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Ein Sohn aus gutem Hause: Roman
Ein Sohn aus gutem Hause: Roman
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eBook310 Seiten4 Stunden

Ein Sohn aus gutem Hause: Roman

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Über dieses E-Book

Karl Tschuppiks glorioser Familienroman entführt uns in die Zeit der k. und k. Monarchie, beginnend Anfang des letzten Jahrhunderts, endend am Vortag des Ersten Weltkriegs. Einer der schönsten Romane über das Leben und die Gesellschaft zu Zeiten Kaiser Franz Josephs - wiederentdeckt!
Die Familie Adorno stammt aus einem Patriziergeschlecht, dessen Ahnherr in den Dienst Maria Theresias trat und dem Habsburgerstaat eine Anzahl treuer Untertanen schenkte. Max, sein jüngster Spross, Sohn einer lebenslustigen Mutter, die ihren Gatten mit einer hochgestellten Person aus dem Kaiserhaus betrügt und der Ehre wegen ihre Familie verlassen muss, lebt halb verwaist im strengen Wiener Vaterhaus. Der Vater hat keine rechte Beziehung zum sensiblen Sohn und schickt ihn aufs Gymnasium nach Prag, später in eine mährische Kadettenanstalt. Als Max mit Oberst Redl bekannt gemacht und dieser die Hauptfigur eines Skandals wird, holt der Vater, tief beschämt, ihn wieder nach Wien zurück. Max verliebt sich erst in ein junges Mädchen, dann in die Frau Rittmeister von Barco ...

Das Fulminante und Einzigartige an Tschuppiks Roman ist die Fülle an subtilen Stimmungen, an ergreifenden Konstellationen, an hochinteressanten Betrachtungen der damaligen Gesellschaft und ihrer Werte sowie die kurzweiligen Beschreibungen politischer und historischer Gegebenheiten. Über ein völkerverbindendes Österreichertum, das lange verloren ist. So endet auch Tschuppiks Roman: Max wird eingezogen, der Erste Weltkrieg beginnt.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum20. Juli 2015
ISBN9783902950451
Ein Sohn aus gutem Hause: Roman

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    Buchvorschau

    Ein Sohn aus gutem Hause - Karl Tschuppik

    Ein Sohn aus guten Hause

    Joseph Roth

    Ein echter Österreicher ist gestorben: Karl Tschuppik, einer aus dem alten Geschlecht der k. u. k. Österreicher.

    Keine spezielle Berufsbezeichnung kann eine so komplexe Erscheinung hinreichend erklären. Man sagt wenig über Karl Tschuppik aus, wenn man erzählt, was er gewesen ist, und auch nicht viel mehr, wenn man jene seiner Werke und Aussprüche zitiert, die Bestand haben über den Tod ihres Autors. Wer war Karl Tschuppik? — Schriftsteller, Geschichtsschreiber, Politiker, theoretischer Stratege, Journalist. Seine Berufe und seine Berufung, seine reichen Gaben und seine starken Neigungen, sein privates und sein öffentliches Schicksal, seine Sympathien, seine Antipathien, seine private Menschlichkeit, seine öffentliche Haltung, die intime Gebärde, der Dialekt, der ein ausschließlich individueller war, eigentlich ein unnachahmlicher Tonfall einer österreichischen Stimme, die persönliche Kultur und die seines Geistes; alle diese Eigenschaften waren nicht österreichisch gefärbt, sondern von Österreich getränkt und gesättigt, sie waren lebendige Zeugnisse einer universal-österreichischen Vergangenheit, ohne die eine noch so restringierte österreichische Gegenwart unmöglich, eine österreichische Zukunft ausgeschlossen wäre …

    Mit feinem Ohr vernahm Karl Tschuppik — der Historiker, dessen profunde Kenntnis und wissenschaftliche Sorgfalt die Grazie des Schriftstellers nährten — die Untertöne und Zwischenklänge der menschlichen Geschichte. Noch seine Skepsis hatte einen goldenen Glanz. Sie war ein heiterer Sonnenuntergang. Seine Ironie war elegant und versöhnlich. Aber sein Zorn und sein Groll kannten selten eine abschwächende Milderung. Und nachsichtig, ja leichtsinnig oft, wie er sich der Frivolität und der Nichtsnutzigkeit gegenüber zeigte, blieb er hart, wurde er manchmal fast bedrohlich, gegen jede Manifestation der pathetischen Plumpheit …

