Untier hat das letzte Wort
Von Sandra Busch
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Buchvorschau
Untier hat das letzte Wort - Sandra Busch
Sandra Busch
Untier hat das letzte Wort
Impressum
© dead soft verlag, Mettingen 2015
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© Andrey Kiselev – fotolia.com
© Praisaeng – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-945934-29-6
ISBN 978-3-945934-30-2 (epub)
Woche 1
Mittwoch
Er kommt angesaust, zieht erst im letzten Moment die Bremse und lässt das Hinterrad geschickt einen Neunzig-Grad-Winkel in der Luft beschreiben, bevor er das Rad in den dafür gedachten Ständer schiebt und es mit einem Spiralkabelschloss sichert. Wie stets trägt er auch heute seine bunt geringelte Beanie, die bis kurz über seine haselnussbraunen Augen gezogen ist. Es ist diese faszinierende Farbe, die mich daran erinnert, dass ich ein neues Glas Nutella kaufen muss. Ansonsten wird mein Mitbewohner und bester Freund Mario eine mittelschwere Krise erleiden. Seit ich diesem absoluten Traummann über den Weg gelaufen bin, habe ich selbst ein Faible für den cremigen Brotaufstrich entwickelt. Okay, ich bin ihm nicht über den Weg gelaufen, sondern in den Weg. Was zur Folge hatte, dass ich Fünftausend-Heb-Auf spielen durfte, da sich die Kopien für Herrn Reichert, meinem Dozenten für Kunsttheorie, über den ganzen Flur der Uni verteilten. Der Dozent war leider unfreiwilliger Mitbeteiligter dieses kleinen, wenn auch nicht unspektakulären Unfalls. Mit ihm wurde es quasi ein flotter Dreier.
„Hoppla!", hatte der lebende Traum gesagt und sich zeitgleich mit mir nach den Kopien gebückt. Natürlich mussten unsere Köpfe mit einem deutlich hörbaren Plopp! gegeneinander donnern. Dabei fiel mir prompt meine Brille herunter und für ein paar Sekunden verwandelte sich mein Umfeld in eine verschwommene Welt. Glücklicherweise brauchte ich deswegen das schmerzverzerrte Gesicht meines heimlichen Schwarms nicht zu ertragen. Lediglich sein gequältes Stöhnen drang an meine Ohren, während ich nach meiner Sehhilfe tastete und sie zurück auf meine Nase bugsierte. Das Stöhnen reichte ohnehin aus, dass ich mich schrecklich schuldig fühlte.
Lionil Wilder.
Durch dezente Herumfragerei habe ich seinen Namen herausgefunden. Lionil!
Ein wunderschöner Name, perfekt um gehaucht zu werden, während man vor Ekstase wie eine Sternschnuppe verglüht.
Dieser wahnsinnig attraktive Lionil mit dem Nutellablick ist zweiundzwanzig, oft im Schwimmbad anzutreffen und geht gerne joggen. Beides könnte mein Lieblingssport werden. Hmpf, nicht dass ich überhaupt irgendeinen Sport betreibe. Ich bin eher der Stubenhocker … Jedenfalls studiert Lionil Produktdesign. Er ist der Sohn des nicht gerade armen Rollstuhlfabrikanten Klemens Wilder und will sicherlich irgendwann Papas Firma übernehmen.
Tag für Tag ist Lionil von einer ganzen Traube lärmender Freunde umringt und wird von sämtlichen Mädels der Uni angehimmelt. Und er kommt mit einem schwarz glänzenden Kreidler Dice-Fahrrad dahergebraust. Gegen dieses Schmuckstück kann mein altes, klappriges, dazu noch violettes Fahrrad, das ich günstig bei einem Rampenverkauf geschossen habe, nicht anstinken. Und statt einer italienischen Mutter, die eine gefragte Innenarchitektin ist, kann ich bloß einen älteren Bruder vorzeigen, der immerhin als Filialleiter bei Burger King malocht. Meine Eltern sind vor vier Jahren ausgewandert und vermieten wenig spektakulär auf Ibiza Sonnenschirme und Liegestühle am Strand. Mit dem mageren Einkommen können sie mir kein Kreidler Dice sponsern, sondern höchstens mal einen Fuffi zum Geburtstag schicken. Mir ist das egal. Ich lebe nach dem Motto: Geld allein macht nicht glücklich. Nutellabraune Augen dagegen schon …
Nun hocke ich cooler Student der schönen Künste total lässig auf der Rückenlehne einer Bank vor der Uni und starre von diesem Beobachtungsposten aus meinen Traumtypen an, der mit seinen neongrünen Chucks die Fahrradständer verlässt und in Richtung Unigebäude schlendert. In meinen Gedanken steuert er geradewegs auf mich zu, ein verruchtes Lächeln in seinem Gesicht. Beinahe kann ich seine perfekten Lippen auf den meinen spüren.
