Rebellische Pianistin: Das Leben der Grete Sultan zwischen Berlin und New York
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Über dieses E-Book
Moritz von Bredow arbeitet als Kinderarzt und Autor in Hamburg. Aus seiner persönlichen Begegnung mit Grete Sultan und jahrelanger Recherche entstand die eindrucksvolle Dokumentation eines einzigartigen Künstlerlebens.
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Buchvorschau
Rebellische Pianistin - Moritz von Bredow
Rebellische Pianistin
Grete Sultan. Portrait von Franz Rederer, New York, 1944
Moritz von Bredow
Rebellische Pianistin
Das Leben der Grete Sultan
zwischen Berlin und New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Bestellnummer SDP 54
ISBN 978-3-7957-8602-1
© 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 21350
© 2012, 2014 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
www.schott-music.com
www.schott-buch.de
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung kopiert und in ein Netzwerk gestellt werden. Das gilt auch für Intranets von Schulen oder sonstigen Bildungseinrichtungen.
Inhalt
Vorwort von Alfred Brendel
Vorwort zur 2. Auflage
Prolog
Epilog und Danksagung
Anhang
Anmerkungen
Zeittafel
Literatur
Diskografie
Personenregister
Bildnachweis
Vorwort
Eine deutsch-jüdische Pianistin des Jahrgangs 1906 beschäftigt sich im Alter von zehn Jahren mit Arnold Schönbergs Drei Klavierstücken op. 11 und zwölfjährig mit Beethovens Sonate op. 111. Elf Jahre später absolviert sie ihr pianistisches Debüt in Berlin, das Beethovens Hammerklaviersonate einschließt. Dieses und zwei andere Riesenwerke, Beethovens Diabelli- und vor allem Bachs Goldberg-Variationen, bleiben Stützen ihres Repertoires, zu denen sich immer mehr zeitgenössische Werke gesellen. 1933 verlässt sie nicht wie die vor einer Vielzahl von Konzerten stehende Käte Aschaffenburg (Katja Andy), Freundin und Kollegin im Unterricht bei Edwin Fischer, Deutschland, sondern bleibt bei ihrer geliebten Familie bis in den Krieg hinein. Im letzten Moment, 1941, emigriert sie und kommt in den USA zu späten Ehren.
Das Berlin, in dem Grete Sultan aufwuchs, war eine Musikmetropole sondergleichen. Um 1930 wirkten dort die Dirigenten Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Otto Klemperer und Erich Kleiber. Es spielten und lehrten neben vielen anderen die Pianisten Edwin Fischer, Artur Schnabel und Wilhelm Kempff. In Furtwänglers Philharmonischem Orchester saßen als Stimmführer die Geiger Szymon Goldberg und die Cellisten Emanuel Feuermann und Gregor Piatigorsky. Das Trio Cortot-Thibaud-Casals, das Busch-Quartett wie auch das Kolisch-Quartett ergänzten damals ein europäisches Niveau des Musizierens, das man heute nur beneiden kann.
Tief und traumatisch hat dann Hitlers Übernahme der Macht in das Leben jüdischer Musiker eingegriffen. Es ist in Moritz von Bredows Buch fesselnd nachzulesen, wie der von den Nazis geduldete Jüdische Kulturbund jenen, die – sei es aus familiären Gründen oder einfach, weil sie sich so deutsch fühlten – im Lande blieben, zunächst Gelegenheit bot, ihrer künstlerischen Tätigkeit in einer Art von musikalischem Getto weiter nachzugehen. Wenn sie Glück hatten, durften sie schließlich in versiegelten Waggons ausreisen. Wem dies nicht gelang, dem drohten Suizid, Konzentrationslager und Tod.
Grete Sultan war vielleicht die erste Pianistin in Mitteleuropa, die sich mit solcher Entschiedenheit der Neuen Musik zuwandte. Auf dem Programm ihres Debütkonzerts standen Bach und Beethoven vor Strawinsky und Schönberg. Und neben Elly Ney war sie wohl das erste weibliche Wesen, das sich in den Zwanzigerjahren an Beethovens op. 106 wagte. Der Ehrgeiz, das Schwierigste und Anspruchsvollste an älterer wie jüngster Musik zu meistern, hat sie auch weiterhin nicht verlassen. Zur höchsten Blüte geriet ihre Passion für das Neueste durch die Begegnung mit John Cage, dem sie vierzig Jahre lang in enger Freundschaft verbunden blieb. Es ist erstaunlich, wie in ein und derselben Person die unablässige Bemühung um ein Werk wie Bachs Goldberg-Variationen mit der Begeisterung für Cages kalkulierte Zufallsmusik Hand in Hand gehen konnte, ja zu einer Art komplementärer Verknüpfung führte, seltsamste Polarität von »Soli deo gloria« auf der einen und Zen-Buddhismus beziehungsweise I Ging auf der anderen Seite. Mit dem für sie komponierten Mammutwerk, John Cages Etudes Australes, bereiste sie in Begleitung des Komponisten mehrere Jahre lang die Welt. Im Flugzeug spielten die beiden Schach.