    Man wird nun heute keine Bücher und Aufsätze mehr von Tschuppik lesen — und es gibt weit und breit kaum noch einen mehr, bei dem man sich, in Angelegenheit der Historie, einen klaren, detaillierten und zuverlässigen Rat holen könnte. Ein graziles Haus auf seinem soliden Fundament, ein diskreter, eleganter und vigoröser Stil; ein Mitteleuropäer mit kosmopolitischem Horizont und europäischem Gewissen; ein Liebhaber des Volks mit aristokratischen Manieren: dies Köstliche, Kostbare ist nun begraben …

    Das letzte Buch Karl Tschuppiks — Ein Sohn aus gutem Hause — war sein erstes belletristisches, ein Roman aus dem alten Österreich. Der Autor erwies dem Schreiber dieser Zeilen die Ehre, ihm sein Buch mit folgenden Zeilen zu widmen: »Dem letzten Ritter meiner Welt!« – Von einem Todgeweihten zum letzten Ritter der österreichischen Welt erhoben, habe ich den Mut, diesen Abschied vom Österreicher Tschuppik mit den Worten, den nie verbrauchten, zu beschließen: »Austria erit in orbe ultima.«

    Dem letzten Ritter meiner Welt!

    Eines Tages, im Mai des Jahres 19…, hielt vor einem einstöckigen schmalen Barockhaus der Hofzeile im neunzehnten Bezirk von Wien ein Wagen der Rettungsgesellschaft. Die Bewohner dieser Gasse waren nicht danach beschaffen, den Regungen der Neugierde nachzugehen. In dem Kloster an der Ecke der Gasse wohnten Nonnen, von der Außenwelt wie durch einen dichten Schleier getrennt; das daneben liegende langgestreckte Haus hinter dem hohen Eisengitter war eine Heilanstalt für Nervenkranke. Der Rettungswagen, an diesem Ort keine seltene Erscheinung, hatte nur einige Kinder herbeigelockt, die sich drängten, einen Blick in das Innere des schwarzlackierten Gefährts zu tun. Zwei Männer mit rosafarbenen Kappen waren eben dabei, eine Tragbahre von den Riemen zu lösen. Dem Inneren des Wagens entströmte jener Geruch von Karbol und Äther, der Krankenhäusern und Operationssälen anhaftet.

    Als die Männer mit der Tragbahre im Hause verschwunden waren, wurde es in der Gasse wieder ganz still. Der Kutscher des Rettungswagens beklopfte den Schenkel seines Handpferdes und zündete sich eine Zigarette an. Auf die Frage eines Jungen, was denn im Hause geschehen sei, zuckte er die Achseln. Das schmale Barockhaus, vor dem der Rettungswagen stand, gehörte zu den sogenannten verschwiegenen Häusern, wie sie in manchen Gassen der ruhigen Vororte zu finden waren. Man nannte sie so, weil sie kleine Geheimnisse zu verschweigen hatten, zu deren Hüter meist ein älteres Ehepaar, der Hausmeister und seine Frau, eingesetzt war. Sonst wohnte niemand darin. Der Sinn dieser Häuser war, verborgene Inseln jenseits des Bezirks der gesellschaftlichen Gesetze zu sein. Da sie durch ihre Sonderstellung die Sitte respektierten, wurden sie nicht als störend, geschweige denn als skandalös empfunden; auch sie gehörten zur gesellschaftlichen Ordnung. Hinter den Gardinen des verschwiegenen Hauses wohnte die Weisheit eines alten Regimes, dessen Erfahrung wußte, daß man notwendige Einrichtungen, zu denen die Ehe gehört, nur erhalten kann, wenn man auch dem Ehebruch eine Norm gibt. Eine gewisse taktvolle Art der kleinen Leute sorgte dafür, daß das Verschwiegene nicht über die Gasse hinausdrang, man war stolz, Mitwisser des Geheimnisses zu sein, und sperrte es vor Unberufenen ab.