Tagträumer!
Ich verrenke mir den Hals, um Lionil hinterher zu himmeln – bis plötzlich die Bank kippt. Offenbar habe ich mich zu weit zurückgelehnt. Alles Armrudern nützt nichts, ich krache mit diesem verdammten Ding um und klemme mir zum schadenfrohen Gelächter sämtlicher Studenten der Umgebung ziemlich schmerzhaft das Bein ein. Ein mattes Kopfheben zeigt mir, dass Lionil dieses Unglück mitbekommen hat. Wie hätte es auch anders sein können? Er grinst von einem Ohr zum anderen. Jetzt wird er mich garantiert für den Volldeppen der Nation halten. Seufzend bleibe ich einen Moment wie erschlagen liegen, verberge das Gesicht in den Händen, verfluche stumm das Schicksal und mich gleich dazu. Dann rutsche ich mühsam unter der Bank hervor. Natürlich kommt mir niemand zu Hilfe. Trottel will keiner unterstützen. Das würde bedeuten, sich in ihre unmittelbare Nähe begeben zu müssen und sich der Gefahr der Ansteckung auszusetzen. Feixen können sie dagegen alle. Vorbildlich stelle ich die Bank auf ihre Füße zurück und humple mit einem angeknacksten Ego davon. Es wird ohnehin Zeit, das Feld mit einem letzten Rest Würde zu räumen. Daheim wartet eine Menge Arbeit auf mich.
In der Hurtenstraße 23 öffne ich die schwere hölzerne Haustür, die von einer neuen Schnitzerei geziert wird. Neben einem Hakenkreuz, mehreren Zahlen – ob Lotto oder Telefonnummer erschließt sich mir nicht – einem Smiley und einem Strichmännchen hat sich ein Herz mit den Initialen R und L hinzugesellt. Ein rascher Check der Klingelschilder sagt mir, dass hier in den letzten Stunden weder ein R noch ein L eingezogen ist. Hätte mich ohnehin schwer gewundert. Niemand aus diesem ehrenwerten Haus würde es darauf anlegen, sich von Herrn Huber, dem Hausmeister, erwischen zu lassen. Herr Huber bekommt bereits einen Herzinfarkt, wenn eine Staubfluse in einer Ecke des Treppenhauses ihr Dasein fristet. Dagegen scheint es von anderen Bewohnern dieser Straße eine Art Mutprobe zu sein, Herrn Huber auf diese Weise herauszufordern.
Mario und ich teilen uns eine Zwei-Zimmer-Wohnung direkt unter dem Dach in der zweiten Etage. Er müsste Daheim sein, weil seine Tür geschlossen ist und seine gelben Sneaker im Flur stehen. Grelles Schuhwerk muss gerade voll trendy sein. Da meine alten grauen Sneakers noch heile sind, werde ich diesen Modewahn geflissentlich auslassen. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und betrete das Bad. Zu meiner Überraschung hängt über dem Waschbecken ein Strumpf. Mit zwei spitzen Fingern nehme ich ihn auf. Nylon! Ich finde, in einer anständigen Männer-WG haben hautfarbene Nylons nichts verloren. Den Strumpf lasse ich neben der Badewanne zu Boden fallen und drehe den Wasserhahn auf, um mir die Hände zu waschen. Aus einem unerfindlichen Grund klebt schwarze Schmiere an meinen Handflächen. Da fällt mir die Kosmetiktasche auf dem Schränkchen gleich neben dem Waschbecken auf. Sie ist Netzhaut ablösend Pink. Da Mario und ich beide kein Faible für Pink haben, wird mein lieber Mitbewohner mal wieder einen Übernachtungsgast eingeladen haben. Das bedeutet eine weitere Nacht Gestöhne und Gejuchze aus dem Nebenzimmer. Bedauernd blicke ich mein Spiegelbild an. Es schaut genauso mitleidig zurück.