Von Natur aus schüchtern, mit zarter, hoher Stimme, umgab Grete Sultan eine Aura staunender Verehrung. Zweimal versuchte Theodor W. Adorno vergeblich, sie nach Deutschland zurückzulocken. Bronisław Huberman schenkte ihr zu Beginn der Amerika-Zeit einen Bechstein-Flügel. Bei der Gedenkfeier für Fritz Busch spielte sie Beethovens Lebewohl-Sonate. Claudio Arrau war hilfreich und schickte Schüler. Das viele Üben schien sie gut auszuhalten; man rühmte allgemein ihren schönen, nuancierten Klavierton. In New York lebte sie zwischen Muscheln, Mineralien, Pflanzen, Schachfiguren und Katzen. (Bei Moritz von Bredow kommen sowohl die Zeitläufte als auch der Blick auf das Private zu ihrem Recht.) Andere Namen der Avantgarde, denen Grete Sultan musikalisch behilflich wurde, waren Henry Cowell, Earle Brown, Morton Feldman, Christian Wolff, aber auch Stefan Wolpe. John Cage sprach bewundernd von Grete Sultans »ruhiger, unbezähmbarer Kraft«.
Alfred Brendel, London, im Oktober 2011
Vorwort zur 2. Auflage
Als die Pianistin Grete Sultan 2005 kurz nach ihrem 99. Geburtstag in New York starb, befand sich diese ihre Biographie noch mitten in der Entstehung. Ein reiches, vielfältiges, traumatisiertes wie erfülltes Leben für die Musik hatte sich vollendet. Die Trauer um sie war groß, wird aber bei weitem durch eine tiefe Dankbarkeit überwogen.
Wichtige Menschen, die in vielfältiger Weise zu der Biographie beigetragen haben, sind seither ebenfalls gestorben: Grete Sultans Cousine Hanna Sohst-Sultan, ihr Neffe Claus Victorius, ihre Nichte Rita Guttsman, der Tänzer Merce Cunningham sowie Margrit Rederer, die Witwe des Malers Franz Rederer, sowie ihre Freundin Katja Andy im Alter von 106 Jahren.
Die »Rebellische Pianistin« mit dem Vorwort Alfred Brendels erfuhr große Beachtung im In- und Ausland, und gemeinsam mit der bei wergo veröffentlichten CD-Anthologie »Piano Seasons« erlebt Grete Sultan in dem Land ihrer Kindheit, aus dem die Nationalsozialisten sie vertrieben hatten, zunehmendes Interesse: erneut berührt und fasziniert sie jene Menschen, die ihr Klavierspiel nun wieder hören können, die über ihr Leben und Musizieren lesen können. Das hat Grete Sultan verdient.
Ich bin Schott Music in Mainz, insbesondere Sebastian Burkart, für die wunderbare Realisierung der 2. Auflage überaus dankbar. Möge auch diese wiederum die ungeteilte Aufmerksamkeit vieler Leserinnen und Leser finden, welche sich durch die Begegnung mit Grete Sultan und der Kunst ihres Klavierspiels anregen und bereichern lassen sowie oft von ihr und über sie sprechen mögen.
Moritz von Bredow, Hamburg, im April 2014
Grete spielt
Der suchende Geist,
Vom Wundergewebe
Letzter Musik erhoben,
Horcht ins Unerhörte,
In das Gezweige des Alls,
Tastend die Tangente
Durch Sternenlicht
Zum geometrisch gezeichneten
Seidigen Mottenflügel,
und seine eigenen sehnenden Fühler
zittern bezaubert in der Sekunde,
Schon sie verlierend,
Tonberückt.
Vera Lachmann
Prolog
Die Pianistin Grete Sultan, 1906 in Berlin geboren, macht in den späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren auf sich aufmerksam. Theodor W. Adorno beschreibt sie im Dezember 1930 als »hochbegabte, merkwürdig expressive und rebellische Pianistin«. Musiker, Maler, Dichter und Intellektuelle säumen den Weg ihrer Familie. Grete Sultan steht am Anfang einer verheißungsvollen künstlerischen Karriere, aber dann wird ihre Familie von den Nationalsozialisten verfolgt und zerschlagen. Wer kann, flieht ins Exil, andere sterben durch Suizid oder in den Vernichtungslagern. Grete Sultan überlebt und kann noch Mitte 1941 ins amerikanische Exil fliehen – hier entwickeln sich ihr neues Leben und vor allem ihre Freundschaft und künstlerische Zusammenarbeit mit John Cage. In Deutschland wird sie weitgehend vergessen. Im Sommer 2005, wenige Tage nach ihrem 99. Geburtstag, stirbt Grete Sultan in New York.
Die Kritik hat die virtuose Schlichtheit ihrer Interpretationen von Bach, Beethoven, Debussy, Schönberg und Cage erst spät wiederentdeckt. Dazu trugen vor allem mehrere Zeitungsartikel, Radiosendungen und Fernsehbeiträge anlässlich von Grete Sultans 95. Geburtstag im Sommer 2001 bei. Zwar war eine Einspielung von Cages Etudes Australes schon seit den Achtzigerjahren erhältlich, aber erst durch die 1996 von dem New Yorker Produzenten Heiner Stadler erstmals veröffentlichten historischen Aufnahmen begann man sich auch in Deutschland wieder zu erinnern. Die Einspielungen zeigen den singenden Klavierton Grete Sultans, der sich mit der ihr eigenen geistigen Durchdringung des Werkes und technischer Meisterschaft verbindet. Jene unprätentiöse Klarheit ihres Klavierspiels, die gleichermaßen auf bescheidener Zurückhaltung und dem ihr innewohnenden musikalischen Impuls beruht, ist ein herausragendes Merkmal ihres Künstlertums.