    Es mochte seit der Ankunft des Rettungswagens mehr als eine Stunde vergangen sein, als ein Fiaker vorgefahren kam, dem zwei Herren und ein Beamter des Sicherheitsdienstes entstiegen. Die Polizei des Kaisers Franz Joseph hatte die Gepflogenheit, in heiklen Fällen diskret zu sein. Man wartete das Dunkelwerden ab, dann erst öffnete sich das Tor des verschwiegenen Hauses. Die zwei Männer brachten die Tragbahre, nun belastet, wieder. Der Körper, den sie trugen, war mit einem Leintuch bedeckt. Es gab ein knarrendes Geräusch, als sie das ambulante Bett in den Rettungswagen schoben.

    An diesem Abend geschah es, daß die gewohnte Ordnung im Hause des Ministerialrats d’Adorno eine merkwürdige Änderung erfuhr. Es war dort der Brauch, um sieben Uhr die Hauptmahlzeit zu nehmen, wobei Herr d’Adorno — im Hause nannte man ihn den Herrn Baron — an dem runden weißgedeckten Tisch im großen Speisezimmer seiner Frau gegenübersaß, während die beiden Kinder, der zwölfjährige Max und die neunjährige Lucy, die zwei Plätze zwischen den Eltern innehatten. Gewöhnlich war es so, daß Frau d’Adorno ihren Mann erwartete, die Tischblumen zurechtrückte, dafür sorgte, daß der weiße Tischwein eingekühlt werde. Herr von Adorno hielt auf ein gewisses Zeremoniell, und er liebte es, in diesem hellen, angenehmen Raum, der nach Blumen duftete, respektvoll-freundlich empfangen zu werden.

    Der zweiundvierzigjährige Ministerialbeamte war stolz auf die Karriere, die ihn in verhältnismäßig jungen Jahren eine hohe Sprosse in der Leiter des kaiserlichen Beamtentums hatte erklimmen lassen. Zugleich aber war in ihm, in Erinnerung an sein Geschlecht, ein stetes Gefühl des Beleidigtseins lebendig, das ihm zuraunte, er sei zu Höherem geboren und die Beamtenstellung seiner nicht ganz würdig. Er versah sie, im Ministerium des Innern, mit Geschick, doch merkte man dem hageren Mann mit dem südländischen Kopf, über dessen Züge nie ein Lächeln glitt, die innere Verstimmtheit an.

    Herr d’Adorno entstammte einem alten genuesischen Patriziergeschlecht, das in der Geschichte der Stadt eine große Rolle gespielt hatte, später aber verarmte. Einer der Vorfahren war, 1698, im Streite der Parteien, zum Tode verurteilt, sein Vermögen beschlagnahmt, der Palast der Familie zerstört worden. Der Sohn dieses Ahnherrn, Marchese Botta d’Adorno, war nach Österreich ausgewandert, in die Dienste Maria Theresias getreten. Im Feldzug, den die Kaiserin gegen die Republik Genua führte, vertraute sie d’Adorno das Kommando an, der junge General, der die Beleidigung und Vernichtung seines Hauses nie vergessen hatte, rächte sich damals an seiner Vaterstadt. Im Arbeitszimmer des Ministerialrats hing ein dunkles Bild aus dem achtzehnten Jahrhundert, das Porträt des berühmten Ahnherrn. Von diesem Marchese an, der das Vorbild des Prinzen Eugen befolgt hatte, waren die d’Adornos völlig österreichisch geworden. Die amalgamierende Kraft Wiens, die Heiraten mit österreichischen Frauen hatten der Familie die Wesenszüge der habsburgischen Aristokratie gegeben. Im Hause des Ministerialrats war sogar der Gebrauch des Italienischen verlorengegangen; man sprach deutsch mit der wienerischen Färbung und französisch.

    Als der Ministerialrat an jenem Abend nach Hause kam, saßen die beiden Geschwister bei Tisch; das bedienende Mädchen wartete auf den Befehl, servieren zu dürfen. Der Platz der Mutter war leer.