„Und warum schleppst du keinen Sparringspartner mit nach Hause?, frage ich mich beinahe vorwurfsvoll. Wenn man mich nach meinem Beziehungsstatus fragt, kann ich nur antworten: „Ich geh mit meiner Laterne …
Woran scheitert es bloß? Weswegen bin ich ein ewiger Single? Die drei Wochen mit Andreas zählen ja aufgrund der Kürze nicht und sind bereits eineinhalb Jahre her.
Ich mustere mich eindringlich. An der Optik kann es nicht scheitern, denn hässlich finde ich mich nicht. Ich bin normaler Durchschnitt. Mein Körper ist zwar unsportlich, trotzdem schlank, die Haare sind langweilig blond, die Augen von einem wenig aufregenden Grünblau. Oder Blaugrün? Wohl eher undefinierbar. Vielleicht ist meine Brille im angesagten Nerd-Style an meinem Single-Leben Schuld, dabei soll deren schwarzer Rahmen meine Augen betonen. Das zumindest war die Vorstellung der Verkäuferin. Ich strecke mir die Zunge heraus. Außer der Tussi im Brillenshop scheint bisher niemand meine betonte Zone bemerkt zu haben. Nö, die Optik ist es nicht. Möglicherweise liegt es also daran, dass ich ein Tollpatsch bin.
Schlecht gelaunt schlurfe ich in mein Domizil. Dort schallt mir ein fröhliches „Da bist du ja, du kleiner Wonneproppen!" entgegen. Untier sitzt auf seinem Käfig. Die Reste des Kabelbinders, mit dem ich seine Klappe festgezurrt habe, befinden sich fein säuberlich zerknabbert auf dem Teppich. Untier ist ein Beo, den ich von meinem Vormieter geerbt habe. Der ist ausgezogen und hat diese fliegende Mistratte einfach vergessen. Hastig forsche ich auf meinem Schreibtisch nach, ob alle wichtigen Papiere heil sind. Doch heute scheint sich der vermaledeite Vogel zurückgehalten zu haben. Es ist nichts weiter zerrupft worden.
„Ich habe geschissen", verkündet Untier fröhlich und legt den Kopf schief.
„Super! Und wohin?"
Da ich keine Antwort bekomme, prüfe ich rasch mein Bett und den Teppichboden, weil ich bereits öfters in seine Bescherung getreten bin. Bei einem Vogel seiner Größe ist das kein Spaß. Untier verfolgt meine Suchaktion und pfeift dazu die Titelmelodie von Bonanza. Er kann sehr unterhaltsam sein, aber gelegentlich wünsche ich mir, dass sein Vorbesitzer weniger häufig den Fernseher angestellt hätte.
Zum Glück entdecke ich keinen Vogelschiss in meinen übersichtlichen sechzehn Quadratmetern mit einer illustren Dachschräge, unter der meine Staffelei und ein Regal voller Zeichenutensilien stehen. An der nächsten Wand befindet sich mein Bett, keines für Singles, doch auch kein Doppelbett, sondern etwas dazwischen. Schließlich will ich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn ich mal einen Kerl mit hierher bringe. Wenn … Beinahe hätte ich gelacht. Der Kleiderschrank ist von Ikea und mit eher praktischen als stylischen Klamotten bestückt. Ein Übernachtungsgast hätte sogar ausreichend Platz für seine eigene Garderobe. Weshalb denke ich schon wieder an Besuch? An jemanden, den ich gerne abschleppen würde? Lionil …
„Mann, Björn! Reiß dich zusammen." Ich trete die Schuhe unter das Bett und ziehe unter Untiers wachsamen Blicken das T-Shirt aus, das nach dem Sturz von der Bank mit Sicherheit ein Fall für die Waschmaschine geworden ist.
Moment!
Was ist das?
„Bäääh!"