In der Pianistin Grete Sultan vereinen sich die Klavierschulen Clara Schumanns und Theodor Leschetizkys mit den direkten Einflüssen ihrer Lehrer Richard Buhlig, Leonid Kreutzer und Edwin Fischer. Ihr von früh an vorhandenes Interesse an Neuer Musik, ihr Streben nach Werktreue sowie ihre persönliche Zurücknahme fast bis zur Selbstverneinung stellen Grete Sultan in Gegensatz zu vielen bekannten Pianistinnen und Pianisten ihrer Zeit. Sie weigerte sich beharrlich, bei der Auswahl ihrer Programme zwischen musikalischen Epochen zu unterscheiden. »Wir leben heute!«, war ihr Motto. Und so spielte sie auch die Neue Musik ihrer Zeit – zum Schluss vor allem die Etudes Australes von John Cage – mit dem Atem und dem Grund ihrer klassischen, auf einer langen musikalischen Tradition fußenden Ausbildung. Zudem war sie eine verehrte, maßgebende Klavierpädagogin.
Grete Sultans Entwicklung, ihre Musikalität und ihre Persönlichkeit sind untrennbar mit der Geschichte ihrer Familie verbunden. In ihr finden sich sowohl eine herausragende musische Prägung als auch Aspekte einer individuellen, gesellschaftlichen Normen skeptisch gegenüberstehenden Haltung. Bildungsideale stehen im Mittelpunkt der Erziehung, vor allem die Musik. Sie gibt Grete Sultan von früh an ihre bleibende Identität. So fällt das Licht in dieser Biografie zunächst auf ihre Mutter Coba und deren Schwester Charlotte Baerwald, geb. Lewino, die beide für die Entwicklung Grete Sultans besonders richtungsweisend waren.
Vorgeschichte und Schicksal der Familie Grete Sultans, ihr eigener Lebensweg und ihre Verbindung zu den großen Künstlern ihrer Zeit legen nicht nur Zeugnis von einer einzigartigen Künstlerpersönlichkeit ab, sondern dokumentieren darüber hinaus auch die Musikgeschichte des gesamten 20. Jahrhunderts. Diese Biografie möchte zur nachhaltigen Würdigung Grete Sultans beitragen und die Leser neugierig machen auf ihre Interpretationen der Musik von Frescobaldi bis Cage.
Moritz von Bredow, Hamburg, im November 2011
Der gesamte Sultan-Victorius-Haushalt im Grunewald und später in Schlachtensee hat ihre Persönlichkeit, weil sie in diesem Milieu lebte, mit Sicherheit geprägt, auch wenn sie stets verneint, daran interessiert zu sein. Claus Victorius¹
In welchem Käfig [cage] man sich auch befindet – man soll ihn verlassen. John Cage²
Die Familie: Herkunft und Musikalität
November 2002: Grete Sultan ist beinahe hundert Jahre alt und schon seit Langem die älteste Bewohnerin des Westbeth Artists Housing nahe am Hudson River, im westlichen Teil des New Yorker Künstlerviertels Greenwich Village. Sie sitzt im Korbstuhl am Fenster ihrer Wohnung, deren Zentrum zwei Steinway-Flügel bilden. Die Pianistin wirkt klein, ihr Rücken ist gebeugt, sie umfasst auch im Sitzen ihren Stock. Aber sie lächelt, hell und klar sind ihre Augen, ihre Stimme ist beinahe mädchenhaft. Grete Sultan trägt eine indische, kunstvoll dunkelrot und blau gemusterte Bluse und weite dunkelblaue Hosen. Das feine Haar, schlohweiß, ist sorgfältig zurückgesteckt, die Lippen sind schmal, der Ausdruck des alten Gesichtes ist konzentriert und ganz wach. Zu der gebeugten Haltung und dem mühsamen, alt gewordenen Gang passen die Hände: Lang und schmal, knorrig verbogen sind die Finger, die bläulichen Venen liegen wie Perlenschnüre unter der Haut, knotig verdickt sind die Gelenke. In diesen Händen, mit denen Grete Sultan seit mehr als neunzig Jahren Klavier spielt, konzentrieren sich ihr Ausdruck und ihre Kraft, ihre Sprache, Mimik und Gestik.
Sie lächelt versonnen. Langsam, doch stetig kehren Erinnerungen zurück, Erinnerungen an schon lange vergangene Zeiten, an Erzählungen aus noch länger vergangenen Zeiten. Erinnerungen an den Vater und die Mutter, von der sie auch im hohen Alter mit dem vertrauten Kosenamen spricht: »Da waren so viele Pianisten in meiner Familie, die kannten alle meine Mutti!«³ Grete beginnt zu erzählen, immer weiter wandern ihre Gedanken zurück.
Die mütterliche Linie. Jacob und Emmy Lewino
Grete Sultans Großvater Jacob Lewino entstammt einer Familie, die ursprünglich Levy hieß und »seit mehr als tausend Jahren«⁴ im Rheinland ansässig ist. Die Familie Levi, später Leoni, aus der die Großmutter Emmeline Leoni hervorgeht, stammt aus der Pfalz.
