinweis auf gleichwohl existierende Abweichungen in der Auffassung von Geschlecht, Geschlechtszugehörigkeit, Zweigeschlechtlichkeit und sozialer Etikettierung von Geschlecht im Alltagsverständnis anderer Kulturen macht Hagemann-White (1988) deutlich, dass Zweigeschlechtlichkeit „zuallererst eine soziale Realität (Hagemann-White 1988, 229) sei. Sie äußert sich kritisch gegenüber einer konsensuellen Tatsachenkonstruktion, die sich in Formulierungen wie ,es gibt nun ´mal Männer und Frauen‘ spiegele und somit einen biologistischen Unterschied konstituiere und bewahre. Den in ihrem Verständnis lohnenderen Weg gehe eine Wissenschaft, die sich der ,Null-Hypothese‘ zuwende, also radikal mit jeglicher Annahme naturgegebener Zweigeschlechtlichkeit breche (Vgl. Hagemann-White 1988, 229f.). Anhand dieser Hinweise verdeutlichte Hagemann-White (1988) die Notwendigkeit sozialwissenschaftlicher Sprachspezifizierungen mit Hilfe der Wortdifferenzierung von „sex
(als biologischem Geschlecht) und „gender" (als sozialem oder psychologischem Geschlecht) und den darin enthaltenen Zuschreibungen, Begrenzungen sowie Auflösungen von Geschlechtszugehörigkeit (Vgl. Hagemann-White 1988, 227-230).
Ein für die Geschlechterforschung aufschlussreiches Gegenmodell zu dem Axiom biologistisch determinierter Zweigeschlechtlichkeit liefern zudem alternative Entwürfe geschlechtlicher Identität wie der Transsexualität, Transgender oder Intersexualität. Der in westlichen Kulturen präsente soziale Druck, Menschen mit nicht eindeutiger Geschlechtsidentität einem der beiden sozial akzeptierten Geschlechter zuweisen zu müssen, äußert sich beispielsweise in der bis heute gängigen Prozedur der operativen Genitalangleichungen im Säuglings- oder Kleinkindalter bei Intersexualität (zur Terminologie und Klassifikation von Transsexualität und Intersexualität: Vgl. z.B. Schweizer 2010, 22ff.).
Nun steht die Sozialwissenschaft ebenfalls vor der Aufgabe, jene soziale Realität zu hinterfragen, ganz im Sinne einer ebenfalls nicht zu verleugnenden Wahrheit: ,es gibt nun ´mal eine soziale Konstruktion von Geschlecht‘ - wie konstituiert sich diese?
2.2 ,Der Mensch ist ein Mann‘ - Das soziologische Konzept der Männlichkeit
Um die Entstehung gesellschaftlich und interaktional geprägter Geschlechtskategorien zu veranschaulichen, möchte ich u.a. Michael Meuser (2007) folgen, der den Versuch unternimmt, den gesellschaftlichen Entwurf von ,Männlichkeit‘ anhand zweier soziologischer Theorien zu erläutern. Meuser (2007) konstruiert die Theorie eines männlichen Geschlechtshabitus, indem er die von Pierre Bourdieu entwickelte Habitustheorie mit dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit Raewyn Connells verknüpft. Dieser Fokus auf Männlichkeitskonstruktionen und soziale Prägungen so genannter männlicher Identitätsbildung erklärt sich entsprechend des Forschungsgegenstandes dieser Arbeit. Anhand dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse sollen Deutungsmodalitäten für ein psychosoziales Verstehen der ausschließlich männlichen Klienten im Rahmen der Fallbetrachtung entworfen werden.
2.2.1 Der Habitusbegriff
„Wenn wir von sozialer Praxis als dem Ort der Konstitution von Geschlechtlichkeit ausgehen, setzen wir also dort an, wo Körperlichkeit und Gesellschaftlichkeit noch unmittelbar verbunden sind, insofern es kein Handeln ohne Körper gibt, wie auch kein Handeln ohne soziale Bedeutung, Intention und Folgen" (Brandes 2002, 61)
Pierre Bourdieu greift einen Habitusbegriff auf, der schon bei Norbert Elias (1987) in Erscheinung tritt als ,spezifisches Gepräge‘, das jeder Mensch an sich trage und mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft, in der er lebt, teile (Vgl. Elias 1987, 244). In abstracto kann der Habitus als gewohnheitsmäßiges Handeln, über welches nicht spezifisch nachgedacht wird, definiert werden (Vgl. Brandes 2002, 62) und wird bei Bourdieu mit den Begriffen der ,Disposition‘ und der ,Praxis‘ unterfüttert und erweitert. Bourdieu geht davon aus, dass soziale Positionen in einer Gesellschaft in Form von Dispositionen (Tendenzen, Neigungen) verinnerlicht und übertragen werden. Sie seien das „Ergebnis der Einverleibung objektiver Strukturen, die mit der primären Sozialisation beginnt" (Wittpoth 1994, 93). Diese seien als eine Praxis