Da klebt Kaugummi dran. Wie eklig. Da ich von meiner Mutti weiß, dass man Kaugummi aus den Klamotten bekommt, wenn man sie frostet, wandere ich in das dritte Zimmer der Wohnung rüber, das gleichzeitig Küche und Wohnraum ist. Dort stopfe ich das Shirt in das Eisfach zwischen die Pizzen, angebrochene Pommes-Tüten und einer Packung Apfelstrudel. Nach kurzem Zögern nehme ich den Strudel raus und bette ihn in den Ofen um. Ein Mittagessen hatte ich nämlich noch nicht.
Bis der Apfelstrudel fertig ist, könnte ich ein bisschen an den Illustrationen für das Kinderbuch weiterarbeiten. Mit derartigen Zeichnungen verdiene ich mir neben dem Studium mein Geld. Untier fliegt zu mir und nimmt auf meiner Schulter Platz. Seinen Kopf schmiegt er mit einem leisen Kollern gegen meinen Hals. Er ist unheimlich verschmust. Streicheleinheiten gab es von seinem Vorbesitzer nie, wie mir Herr Huber, der Hausmeister, kurz nach unserem Einzug erzählt hat. Der hat den Beo gehasst und bloß behalten, weil er ein Geschenk seiner Mutter war. Dass Herr Huber den mitunter laut krächzenden Federwisch in seinem geheiligten Haus duldet, liegt daran, dass er ein wahrer Vogelnarr ist und in seiner Jugend Wellensittiche gezüchtet hat. Er hätte Untier gerne nach dem Auszug meines Vormieters übernommen, doch seine Frau hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Herr Huber ist eben ein echter Pantoffelheld und kehrt den Sheriff daher alternativ gegenüber den Mietern raus, weil er in seinen eigenen Wänden nix zu sagen hat.
„Willst du mich vögeln?", zwitschert Untier mir allerliebst ins Ohr.
„Du hast ja wohl einen Vogel", knurre ich und scheuche ihn weg. Beleidigt fliegt er auf das Regal, wo er seinen Unmut an einem Bleistift auslässt. Kopfschüttelnd suche ich mir einen Zeichenstift aus meiner Ablageschale heraus und beginne kleine Gespenster zu skizzieren.
Die Tür wird aufgerissen, ich bekomme beinahe einen Herzinfarkt vor lauter Schreck. Untier, der neben mir auf dem Schreibtisch sitzt, starrt zur Tür und erklärt mit Gangsterstimme:
„Es gibt eine Menge Löcher in der Wüste und ’ne Menge Probleme liegen in diesen Löchern begraben. Man muss es nur richtig machen. Ich meine, das Loch muss schon gegraben sein, wenn man mit einem Paket im Kofferraum aufkreuzt."
„Björn Marschner! Was ist das?"
Untiers Zitat aus dem Film Casino ungeachtet spaziert Mario in meine Bude und hält mir anklagend das Backblech entgegen, auf dem etwas Schwarzes vor sich hin dampft.
„Apfelstrudel?", rate ich.
Verdammt!
Über meine Arbeit habe ich völlig den knurrenden Magen und mein Essen vergessen. Nicht zum ersten Mal.
„Du fackelst uns noch ab, Björn." Mario seufzt.
„Ist hier etwa Weibsvolk anwesend?", flötet es neben mir.
„Nein, wendet sich Mario an den interessiert dreinblickenden Beo. „Lediglich eine ziemlich vergessliche Schwuchtel.
Ich protestiere: „Redet nicht, als wäre ich nicht anwesend."
„Genau das ist dein Problem, Björn. Du bist ganz oft ganz abwesend. Strafend schaut mich Mario an. „Die komplette Küche ist verqualmt. Lila dachte bereits, es würde brennen.
„Lila?" Mir fällt die grelle pinkfarbene Kosmetiktasche ein. Und was, bitteschön, ist Lila für ein Name?
Prompt verklärt sich Marios Miene. „Boah, Björn. Sie ist echt heiß. Superheiß! Ich glaube, dieses Mal bin ich wirklich verliebt."
So sieht er auch aus. Alle Weiber fliegen auf ihn, ständig hat er zehn an jedem Finger hängen, die ihn regelrecht anbeten. Selbst ich hatte mal eine kurze Phase, in der ich in Mario verschossen war. Er hat rotbraune Haare und hübsche graue Augen. Außerdem versteht er sich darauf, sich modisch zu kleiden und damit seine körperlichen Vorzüge zu betonen. Groß, schlank, breite Schultern … und absolut hetero. Aber heute hat er einen besonderen Ausdruck im Gesicht. Ihn scheint tatsächlich Amors Pfeil getroffen zu haben.