In beiden Familien werden im frühen 19. Jahrhundert die jüdischen Feste noch feierlich begangen, die alten Traditionen der Vorfahren leben vorerst weiter. Gleichzeitig aber wachsen Gretes Vorfahren mehr und mehr in die bürgerliche Gesellschaft hinein, Thorastudium und Synagogenbesuch werden immer weniger Zeit eingeräumt. Allgemeine Bildung steht in diesen sich der Moderne öffnenden jüdischen Familien mehr und mehr im Vordergrund, vor allem ein ausgeprägtes Interesse für kulturelle Werte und Inhalte sowie die aktive Beschäftigung mit Kunst, Literatur und Musik. Um gesellschaftlich anerkannt und integriert zu werden, konvertieren zahlreiche Mitglieder der assimilierten jüdischen Familien zum Christentum, viele von ihnen geben sogar ihre Namen auf. Auch in Grete Sultans Familie ist dieser Prozess nachweisbar: Aus den Familien Levy und Levi werden Mitte des 19. Jahrhunderts die Familien Lewino und Leoni.
Emmeline Leoni, ca. 1866
Grete Sultans Großmutter mütterlicherseits, Emmeline Leoni, kommt um 1847 in Mainz als jüngstes Kind des Weinhändlers Leo Levi und seiner Frau Louisa zur Welt. Sie wird Emmy genannt, ist von früher Kindheit an eine »wilde Hummel«⁵ und erträgt es als Neunjährige nur mit Mühe, dass ihr älterer Bruder Eugen Albert ihr Goethes Wilhelm Meister vorliest – viel lieber will sie sich mit seinen Freunden balgen. So sind Emmys Schulnoten wenig glanzvoll, die Betragensnote ist gar »höchst bedenklich«;⁶ dabei zeichnen sie ein starkes Temperament und lebhafte Fantasie aus. Schon früh initiiert Emmy Lese- und Diskutierkreise und entzieht sich mehr und mehr dem beengenden Einfluss ihrer Eltern. Die nehmen mit skeptischem Empfinden den unbändigen Drang nach Freiheit und Individualität ihrer Tochter wahr und schicken sie wohl auch aus diesem Grund nicht wie ihre Schwestern aufs Pensionat. Emmy soll weiter in elterlicher Obhut und unter Aufsicht aufwachsen.
Jacob Lewino um 1868
Eines Abends im Jahre 1864 kommt Louisas Neffe, der zwanzigjährige Jurastudent Jacob Levy, zu Besuch, der schon als kleiner Junge ein hochsensibles musikalisches Talent gezeigt und ersten Klavierunterricht erhalten hat. Auch bei der Familie seiner Tante setzt Jacob sich an den Flügel und spielt stundenlang. An diesem Abend verliert »die siebzehnjährige, bildschöne, von Leben sprühende Emmeline ihr Herz für ihr ganzes Leben«⁷ an Jacob. Als die Liebe der beiden offenkundig wird, verbietet Emmys Mutter ihrem Neffen den weiteren Umgang mit seiner Cousine, die dadurch allerdings nur noch mehr in ihrer Sehnsucht bestärkt wird und bald gelobt, nie einen anderen Mann als Jacob heiraten zu wollen. Der mit Güte und Innigkeit, aber auch mit kritischem Denken und stets hinterfragendem Wesen ausgestattete Jacob wird von Emmy ermutigt, die Konventionen seines frommen, eher altmodischen und kleinstädtischen Elternhauses beiseitezuschieben. So entwickelt er mehr und mehr das freigeistige Denken eines Liberalen, welches sich bis in Erziehung und Wesen seiner Enkelin Grete Sultan hinein fortsetzen wird.
1868 lässt Jacob Levy sich in Alzey als Rechtsanwalt nieder und verfasst während dieser Zeit zahlreiche Gedichte und dramatische Versuche – die literarische Neigung wird in seiner Tochter Coba, Grete Sultans Mutter, weiterleben. Anderthalb Jahre später jedoch kehrt er nach Mainz zurück, denn Emmys Eltern haben endlich ihren Widerstand gegen die Verbindung mit ihrer Tochter aufgegeben. Als Jacob Levy 1869 seine Emmy heiratet, entschließt auch er sich zur Namensänderung, und das Paar heißt fortan Lewino. Jacob und Emmy beziehen in Mainz eine ansehnliche Wohnung, deren Mittelpunkt ein Blüthner-Flügel ist. An ihm spielt Jacob, mittlerweile Richter am Amtsgericht, viele Stunden am Tag, und Hauskonzerte bei den Lewinos werden bald zu regelmäßigen gesellschaftlichen Ereignissen.
Lotte und Coba Lewino
Das friedliche Leben in Mainz endet vorerst im Juli 1870 mit der Kriegserklärung Frankreichs an Preußen. Viele Familien flüchten in die Schweiz, doch Jacob und seine hochschwangere Frau Emmy bleiben. Charlotte Viktoria Lewino wird wenige Tage nach Kriegsbeginn im August 1870 geboren, und vielleicht ist der Zeitpunkt der Grund für den zweifelhaften Kosenamen »Schnetteredeng«, den Jacob seiner Tochter gibt.
Im Herbst 1871, nachdem Elsass-Lothringen im Frankfurter Frieden an Deutschland abgetreten worden ist, wird Jacob Lewino als Landgerichtsrat an die Zivilkammer in Metz berufen, und die Familie zieht mit der gut einjährigen Lotte ins Elsass um. Auch hier veranstalten die Lewinos bald wieder »mit anderen juristischen guten Dilettanten«⁸ regelmäßige Kammermusikabende. Theaterbesuche und Gesellschaften bestimmen das Familienleben, doch die kleine Lotte »giebt den Ton im Hause an«.⁹ Im Jahr darauf, Emmy erwartet gerade das zweite Kind, verschlechtert sich der Gesundheitszustand Jacobs, der als Student eine Typhuserkrankung durchgemacht hat, zunehmend. Unerträgliche Bauchschmerzen und weitere Symptome einer Bauchfellentzündung lassen ein Arbeiten nicht mehr zu. Die Familie verlässt Metz und reist nach Worms zu Jacobs Eltern. Doch auch die dortigen Ärzte können nicht helfen, selbst monatelange Kuraufenthalte bringen Jacob keine Besserung.