    »Wo ist Mama?« fragte der zwölfjährige Max den Vater.

    Herr d’Adorno gab dem wartenden Mädchen ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen, wonach er rasch hinzufügte, er werde, sobald man zu essen wünsche, läuten. Dann trat er an den Knaben heran, winkte der kleinen Lucy, zu ihm zu kommen, und strich, gegen seine Gewohnheit zärtlich werdend, beiden Kindern übers Haar. »Mama«, sagte er dann mit einem Ton, den die Kinder noch nie vernommen hatten, »wird nicht mehr kommen. Wir werden jetzt allein sein.« Herr d’Adorno mußte von dem Augenblick an, da er die erschreckende Nachricht empfing, binnen weniger Viertelstunden Klarheit darüber gewinnen, was zu geschehen habe. Sein Stolz, der ihn wie ein Panzer umschloß, war so stark, daß ein Gefühl der Demütigung nicht aufkam. Er hatte diese Frau, die er zur Gattin gemacht, geliebt, ohne jemals die Empfindung verloren zu haben, daß er der Spendende sei. Die schauderhafte Nachricht zerriß das Bild, das er im Herzen getragen hatte, er sah die mädchenhaft schlanke, einunddreißigjährige brünette Frau, die seine Geliebte, seine Gattin, Dame und Mutter gewesen war, von diesem Augenblick an anders. Es war weder Schmerz noch Scham, was sich in ihm regte, ein böser, selbstanklagender Gedanke, in dem er das Erbe der Adornos erkannte, schrie in ihm: Was mir geschieht, ist die Rächung eines Verrats, ich war hinabgestiegen. Danach dachte er nur an sich und an die Kinder. Wird es einen Skandal geben? Kann man Aufsehen vermeiden? Wird es der Karriere schaden?

    Er hatte sich vorgenommen, den Kindern gleich zu sagen, daß sie die Mutter nie wieder sehen würden. Mehr konnte er nicht aussprechen, der Fall war zu skandalös. Es widerstrebte ihm, etwas zu erfinden, seine Phantasie versagte den Dienst, da er es versuchte, neben die grauenhafte Wahrheit ein Märchen zu setzen.

    Die kleine Lucy verbarg ihr Gesicht in der Serviette, Max aber sah den Vater unverwandt an, in der Erwartung, mehr zu erfahren.

    »Wo ist Mama?« fragte er wieder.

    »Sie ist verreist«, antwortete Herr d’Adorno.

    »Warum?«

    Auf diese Frage bekam Max keine Antwort mehr.

    Während des Essens erkundigte sich der Vater nach gleichgültigen Dingen; was es in der Schule gegeben habe, wie weit der Flieder gediehen sei. Gleich danach aber verbesserte er sich und sagte, es sei nicht notwendig, den Flieder zu schneiden, eigentlich gehöre dies zu den Unarten schlecht erzogener Leute, die Büsche zu plündern und die Blumen auf den Tisch zu stellen: »Die Blumen beantworten solche Unart, indem sie welken.«

    »Papa«, versuchte Max einzuwenden, »du hast es aber sehr gern gehabt …«

    »Es war ein Irrtum«, sagte Herr d’Adorno. Er entfaltete eine Zeitung und begann zu lesen. Die Geschwister stellten die bemalten Steine auf, mit denen sie spielten. Im Zimmer trat eine unheimliche Stille ein. Durch das breite Fenster zu ebener Erde sah man in den Garten, der schon im Dunkel lag.

    Plötzlich sprang Max so heftig vom Sessel auf, daß die Schwester einen Schrei ausstieß. »Papa«, flüsterte er, »es geht jemand im Garten, man hört die Schritte auf dem Kies.«

    Der Vater beruhigte den Knaben: »Du hast eine aufgeregte Phantasie.«

    Und zu beiden Geschwistern gewendet: »Geht schlafen!«

    Max wurde in dieser Nacht von Traumbildern geplagt, die so leuchteten und wechselten, wie die bunten Glasstücke im Kaleidoskop. In einem roten Zimmer kam die Mutter auf ihn zu, als sie sich zu ihm niederbeugte, erwachte er.