„Willst du mich vögeln?"
„Du unmoralischer Flatterheini! Mario droht Untier mit dem Backblech, woraufhin sich der auf meine Schulter rettet. „Bestimmt täte dir ein Stecher gut.
Bitte? Habe ich mich eben verhört? Oder meint er den Vogel?
„Na ja. Mario druckst verlegen herum. „Immer bloß Handbetrieb muss doch auf die Dauer langweilig werden.
„Diskutieren wir gerade mein Sexualleben?", frage ich entgeistert.
„Nein, eigentlich halte ich einen Monolog darüber. Ehrlich, Björn, warum suchst du dir nicht endlich jemanden zum Pimpern?"
Eine gute Frage.
„Weil mich keiner will?"
„Mir kommen gleich die Tränen. Mario verpasst mir eine Kopfnuss. „Wie soll dich einer wollen, wenn du ständig hier am Schreibtisch hockst?
„Ich hocke nicht, ich arbeite. Damit verdiene ich mein Geld, damit ich mit dir zusammenwohnen kann, um mir solche Monologe anzuhören."
„Komm doch morgen Abend mit Lila und mir ins Koma. Ich lade dich ein, da werden deine Finanzen also nicht drunter leiden."
Ach du liebe Güte! Mich von Mario aushalten zu lassen, die ganze Zeit über sein Geturtel mit dieser Lila live, bunt und in Farbe miterleben dürfen und zahlreiche Verkupplungsversuche in einem Hetero-Club über mich ergehen lassen, sind eine absolute Traumvorstellung von mir.
„Nein!"
„Du musst unter Menschen", behauptet Mario.
„Ich muss diesen Strudel entsorgen. Ich pflücke meinem Freund das Backblech aus der Hand und lasse es gleich darauf fallen. „Autsch!
„Ist dir der Begriff Topflappen geläufig?" Mario schüttelt den Kopf, während ich abwechselnd wie wild mit meinen verbrannten Fingern herumwedel und auf die Kuppen puste.
„Mario?", ruft eine weibliche Stimme.
Mein bester Kumpel wirft mir die Topflappen zu, die ich reflexartig auffange. „Meine Göttin verlangt nach mir."
Ehe ich Pieps machen kann, flitzt er hinaus.
„Seid leise!" Vielleicht sollte ich mir endlich Ohropax beschaffen. Seufzend mustere ich die Bescherung des verkohlten Apfelstrudels, der in meinen Teppich sinkt.
„Schöne Schweinerei."
Auch Untier starrt von meiner Schulter auf den Kohle-Apfel-Matsch, bevor er sich mir zuwendet und bedächtig erklärt: „Du, Norbert, da hockt ein nackter Hetero auf deinem Wohnzimmertisch …"
„Gegen einen nackten Homo hätte ich nichts einzuwenden."
Ich drehe mich auf die linke Seite.
Ich drehe mich auf die rechte Seite.
Ich wälze mich auf den Bauch und ziehe mir das Kissen über den Kopf.
Herrgott noch mal! Das ist ja nicht zum Aushalten.
Keuchen, Stöhnen, das rhythmische Knarren von Marios Bett.
Ich setze mich frustriert auf und schaue auf die Uhr. 0:24 zeigt sie mir an. Geschlafen habe ich nicht eine Minute lang. Nebenan in Marios Reich findet die zweite Runde in dieser Nacht statt. Seufzend wische ich mir über das Gesicht und reibe eine Ewigkeit an meinen Augen herum. Ich gönne Mario sein Glück von ganzem Herzen, aber könnte er es nicht ein wenig dezenter genießen? Plötzlich herrscht nebenan Stille.
Nanu?
Ich spitze die Ohren.
„Sind wir zu laut?", fragt eine weibliche Stimme.
Ja, definitiv.
„Ach was", höre ich Mario leichthin antworten.
„Er kann uns nicht hören?"
Vielen Dank, liebe unbekannte Lila, dass du dir Gedanken um den schlafbedürftigen Mitbewohner deines Liebhabers machst.