Grete Sultans Großeltern Emmy und Jacob Lewino nach ihrer Hochzeit, 1869
Am 26. November 1872 bringt Emmy Lewino ihre zweite Tochter Ida Rosa zur Welt, Grete Sultans Mutter. Die Familienchronik berichtet, dass Emmy bei der Geburt nicht den leisesten Schmerz empfunden habe, da ihre seelischen Qualen um den sterbenden Mann so viel größer gewesen seien. Jacob Lewino sieht seine kleine Tochter nur für elf Tage. Drei Jahre nach der lang ersehnten Hochzeit mit Emmy stirbt er im Alter von 28 Jahren. Ida Rosa aber wird fortan in Erinnerung an ihren Vater Jacoba, kurz: Coba, genannt.
Emmy Lewino ist erst 25 Jahre alt und plötzlich mit zwei kleinen Töchtern auf sich allein gestellt. Zwar unterstützen sie sowohl Jacobs Eltern in Worms als auch die ihren in Mainz, aber sie entscheidet sich für ein eigenständiges Leben mit den beiden Mädchen. Sie wird nicht wieder heiraten. Ihre Eltern drängen Emmy, nach Mainz zurückzukehren, doch diese zieht stattdessen mit Lotte und Coba nach Wiesbaden. Der ehemals kleine Taunusort hat sich zu einer internationalen Kurstadt mit ausgedehnten Parkanlagen, mondänen Villen, belebten Promenaden und einem aktiven kulturellen Leben entwickelt.
1873, als die Lewinos in die Stadt ziehen, wird das Städtische Kur- und Sinfonieorchester Wiesbaden gegründet, das Louis Lüstner mehr als dreißig Jahre leiten wird. Lüstner holt die größten Musiker der damaligen Zeit nach Wiesbaden, unter ihnen Johannes Brahms, Clara Schumann, Joseph Joachim, Ferruccio Busoni, Hans von Bülow, Camille Saint-Saëns und den Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen. Später gelangt das Orchester unter Carl Schuricht zu künstlerischem Ruhm, und namhafte Gastdirigenten, unter ihnen Felix Weingartner, Bruno Walter und Richard Strauss, kommen nach Wiesbaden, um hier zu musizieren.
Für die nun meist verschleierte und in weite, schwarze Kleider gehüllte Emmy Lewino und ihre Töchter öffnet sich in Wiesbaden eine andere Welt. Der Kontakt zu Emmys Eltern bleibt eng, jede Woche setzt die Familie über den Rhein, um die Leonis in Mainz zu besuchen. Doch Emmy schätzt auch die Distanz, welche ihr Eigenständigkeit und familiäre Unabhängigkeit ermöglicht.
In den folgenden Jahren nimmt sie sich viel Zeit für Erziehung und Unterricht der musisch begabten Mädchen. Schon früh, lange vor der Einschulung, lernen die Töchter lesen. Emmy lädt regelmäßig Freunde ein, um die Dramen Schillers und Goethes mit verteilten Rollen durchzunehmen. Gedichte werden auswendig gelernt, Schauspielszenen und selbst verfasste Stückchen einstudiert, und regelmäßig besucht die Familie Konzerte und Theateraufführungen in Wiesbaden und Frankfurt. Behutsam, aber konsequent setzt Emmy Lewino ihr Vorhaben um, ihre Töchter zu willensstarken, künstlerisch ambitionierten Menschen heranzubilden. Dabei bemüht sie sich, »bei aller Neigung zur Bohème die Rahmenbedingungen einer bürgerlichen Existenz aufrechtzuerhalten«.¹⁰ Obwohl die Bindung zum Judentum schon brüchig geworden ist, erleben Lotte und Coba auch den zunehmenden Antisemitismus am eigenen Leib, als sie andere Mädchen verächtlich über die »Judde« reden hören. Emmy bezeichnet sich als »freireligiös« und tritt aus der jüdischen Gemeinde aus. Sie verkehrt nur mit Menschen, die ihr gefallen, bewegt sich in Konversationszirkeln und musischen Kreisen, gründet den literarisch-dramatischen »Stiefmütterchenklub« und tritt dem Chor des Frankfurter Cäcilienvereins bei.
Lotte und später auch Coba erhalten Klavierunterricht bei dem »ersten Hoboist[en] des königlichen Theaterorchesters«,¹¹ Carl Buths. Während Lotte zur ernsthaften Pianistin heranreift und von ihrem Lehrer als seine beste Schülerin gelobt wird, widmet Coba sich zunehmend der Literatur, der Dichtung und dem Erlernen fremder Sprachen. Als junges Mädchen beherrscht sie fließend Französisch, Englisch und Italienisch. So spiegeln sich in beiden Töchtern die musischen Talente ihres Vaters Jacob Lewino wider. Die Entwicklung der Kinder verläuft rasant: Lotte kann mit noch nicht einmal acht Jahren drei Schulklassen überspringen und die sechste Klasse besuchen, während Coba, noch keine sechs Jahre alt, bereits in die zweite Klasse geht.