    Am Morgen des nächsten Tages verlangte Baron Kraus, der Polizeipräsident von Wien, einen genauen Bericht über den Vorfall in der Hofzeile. Der Oberkommissär Wyslouzil vom Polizeibezirk Döbling wartete bereits, dem Präsidenten alle gewünschten Auskünfte zu geben.

    »Das ist ja eine peinliche Geschichte«, begann der Präsident, »sehr, sehr peinlich. Ist sie mit der nötigen Delikatesse behandelt worden?«

    »Herr Präsident können überzeugt sein«, antwortete der Kommissär, »daß wir alles getan haben, die Affaire nicht publik werden zu lassen. Es war aber nicht zu vermeiden, den Arzt heranzuziehen …«

    »Gewiß«, sagte der Präsident, »es ist aber doch selbstverständlich, daß er sich seiner Pflicht, zu schweigen, bewußt bleibt? Und was hat der Arzt konstatiert?«

    »Es war ein Herzschlag …«

    »So, ein Herzschlag? Ja, sagen Sie eines, der Prinz war doch verhältnismäßig jung, wie alt doch? «

    »Zweiunddreißig Jahre, Herr Präsident …«

    »Zweiunddreißig, und Herzschlag …« Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf. »Wie ist denn das möglich?«

    »Herr Präsident, ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß der Prinz sehr zart veranlagt gewesen ist. Er hatte in seiner Jugend ein schweres Lungenleiden überstanden. Nach seiner Genesung setzte er aber das Leben fort, das er in sehr jungen Jahren führte.«

    »Ja, ja«, begann der Polizeipräsident wieder, »sehr hübsch, elegant, reich — es ist schwer, prüde zu sein …« — »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, setzte der Kommissär fort, »es war, wie wir erfahren haben, keine gewöhnliche Affaire, es war eine große Liebe …«

    Baron Kraus, der Polizeipräsident, streicht mit seiner Linken durch den angegrauten Bart, den er nach der Fasson Franz Josephs trägt, und sagt nachdenklich, jedes Wort betonend: »Eine große Liebe.« Und dann, mit einem leichten Nicken des Kopfes: »Peinlich, sehr peinlich … Es tut mir um d’Adorno leid. Hat die Kabinettskanzlei einen Bericht verlangt?«

    »Nein, Herr Präsident.«

    »Es ist besser, Majestät mit solchen Affairen zu verschonen … Und die Dame?«

    Der Oberkommissär, der neben dem Tisch des Präsidenten sitzt, rückt seinen Stuhl unwillkürlich näher, wie als ob er, obzwar kein Dritter im Zimmer ist, leiser sprechen müßte: »Ich habe, wenn ich es so sagen darf, in meiner langen Polizeipraxis keine Situation erlebt, die schwieriger gewesen ist …«

    Der Präsident neigt sich dem Sprechenden zu.

    »Die Dame, Herr Präsident sind unterrichtet, war fassungslos. Wir hatten den Eindruck, daß sie ihrer Sinne nicht mächtig sei. Sie verlangte Gift, wollte aus dem Fenster springen, Dann kniete sie vor dem Toten und umarmte ihn. Ich habe solche Szenen noch nie gesehen. Herr von Andrisal, Herr Präsident wissen, der junge, uns zugeteilte Konzipist, er war selbstverständlich in Zivil, übernahm die schwierige Aufgabe, der Dame beizustehen …«

    »Ja, was soll geschehen, wie kann man das ordnen?«

    »Die Dame hat gewünscht, nach Baden begleitet zu werden … Eine Freundin hat dort eine Villa.«

    »Natürlich, an eine Heimkehr war nicht zu denken. Und der Tote?«

    »Herr Präsident, wir hätten gewünscht, daß die Amtshandlung im Hause erledigt werde, es war des Prinzen Haus, sein quartier discret. Die Vorschriften ließen es jedoch nicht zu, man mußte die Leiche den Gerichtsmedizinern überlassen.«