„Selbst wenn … Es stört Björn nicht. Der pennt garantiert tief und fest und träumt von einem perfekten Schwanz wie diesem."
Ein Kichern.
Arschloch, denke ich gallig. Nebenan setzen die Geräusche aktiven Bettsports wieder ein.
„Ich halt’s nicht aus!" Wütend hämmere ich mit der Faust gegen die Wand. Schlagartig kehrt Ruhe ein.
„Wer ist da?"
„Mario, du Witzbold! Wer soll das schon sein? Dein WG-Kumpel mit seinen Schlafstörungen!", brülle ich gestresst.
„Sind wir zu laut?"
Eigentlich habe ich Untier für den Spaßvogel gehalten.
„Nein. Ich wollte lediglich vorsichtig fragen, ob ich in neun Monaten ausziehen muss."
„Wir sind zu laut", höre ich Mario seiner Lila etwas leiser erklären.
„Sag ich doch", dringt es durch die Wand.
„Entschuldige!, ruft Mario gleich darauf. „Wir sind jetzt leiser.
Jupp, sie dämpfen ihr Gestöhne um genau ein Dezibel. Und ich nutze die nächste halbe Stunde, um mir mithilfe meiner Schere aus einem Radiergummi Ohrstöpsel zu schnitzen.
Donnerstag
Halb im Schlaf und damit total tranig wanke ich ins Bad, wo mich dichte Dampfschwaden erwarten. Offenbar hat Mario vergessen, nach dem Duschen das Fenster zu öffnen. Darum werde ich mich gleich kümmern. Zunächst ist erst einmal pinkeln angesagt. Ich streife meinen Slip herab und klappe den Klodeckel hoch, um mich auf die Brille sinken zu lassen. Komischerweise gluckert neben mir Wasser.
„Ein Sitzpinkler. Sehr vorbildlich."
Ich erstarre regelrecht auf der Klobrille. Gleich darauf zieht eine Frauenhand den Duschvorhang beiseite, sodass ich erschrocken in ein von grüner Pampe bedecktes Gesicht glotzen kann. Einzig ein silberner Ring in der Unterlippe ragt aus der alienhaften Schmiere hervor. Zum Glück verdeckt reichlich Badeschaum weibliche Details. Mich hingegen verdeckt nichts.
„Hi, ich bin Lila." Sie winkt mir zu und lächelt.
Ich bin noch so fassungslos, dass ich keinen Ton von mir geben kann.
„Pinkel ruhig. Das stört mich nicht."
Na, vielen Dank!
„Vielleicht stört es mich", erkläre ich, von der momentanen Lage wenig begeistert.
„Warum denn? Du bist doch schwul. Hat jedenfalls der Mario behauptet."
„Auch Schwule begrüßen ab und zu ein wenig Intimsphäre. Pinkeln gehört dazu."
„Sorry. Dann stecken wir nun in einer blöden Situation, hm? Möchtest du, dass ich solange rausgehe?" Lila macht Anstalten aus der Wanne zu steigen.
„Halt! Mein Aufschrei hält sie zum Glück zurück. „Bitte bleib sitzen.
Ich will keine nackte Frau sehen. Ich will keine nackte Frau sehen. Ich will …
„Wenn ich mich umdrehe …", fängt Lila wieder an.
„Ich muss pinkeln."
Extrem dringend. Meine Blase platzt gleich und das Resultat würde kein schöner Anblick sein.
„Nur zu. Lila dreht sich demonstrativ um. „Soll ich den Wasserhahn aufdrehen oder ein Liedchen singen?
„Hä? Wozu?"
„Um dein Plätschern zu übertönen."
Ich überlege kurz. „Ein Lied wäre nicht schlecht."
Lila räuspert sich, bevor sie loslegt:
„Regen, Regen, Tröpfchen …"
Sie hat eine hübsche Stimme und ich ertappe mich, wie ich ihr lausche, anstatt endlich Wasser zu lassen.
„… es regnet auf mein Köpfchen,
es regnet aus dem Wolkenfass …"
Endlich kann ich mich erleichtern. Schnell abschütteln und …
„… und alle Kinder werden nass."
… zack! Rauf mit dem Slip.
Spülen.
Befreit atme ich auf.
„Hat ein heißer Typ wie du einen festen Freund?" Lila legt die Hände auf den Wannenrand und stützt ihr grünes Kinn darauf.