Lotte Lewino: Klavierstudium bei Eugenie und Clara Schumann
Lotte Lewinos enge Beziehung zur Mutter und ihre Reifung zur Pianistin sind für ihre Nichte Grete Sultan, die später von ihr unterrichtet und viele Anregungen erhalten wird, von Bedeutung. Es lohnt sich daher, Lottes Entwicklung an dieser Stelle genauer zu betrachten, zumal Grete Sultan selbst ihre mütterliche Familie immer als für ihre musikalische Entwicklung wesentlicher denn die väterliche angesehen hat.
Im Jahr 1883 geht Emmy Lewino daran, Lottes Weg als Pianistin mit Nachdruck vorzubereiten. Sie berät sich mit ihrer Schwester Rosalia, deren Tochter Anna Klara Lewino bei Clara Schumann in Frankfurt am Hoch’schen Konservatorium Klavier studiert. Schon im Frühjahr 1884 werden Lotte und ihre Mutter von der Witwe Robert Schumanns empfangen. Lotte erinnert sich:
Das große Zimmer mit den beiden geöffneten Flügeln, den Bildern und Büsten berühmter Leute, die hier zu Hause zu sein schienen, löste eine feierliche und ehrfurchtgebietende Stimmung aus. Plötzlich war Frau Schumann bei uns, im schwarzen Kleid mit schwarzem Spitzenhäubchen auf dem gescheitelten Haar über den großen ausdrucksvollen Zügen.¹²
Lotte Lewino spielt drei Inventionen von Johann Sebastian Bach sowie Frédéric Chopins Minutenwalzer und legt schließlich eine erfolgreiche Gehörprüfung ab, sodass Clara Schumann ihre Aufnahme am Hoch’schen Konservatorium empfiehlt. Im Herbst 1884 beginnt Lotte, beglückt und beunruhigt zugleich, ihr Studium in der Klasse Eugenie Schumanns. »Meine Bildung wurde also etwas plötzlich und vorzeitig beendet«,¹³ erinnert sie sich. Ihre Nichte Grete Sultan wird fast vierzig Jahre später einen ähnlichen Weg einschlagen und die Schulzeit im Alter von fünfzehn Jahren beenden, um in die Musikhochschule einzutreten.
Lottes Leben verändert sich von nun an grundlegend. Sie zieht nach Frankfurt zu ihrer Großmutter und einer anstrengenden Tante, zweimal pro Woche erhält sie Unterricht. Von Anfang an betritt sie das Schumann’sche Haus stets mit einem »unheimlich bangen Gefühl am Halse«. Eugenie Schumann, »eine zarte Blondine […] mit feinen, etwas verschlossenen Zügen, […] Dienerin der Kunst und des Namens Schumann«,¹⁴ ist zurückhaltend und leidet an Depressionen, was die Stimmung der zarten, sensiblen Lotte nicht gerade hebt. Nach der Klavierstunde dürfen Eugenies Schüler Clara Schumann beim Unterricht zuhören.¹⁵
Doch obwohl Lotte erneut eine gute Prüfung bei Clara Schumann absolviert, ist sie zunehmend angespannt und bedrückt. Die Fünfzehnjährige empfindet die an sie gestellten Anforderungen als zu große Belastung. Emmy beschließt, Lottes Unterricht nach knapp zwei Jahren vorerst zu beenden. Lotte ist verzweifelt über diese Entscheidung, aber schon bald bahnt sich eine neue, vielversprechende Entwicklung an.
Unterricht bei Theodor Leschetizky
Immer am Donnerstag ist »Jour fixe« bei Emmy Lewino in Wiesbaden. Freunde und Bekannte finden sich ein. »An diesen Nachmittagen wurde geplaudert, vorgelesen, rezitiert oder musiziert.«¹⁶ Diese Donnerstage werden für Lotte und die jüngere Coba prägend. Unter den Gästen Emmy Lewinos weilt häufig auch Maria Wilhelmj, die Schwägerin des Geigers August Wilhelmj. Sie studiert in Wien bei dem berühmten Klavierpädagogen Theodor Leschetizky,¹⁷ einem Schüler Carl Czernys. Mit energischer Bestimmtheit organisiert sie nun bei ihrem in Frankfurt konzertierenden Lehrer ein Vorspiel für Lotte, das im Februar 1887 stattfindet. Die Sechzehnjährige spielt unter anderem eine Sonate Domenico Scarlattis, »die durch häufiges Übersetzen der linken Hand über die rechte viel Gelegenheit zum Vergreifen bietet«.¹⁸ Theodor Leschetizky hört aufmerksam zu, lobt besonders Lottes »ungemein günstige Hand« und nimmt sie als Schülerin an. Schon im Mai ziehen die Lewinos von Wiesbaden nach Wien.
Coba erlebt diese Jugendjahre mit all der Neugier und Faszination des aufbrechenden, suchenden Geistes, vertieft sich in Bücher und besucht Ausstellungen, entdeckt Dantes Göttliche Komödie und folgt der Entwicklung ihrer Schwester Lotte mit glühender Begeisterung.
Theodor Leschetizky führt in Wien ein anderes Haus als Clara Schumann in Frankfurt. Die Atmosphäre ist zwangloser und freier. Der Klavierpädagoge lehnt die von Clara und Eugenie Schumann gelehrte Wieck’sche Methode¹⁹ ab und bedeutet Lotte Lewino, dass sie mit dem Klavierstudium von Grund auf neu beginnen müsse. Leschetizkys zweite Frau Annette Essipowa, die Lehrerin von Grete Sultans späterem Hochschulprofessor Leonid Kreutzer, nimmt sich der Familie an und organisiert eine Wohnung, eine Schule für Coba, einen Flügel für Lotte.