    Die Bedenken des Präsidenten sind nicht verscheucht. Er stellt noch einige Fragen an den Kommissär. »Wird die Affaire ein Nachspiel haben? Ich meine, ist die Todesursache so evident, daß dem Gericht weitere Nachforschungen erspart bleiben können?«

    »Die Leiche«, sagt der Kommissär, »ist bereits heute morgen obduziert worden. Der Befund des Professors Kundrat muß jeden Augenblick kommen. Wir sind jedoch schon verständigt worden, daß das Ergebnis der Obduktion die erste Wahrnehmung bestätigt.«

    »Und die Dienerschaft«, forscht der Präsident weiter, »ist sie einvernommen worden? Wird sie schweigen?«

    Der Kommissär kann den Präsidenten auch darüber beruhigen. »Es war nur das Hausmeisterpaar im Dienst. Der Prinz hatte schwarzen Kaffee bestellt und eine Flasche Champagner einkühlen lassen. Es war reiner Wein aus den Vorräten des Hauses, Heidsick Monopol. Nach der Bestellung hatte der Prinz gebeten, nicht gestört zu werden. Mehr wußten die Hausmeisterleute nicht zu sagen. Die Dame war ihnen von früheren Besuchen her bekannt.«

    Der Präsident hat noch eine Sorge. »Haben Sie auch an die Presse gedacht? Sie wissen, wie schrecklich die Neugierde dieser Leute ist, die alles hinterherum erfahren. Der Benedikt hat mich anrufen lassen …«

    »Wir sind«, antwortet der Kommissär, »wie vorauszusehen war, noch gestern nacht von der Presse mit Anfragen bestürmt worden. Die großen Blätter haben jedoch eingesehen, daß es unmöglich wäre, den Schleier zu lüften. Übrigens, die sonst geschicktesten Herren tappten diesmal im Dunkel. Ich glaube, man wird sich damit begnügen, die Todesnachricht zu bringen.«

    »Und noch eine Frage«, so beschließt der Präsident das Gespräch, »wie hat mein armer Freund d’Adorno die Nachricht aufgenommen?«

    »Mit diesem heikelsten Teil der Aufgabe«, spricht der Kommissär, »war Bartolossy betraut worden. Er ist, Herr Präsident wissen es, ein Meister darin, Unangenehmes, ja das Schrecklichste in der zartesten Art mitzuteilen. Er selber eilte sofort ins Ministerium und bat d’Adorno, den er kennt, um eine Unterredung. Beide fuhren gemeinsam vom Judenplatz nach dem Prater. Ich bin, sagte Bartolossy nach der Rückkehr, während dieser Mission um fünf Jahre älter geworden, der Präsident wird mir einen Urlaub gewähren müssen.«

    Der Präsident lächelt leise. »Auf Bartolossy kann man sich verlassen, er wird mir ja berichten. Ich danke Ihnen.«

    Damit war die Unterredung beendet.

    Die zwei Kinder waren jetzt ganz auf sich angewiesen, aber Max hielt sich zurück, mit der Schwester von Mama zu reden. Auch die Bemerkungen Annas, des Mädchens, das die Stellung eines Hausfräuleins versah, ließ Max unbeantwortet. Er selber wußte nicht, was sich ereignet hatte, er ahnte nur, daß über sein Elternhaus eine Katastrophe hereingebrochen war, die mit Mama zusammenhing. Wenn er daran dachte, wie es um diese Jahreszeit früher gewesen war, empfand Max einen so heftigen Schmerz, daß er hätte weinen mögen.

    Die Familie bewohnte ein älteres villenartiges Haus in jenem Wiener Bezirk, der sich von den Hängen des Kahlenbergs zur Donau hinzieht. Ein Teil dieser Gegend hat ein ländliches Gepräge, dazwischen aber liegen kleine Schlößchen mit weiten Parkanlagen. Dem Hause d’Adorno in der Armbruster-Gasse sah man von außen die Räume und die vornehme Behaglichkeit nicht an, die es barg. Es war an einen Hügelrücken angelehnt, so daß man aus den Zimmern des ersten Stocks in den Garten treten konnte. Dieser Garten, der von Waldbäumen umsäumt und in der Mitte parkartig gestaltet war, so daß ein weiter Raum für Zierpflanzen, Rosenstöcke, Hyazinthen und Fliederbüsche blieb, war der Lieblingsaufenthalt der Kinder. Die Mutter hatte die Gewohnheit, früh aufzustehen, mit den Kindern zu frühstücken und sie zur Schule zu schicken. Vom Mai bis zum Herbst blieb es bei diesem Zusammensein am Morgen. Mittags fuhr Frau d’Adorno nach der Stadt und kam meist spät nachmittags zurück.