Ich verneine stumm, weil in meinem Mund mittlerweile die Zahnbürste steckt.
„Warum nicht? Du bist doch süß."
Ich verdrehe die Augen.
„Nein, ehrlich. Mario glaubt, dass du verklemmt bist."
Verräter! Was diskutiert der meine Beziehungsprobleme mit seiner Freundin? Ich spucke Zahnpasta und nehme einen Schluck Wasser, um den Rest ebenfalls loszuwerden. Nach ausgiebigem Gurgeln erkläre ich: „Du hast eine schöne Stimme."
Lila strahlt mich an. „Danke. Im Kindergarten singen wir oft."
„So einen Schwachsinn wie Schni-Schna-Schnappi?"
Sie kichert. „Genauso einen Blödsinn. Und wenn ich dieses dämliche Lied noch ein einziges Mal singen muss, erschlage ich die Gören."
Schon wird sie mir sympathisch, diese grüne Lila. Ich schüttle die Dose mit dem Rasierschaum und gebe mir einen großzügigen Klecks auf die Hand, um mein Gesicht einzuschäumen.
In der Wanne giggelt es fröhlich. „Jetzt sind wir beinahe im Partnerlook."
Ich betrachte mein weißes Antlitz und dann das Grüne von Lila. „Stimmt. Benötigst du auch eine Rasierklinge zum Entfernen?"
Lila lacht, während ich mich um meine Stoppeln kümmere. „Du hast Humor. Das gefällt mir. Mario hat recht, dich muss man einfach mögen."
Du lustiges grünes Monster, erzähl das ruhig dem schnuckeligen Nutella-Traum.
Irgendetwas treibt sie gerade in der Wanne, denn das Wasser plätschert erneut. Ich kann allerdings gerade nicht rüberschielen, weil ich damit beschäftigt bin, meine Achseln zu rasieren. Ich hasse es, wenn sich dort ein Urwald bildet. Eine andere Stelle, an der ich Haarwuchs ebenfalls furchtbar finde, spare ich heute lieber aus.
„Tut mir leid, dass wir heute Nacht etwas laut waren und dich gestört haben."
Ich spüle den Rasierer ab und greife mir ein Handtuch, um die letzten Schaumreste abzuwischen. Dabei drehe ich mich zu Lila um, die … Donnerwetter!
Die grüne Pampe ist abgewaschen und mir blickt ein herzallerliebstes Gesicht entgegen. Sie hat Grübchen in den Wangen. Ich setze meine Brille auf und betrachte sie mir genauer. Lila lächelt unter meiner Musterung.
Himmel!
Um ihre tolle Haut könnte ich sie direkt beneiden.
„Und? Bestanden?"
„Mario erwähnte gestern eine Göttin, das kann ich unterschreiben. Ist deine Augenfarbe echt oder sind das Kontaktlinsen?"
Die Farbe ist von einem intensiven Grün, das ist mir wegen der erbsigen Pampe vorher gar nicht aufgefallen.
„Alles echt. Sogar die Titten. Kannste ruhig fühlen."
Abwehrend hebe ich die Hände. „Nein!"
Lila grinst. „War ein Scherz. Auch die Haare sind nicht gefärbt. Ein natürliches Honigblond."
Das kann ich nicht erkennen, da ihre Haare nass und damit dunkel sind.
„Björn, das Wasser wird allmählich kalt …"
Der Wink mit dem Zaunpfahl.
„Äh … ja … ich muss ohnehin los. Wir sehen uns sicherlich heute Abend. Bis später."
„Tschüss", ruft sie mir hinterher, als ich behutsam die Tür hinter mir schließe. Okay, Mario hat offenbar seine Prinzessin gefunden. Und wo, verdammt, bleibt mein Prinz? Ich suche ihn wirklich krampfhaft, aber er lässt sich leider den ganzen Tag über nicht aufspüren. Wahrscheinlich reitet der mit seinem lahmarschigen Gaul in den Sonnenuntergang, während ich vergebens hinter jeder Laterne nach ihm forsche.