Leschetizky lässt alle neuen Schüler zur Vorbereitung auf seinen Unterricht zunächst von fortgeschrittenen Assistenten ausbilden. So auch Lotte Lewino, die von ihrer ersten Wiener Lehrerin, Melanie von Wienzkowska, erzählt:
Ihr Unterricht gestaltete sich für mich zu einer wahren Offenbarung. […] Der Leschetizky’sche Anschlag verlagerte die ganze Kraft in die Finger-spitzen, holte sie gleichsam herbei, und durch ungemein sensitive Verbundenheit mit den Tasten holten die Finger den Ton so hervor, wie man ihn innerlich hörte.²⁰
Lotte ist selig. Endlich hat sie die Methode gefunden, welche ihrem Wesen und ihrer Auffassung vom Klavierspiel am nächsten kommt. Neben einer ausgebildeten Anschlagskultur werden ihr die Bedeutung von Fingersatz und richtigem Pedalgebrauch, Armführung sowie vor allem der singende Klavierton vermittelt – eine gründliche wie unverzichtbare Vorbereitung auf den eigentlichen Unterricht bei Leschetizky selbst. Melanie von Wienzkowska ist zufrieden mit Lottes Fortschritten, und Theodor Leschetizky nimmt sie nun sowohl in seinen eigenen Unterricht als auch in seine Mittwochklassen auf, in denen sich die Schüler gegenseitig vorspielen. Leschetizky schreibt hierzu:
[…] dass die Mittwoch-Zusammenkünfte meiner Schüler keine
Productionen sind, da Ein oder der andere Schüler ohne jede
Vorbereitung irgend etwas von denjenigen Stücken spielt, welche er augenblicklich in der Arbeit hat. Es handelt sich eben nur darum, dass die Schüler sich durch gegenseitiges
Vorspielen Routine u. Geistesgegenwart aneignen; darum kann von der Benennung »Production« nicht die Rede sein, indem es eigentlich nur Proben sind, die dazu dienen, dass auch ich
daraus ersehen kann, ob irgend Einer der Schüler späterhin
zur Öffentlichkeit tauglich sein dürfte oder nicht. Ich von meiner Seite opfere meinen Schülern die Zeit, um sie auf diese Art besser kennen zu lernen. Dieses Opfer kann ich von anderen Künstlern nicht
verlangen.²¹
Wenn Leschetizky unzufrieden ist und die Geduld verliert, kommt es schon vor, dass er einem Schüler die Noten vor die Füße wirft und ihm versichert, er könne mit seinem Spiel nicht einmal eine Katze hinter dem Ofen hervorlocken und solle lieber gleich Schuster werden. Manche Schüler, so wie einmal Artur Schnabel,²² müssen daraufhin den Vorspielabenden monatelang fernbleiben. Der Klavierpädagoge stellt hohe Ansprüche an Geistesgegenwart und Elastizität seiner Studenten, während Unbeholfenheit und Mangel an Einfühlungsvermögen ihn schier zur Verzweiflung bringen. Bevor das Üben beginne, müsse der Schüler das gesamte Werk auswendig spielen können, an jeder beliebigen Stelle – egal ob mit rechter oder linker Hand – einsetzen können, und zwar »nicht nur nach dem Gehör, sondern ganz bewußt«.²³
Theodor Leschetizky, 1889.
Das Bild trägt eine Widmung für Emmy Lewino
Lotte Lewino wird so durch Theodor Leschetizky, der seinen Studenten die Mittel gibt, selbstständig zu werden, und jeden auf seine Art spielen lässt, zu einer bewussten Künstlerin erzogen. Sie wird diese reiche Erfahrung später an ihre Nichte Grete Sultan weitergeben, die sie schon als Kind in den Sommerferien unterrichtet.
Zu derselben Zeit lebt Coba Lewino im Internat des Institutes Winterberg, einer gewerblichen Fortbildungsschule für Mädchen in Wien. Coba befindet sich so in einer »bunte[n] und amüsante[n] Gesellschaft«, während Lotte mit ihrer Mutter im Wiener Stadtteil Währing Quartier genommen hat. Im Erdgeschoss ihres Hauses lebt Ignacy Paderewski,²⁴ ein »Künstler mit einem gewaltigen, rotblonden Haarwust, […] ein liebenswürdiger und vornehm zurückhaltender Hausgenosse«.²⁵ Der 27-Jährige studiert seit 1884 bei Leschetizky und wird von Lotte Lewino als »zweiter Chopin« bezeichnet. Der »legitime Nachfolger Liszts und Anton Rubinsteins«,²⁶ dessen beispiellose Pianistenkarriere bald beginnen soll, übt täglich ununterbrochen viele Stunden, und Lotte hört ihm, wenn sie nicht selber übt, fasziniert zu.
Eindringlich erleben Lotte und Coba auch die Auftritte des Geigers Joseph Joachim; sie gehen mit ihrer Mutter ins Burgtheater und in die Wiener Hofoper, sehen und hören die großen Künstler ihrer Zeit. Die Eindrücke des Wiener Kulturlebens wirken maßgeblich und fördernd auf die Schwestern.