    Auch wenn die Kinder allein waren, dem Fräulein anvertraut, oder mit Mademoiselle Cornet, der Französin, Aufgaben machten und lasen, so empfanden sie doch die Gegenwart der Mutter, die sich dem ganzen Hause, den Zimmern und dem Garten mitteilte. Max hatte eine Zärtlichkeit für seine Mutter, die ihn schamhaft machte, er küßte ihr die Hand, aber er hätte nicht gewagt, sie aus eigenem Antrieb zu umarmen; er wartete, bis sie seinen Kopf in die Hände nahm und ihm einen Kuß auf die Lippen drückte. Er übertrug seine Zärtlichkeit auf alles, was zur Mutter gehörte. Auf dem großen Bilde im Salon entdeckte Max noch ein Detail, das er bisher nicht bemerkt hatte, waren die Augen blau oder grau, wechselten sie nicht ihre Farbe, hatte der Maler richtig gesehen? Die Photographien aus den Mädchenjahren Mamas ließen sie viel heiterer erscheinen, als sie zu Hause war. Da gab es ein Gruppenbild mit Freundinnen und jungen Offizieren voll Ausgelassenheit und Lachen. Zu Hause hat Mama nie gelacht. Max bemerkte, als er durch die Zimmer ging, daß Gegenstände, die der Mutter gehörten, entfernt worden waren; Photographien, die Sächelchen vom Spiegeltisch im Boudoir, Puderdosen, Kämme und Parfums. Er beschloß, ein kleines Versteck anzulegen, wo er Erinnerungen, die ihm teuer waren, aufbewahren wollte, und zwar wählte er eine Schublade seines Kleiderschranks dazu. Dorthin legte er die Photographien, die er von Mama besaß, und deckte sie mit seinen Taschentüchern und Handschuhen zu. Die Bilder allein genügten ihm nicht, er suchte nach Gegenständen, die körperlicher waren als Bilder und die das Geheimnis besaßen, die Nähe der Mutter vorzutäuschen. Zu seiner freudigen Überraschung entdeckte er, daß der Schlüssel in dem großen Schrank steckte, der Mamas Wäsche und Morgenkleider enthielt. Max öffnete den Schrank und sog den zarten Duft ein, der den Kleidungsstücken und der Wäsche entströmte. In einem Fach des Kastens lagen Mamas Schals, sorgfältig gefaltet und aufeinander gereiht, dann die zarten kleinen Taschentücher und eine Menge seidener Strümpfe. Max griff nach dem Lieblingsschal Mamas, einem langen hauchdünnen Gewebe orientalischen Ursprungs, das sich wie eine Wolke um den Hals legte. Diesen Schal nahm er an sich, dann ein paar der schwarzen seidenen Strümpfe, lange weiße Handschuhe und ein Fläschchen, das einen Rest des Parfums enthielt. In einem niedrigen polierten Schrank standen dicht nebeneinander Mamas Schuhe; viele Halbschuhe aus schwarzem Lack, mit schlanken, kühn geschwungenen Absätzen, Schuhe aus rauhem Leder und jene hohen, mit vielen Knöpfen versehenen Damenstiefel, die man nur mit Hilfe des Kammermädchens anziehen konnte. Max hätte gern auch ein Paar Schuhe an sich genommen, am liebsten eines jener Exemplare, die Mama zum Abendkleid trug, wenn sie in die Oper ging; ein Paar aus tiefblauem Brokat mit Goldverzierung, innen mit weißem Glacéleder gefüttert, fiel ihm besonders in die Augen. Er fürchtete aber, die Schuhe nicht verbergen zu können. So schloß er den Kasten wieder, von dem Schuhwerk Mamas Abschied nehmend.