Freitag
Was für ein wunderschöner Morgen. Ich möchte singen, tanzen und meine Mitmenschen vor den Bus schubsen, denn kaum bin ich aus der Haustür, da werde ich beinahe von zwei Joggern umgerannt. Durch einen raschen Sprung zur Seite rette ich mich, nur um die Tür eines Taxis ins Kreuz zu bekommen, weil der Fahrgast beim Aussteigen nicht aufpassen kann. Anschließend stelle ich genervt fest, dass mir eine Ulknudel die Fahrradkette vom Kranz runtergerissen hat. Nachdem ich die Sabotage repariert habe, sind meine Hände total verschmiert. Mein Shirt leider ebenso. Daher muss ich zurück in die Wohnung und mich schnell umziehen. Untier sitzt zum Glück noch in seinem Käfig, dessen Klappe wieder mit Kabelbinder gesichert ist. Vierfach!
„Wild Thing
You make my heart sing …"
„Halt den Schnabel", fordere ich ihn auf, als ich mir das Shirt über den Kopf ziehe und in ein frisches schlüpfe.
„… you make everything groovy …"
„Du machst mich groovy. Und wie!"
„Ein Künstler, wie er im Buche steht. Im Strafgesetzbuch", zwitschert Untier, als wäre er eine Anwältin im zu kurzem Rock.
„Dein unverschämter Schnabel wird dir früher oder später richtig Ärger einbringen. Ich muss los. Tschüss, du Aasgeier."
„Doktor! Doktor! Sie haben Ihr Lungenhaschee liegen lassen!", schallt es hinter mir her.
Lungenhaschee … Allein bei dem Wort überläuft es mich kalt.
Das Tass Kaff liegt genau neben der Uni und wird von Studenten regelrecht bevölkert. Das Essen ist gut und günstig, einige jobben hier als Aushilfe und man bekommt einen fantastischen Kaffee. Schwarz, stark und reichlich. Einen richtigen Muntermacher. Ich habe einen der winzigen Tische in einer Ecke ergattert und mir Rühreier, mit Schafskäse überbackene Tomatenscheiben, Speck und zwei Brötchen bestellt. Nachdem mein Apfelstrudel gestern Abend ausgefallen ist, knurrt mein Magen ganz erbärmlich. Ein riesiger Pott Kaffee ergänzt mein Frühstück. Oft kann ich mir das auswärtige Essen nicht leisten, aber ich habe unterwegs den Briefkasten mit den Gespensterskizzen gefüttert und hoffe seitens meines Verlags auf eine großzügige Kontospende. Auf den Knien balanciere ich einen dicken Wälzer über Druckgrafik und versuche mich beim Verspeisen meiner Mahlzeit auf Schrotschnitt, Montagedruck und Zinkätzung zu konzentrieren. Mein Ziel liegt darin, irgendwann gewinnbringend den Zeichenstift zu schwingen. Leider gehört Fotografie und digitale Bildbearbeitung ebenfalls zum Studium dazu. Da Computer für mich einen wahren Horror darstellen, freue ich mich auf die Vorlesungen zur Bildbearbeitung wie auf den Ausbruch einer Pestseuche. Vor allem weil die unterrichtende Dozentin zur Sorte spitzfindige aufgetakelte Fregatte gehört. Heute habe ich es zum Glück mit Professor Hilling zu tun, der seine Vorträge sehr interessant zu gestalten weiß, sodass mir das Lernen bei ihm Spaß macht. Schade, dass er nicht auch Malerei oder Perspektive gibt. Mein Hunger nach diesen beiden Fächern kombiniert mit seiner Freude am Lehren wäre eine wirklich gute Konstellation.
„Kann ich abräumen?"
Verwirrt schaue ich auf. Eine zierliche Brünette deutet auf meinen leergefutterten Teller und ich nicke lediglich kurz, weil ich gerade Stielaugen bekomme. Lionil betritt mit vier Freunden das Tass Kaff und steuert auf einen frei werdenden Tisch zu. Nur ein paar Meter trennen mich von meinem Schwarm, der seine Beanie zurechtzupft und anschließend Krümel von dem Tisch wischt. Mir wird schlagartig dermaßen warm, dass ich bereits befürchte, meine Brille könnte beschlagen. Speichel sammelt sich in meinem Mund, bestimmt fange ich gleich zu sabbern an. Ich starre auf seine perfekten Lippen, nicht zu voll, nicht zu schmal, elegant