Während Lotte sich zu einer ernsthaften Pianistin entwickelt, lebt Coba in Dichtung und Literatur und spielt nur dann Klavier, wenn ihre Schwester nicht da ist. Sie ist noch scheuer und zurückhaltender als Lotte, und Emmy Lewino hofft nun doch, dass Coba eine »perfekte Hausfrau« werden möge. Doch es wird wohl alles etwas anders kommen, als erwartet:
In dem Coba anvertrauten Flickkorb fanden sich nach einigen Stunden noch ebenso viele zerrissene Strümpfe als vorher, dafür war aber die Literatur um einige lyrische Perlen bereichert worden, wie sich aus vielen umherliegenden Zetteln erwies. Coba, auf der Übergangsstufe vom Backfisch zum jungen Mädchen, war von heftiger Dichteritis ergriffen und ging träumend durch die Welt. Es gelang Mama nur mit dem Aufgebot ihrer ganzen, nicht geringen Energie, sie dem häuslichen Ideal näher zu bringen.²⁷
Lotte wird mit wechselndem Erfolg von Theodor Leschetizky unterrichtet. Ihre häufigen depressiven Stimmungen lassen sie immer wieder an sich zweifeln, zwischenzeitlich hält sie sich gar für die unwürdigste aller seiner Schülerinnen. In dieser Hinsicht wird es bei ihrer Nichte Grete Sultan später gewisse Parallelen geben. Dennoch erkennt Lotte später, dass die Wiener Jahre von 1887 bis 1889 für sie »erstaunliche Früchte«²⁸ getragen haben.
Emmy Lewino hat sich während dieser Zeit in der zunächst fremden Gesellschaft einen eigenen Platz erobert sowie mit sicherem Instinkt und gegen den Widerstand der »heimischen Spießer«, wie Lotte die Verwandten rückblickend nennt, wichtige Entscheidungen für ihre Töchter getroffen. In ihrer besonderen Art, gesellschaftliche Konventionen vielfach zu ignorieren, wirkt Emmy erfrischend auf den Kreis um Leschetizky, in dem sie sich – im Gegensatz zu ihrer früheren bürgerlichen Umgebung – verstanden fühlt. Dabei schwankt sie zunehmend zwischen den ihr dennoch innewohnenden rigiden, bürgerlichen Regeln und einem Leben außerhalb derartiger Einengungen. Die Charakterbildung Lottes und Cobas wird durch das frühe Beispiel ihrer Mutter entscheidend geprägt. Sowohl Emmys unorthodoxes Naturell als auch die musischen Wesenszüge Jacob Lewinos werden sich nicht nur in den Töchtern fortsetzen, sondern auch im Wesen ihrer Enkelin Grete Sultan auf markante Weise wiederkehren.
Rückkehr nach Wiesbaden. Berlin
Im Sommer 1889 beschließt Emmy Lewino, mit Lotte und Coba nach Wiesbaden zurückzukehren. Dieser Entschluss ist hauptsächlich mit ihrem zunehmenden Heimweh zu erklären, zudem ist Emmy des Reisens und häufigen Umziehens müde. Lotte wird von der Entscheidung ihrer Mutter völlig unvorbereitet getroffen und unglücklich, denn sie fühlt sich nun »gerade reif« für den anspruchsvollen Unterricht bei Theodor Leschetizky. Doch sie spürt auch die Entwurzelung und Einsamkeit ihrer Mutter sowie die Verantwortung, dieser den Wunsch nach Rückkehr zu erfüllen. Emmy Lewino gibt das Leben einer Wiener Bohemienne auf, um nun doch in die bürgerliche Gesellschaft Wiesbadens zurückzukehren – das ständige Mahnen der Brüder und ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis haben schlussendlich über ihren Freiheitsdrang gesiegt.
Wieder in Wiesbaden, dauert es nicht lange, bis alte Freunde sich einstellen. Auf Empfehlung Leschetizkys und durch die unermüdliche Maria Wilhelmj vermittelt, kommen erste Klavierschülerinnen zu Lotte Lewino. Bald kann sie in Mainz Felix Mendelssohn Bartholdys g-Moll-Konzert zur Aufführung bringen, ein Ereignis, das in der Presse lebhaften Widerhall findet.
Eine Karriere als Pianistin wird sich für Lotte dennoch nicht einstellen. Dazu trägt neben ihrer Nervosität auch ein Besuch der schwierigen Tante Tina aus Frankfurt bei, die sich, selbst kinderlos, in moralisierender Art besorgt zeigt, dass die gerade neunzehnjährige Lotte ihr ganzes Leben zu ruinieren im Begriff sei und bald eine »verknöcherte alte Jungfer« werde. Emmy Lewino beschließt, ihre Tochter zu verheiraten, doch eine erste Verlobung wird nach einigen Monaten überraschend wieder gelöst.
Die mittlerweile erwachsen gewordenen Schwestern Lotte und Coba Lewino machen sich zunehmend Gedanken, wie sich ihr Leben »in dieser charakterlosen Bäderstadt«²⁹ Wiesbaden weiterentwickeln könne. Im Januar 1893 reist Lotte nach Berlin, um musikalische Anregungen zu suchen und die Perspektive eines Lebens in der Hauptstadt auszuleuchten. Sie kommt bei Leo Lewino, dem Bruder ihres Vaters, unter, der hier einen Weingroßhandel betreibt.
Im September ziehen auf Lottes Initiative auch ihre Mutter und Coba