    Die kleine Ecke in seiner Schublade, wo er die Photographien, den Schal, Handschuhe und Parfum versteckte, war das Geheimnis Maxens, das ihn mit der Mutter verband. Es zwang ihn, an sie zu denken, sie täglich vor sich zu sehen, zugleich aber sonderte es ihn von den anderen ab, Der Vater war noch wortkarger geworden, und die Schwester, harmloser und jünger als Max, schien sich keine Gedanken zu machen. Oder hatte auch sie ein Geheimnis, das sie nicht preisgab? Max verlor das Verlangen, seine Schulfreunde, wie ehedem, bei sich zu sehen oder sie zu besuchen. Am liebsten saß er im Garten und dachte nach. Es waren eigentlich Versuche, sich Klarheit zu verschaffen, die über bestimmte Grenzen nicht hinauskamen. Das jugendliche Denken hatte keine Gewalt über die vorgestellten Bilder, sie kamen, wenn man sie rief, folgten eine Weile dem Willen, verloren sich aber dann, als ob sie selbstherrlich wären, und entzogen sich dem Spiel der Einbildungskraft.

    Die Sehnsucht nach Einsamkeit wurde durch Beobachtungen genährt, die Max in der Schule machte. Es entging ihm nicht, daß einige seiner Mitschüler, die zu dem engeren Freundeskreis gehörten, ihr Benehmen geändert hatten. Während früher eine kameradschaftliche Vertrautheit geherrscht hatte, die keine Heimlichkeiten kannte, geschah es jetzt, daß ein Gespräch seines Kreises, sobald er hinzutrat, verstummte und er, statt unbefangen begrüßt zu werden, von verlegenen Gesichtern angestarrt wurde. Er selber hatte Mühe, nicht merken zu lassen, daß er alles bemerkte. Am meisten fürchtete er, sich durch ein plötzliches Rotwerden zu verraten. Der Gedanke war peinigend, zu wissen, daß die Kameraden hinter seinem Rücken von Dingen sprachen, die ihn betrafen. Er sah kein Mittel, etwas dagegen zu tun. Sollte er sich jemandem anvertrauen und um Rat und Hilfe bitten? Den Einfall, mit dem Vater zu sprechen, wies er sogleich wieder ab. Auch manche der Lehrer hatten sich, so schien es ihm, verändert. Früher waren sie ihm mit einer Zuvorkommenheit begegnet, die oft peinlich war, weil er die Empfindung hatte, daß diese Artigkeit der Stellung seines Vaters gelte, jetzt vermißte er diese Höflichkeit, er wurde dünnhäutig und spürte jede Regung besonders heftig, hinter der er ein moralisches Urteil vermutete. Umso wohltuender war die Zartheit, mit der sich Max vorn Lateinprofessor, einem Piaristenpriester, behandelt fühlte. Einmal kam es zu einem Zusammenstoß. Vor Max saß in der Schulbank der Repetent Dworschak. Sein Vater war Beamter, daher war der Sohn vom Schulgeld befreit. Da er jedoch schlechte Fortgangsnoten erhielt, warf er sich stets drei Wochen vor der Zeugnisverteilung, zur peinlichen Überraschung seiner Klassenkollegen, heulend vor dem Ordinarius auf die Knie und bat, sein Nichtgenügend in Latein in Genügend zu verwandeln. Max war auf irgendeine Art von dem Vordermann hypnotisch gebannt, wie man zuweilen als Zuschauer im Theater gerade von einem aufdringlich unbegabten Darsteller nicht wegsehen kann, und wie sich die Augen immer wieder in einer genußvollen Marter zu ihm hinverlieren, so wurde Max unablässig vom Hinterschädel Dworschaks beunruhigt. Es war ein nach oben ausgebeulter Spitzkopf, aus dem, zugleich demutsvoll und erschreckt, ein gemeines Wesen herauszuleuchten schien. Max spießte sein Taschenmesser auf die tintenbeschmierte Schulbank und hatte oft die

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