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Die Bombe als Option: Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963
Die Bombe als Option: Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963
Die Bombe als Option: Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963
eBook494 Seiten5 Stunden

Die Bombe als Option: Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963

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Über dieses E-Book

Welche Akteure forcierten in der Bundesrepublik zur Adenauerzeit den Einstieg in die Atomkraftnutzung? Welche Motive standen hinter ihren Bemühungen? Und inwiefern zeitigen die damaligen Vorgänge auch heute noch Auswirkungen?
Der Technikhistoriker Tilmann Hanel geht diesen Fragen gestützt auf eine breite Quellenbasis nach und zeigt auf, dass der von einzelnen Regierungsmitgliedern getragene Wunsch nach westdeutschen Atomwaffen nicht folgenlos blieb, sondern sich in der Errichtung von Anlagen manifestierte, die speziell auf die Herstellung von waffenfähigem Plutonium ausgerichtet waren. Zwar verfolgten Politik, Wissenschaft und Industrie unterschiedliche Interessen; gemeinsam bewirkten sie dennoch die Durchsetzung einer für den zivilen Gebrauch zu gefahrenträchtigen Technik.
SpracheDeutsch
HerausgeberKlartext Verlag
Erscheinungsdatum26. Feb. 2015
ISBN9783837514209
Die Bombe als Option: Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963

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    Buchvorschau

    Die Bombe als Option - Tilmann Hanel

    gedankt.

    1.Einleitung

    1.1Einführung in die Themen- und Fragestellung

    Bei allen derzeit in Deutschland noch zur Stromerzeugung genutzten Atomreaktoren¹ handelt es sich – ebenso wie beim überwiegenden Anteil der Anlagen weltweit, darunter auch der jüngste Unglücksreaktor in Fukushima – um sogenannte Leichtwasserreaktoren. Die Hauptlinie dieses Typs² stellt dabei die direkte Weiterentwicklung eines atomaren U-Boot-Antriebs der US-amerikanischen Marine dar, der erstmals in dem mit seiner Polarunterquerung bekannt gewordenen Unterseeboot USS Nautilus eingesetzt wurde. Als Prototyp der heutigen Kernkraftwerke kann die 1957 in Betrieb genommene Anlage in Shippingport, Pennsylvania, gelten. Sie basierte in wesentlichen Teilen ihrer Technik auf vergrößerten Varianten von Komponenten des Reaktors auf der Nautilus.³

    Dass die Nutzbarmachung der bei der Atomkernspaltung entstehenden Energie schon früh vor allem unter militärischen Aspekten erforscht wurde, ist allgemein bekannt. Weniger im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert hingegen ist die Tatsache, dass auch die zur Stromerzeugung verwendeten Atomanlagen technisch nie eine wirkliche Abgrenzung zum militärischen Verwendungsbereich erfuhren. Welche Konsequenzen sind aus der Kenntnis um diese Nähe abzuleiten für eine Beurteilung der bundesdeutschen Kerntechnik? Deren Entwicklung stand, nachdem die deutsche Atomforschung im Zweiten Weltkrieg an der Bereitstellung einer kriegsentscheidenden Waffe gescheitert war, von Anfang an unter der Prämisse, militärischen Interessen nicht dienen zu dürfen. Dies zumindest war der Eindruck, den überzeugender noch als die Protagonisten der Anfangszeit die späteren Wortführer der Atomtechniknutzung in der Öffentlichkeit zu verbreiten suchten.

    Die vorliegende Arbeit widmet sich den Aufbaujahren der kerntechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik. Der zeitliche Rahmen reicht dabei von 1954, als die verschiedenen Akteursgruppen in Erwartung der bevorstehenden bundesdeutschen Souveränität ihre Vorbereitungen konkretisierten und seitens der Wirtschaft erste organisatorische Strukturen geschaffen wurden, bis 1963, als nicht nur Konrad Adenauers Kanzlerschaft endete, sondern auch das Beharren auf einem eigenen und von den USA unabhängigen Reaktortyp aufgegeben wurde. Dieser Typ, der sogenannte Schwerwasserreaktor, war anders als der US-amerikanische Leichtwasserreaktor kein ehemaliger U-Boot-Antrieb, sondern stand in der Tradition der deutschen Forschungen während des Krieges und war in den 1950er Jahren weitgehend von denselben Forschern weiterentwickelt worden. Er fand Verwendung in drei Anlagen: zweifach im Kernforschungszentrum Karlsruhe und einmal im Kernkraftwerk Niederaichbach.

    Die Analyse der Entstehungsgeschichte dieser Anlagen macht einen wichtigen Teil der vorliegenden Arbeit aus. Sie soll dazu dienen, die Ungereimtheiten aufzuzeigen, die sich aus der Deklaration der bundesdeutschen Kerntechniknutzung als per se „friedlich einerseits und der in höchstem Maße subventionierten Forschung an potenziell militärisch verwendbaren Großanlagen andererseits ergeben. Dass die der Atomkraft von ihren Befürwortern stets zugeschriebene Eigenschaft als zumindest potenziell billigste Energiequelle dabei niemals Realität war, offenbarte sich nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Im Gefolge des Schocks über die Anfälligkeit auch westlicher Anlagen wurde selbst im atomkraftnahen Lager manche Aussage getätigt, die nicht mehr der früher geltenden Diktion entsprach. „Wenn man die Kernenergie allein an den Geboten der Marktwirtschaft messen wollte, so der damalige FDP-Generalsekretär Christian Lindner im April 2011, „hätte es sie nie geben können."

    Doch welche Motive standen dann hinter der Atomkraftnutzung in der Bundesrepublik? Die hier vorgenommene Untersuchung widmet sich den Interessen maßgeblicher Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär. Vorrangig wird erörtert, inwiefern der öffentlich von allen Beteiligten gelobte und schließlich auch geübte Verzicht auf die Herstellung bundesdeutscher Kernwaffen tatsächlich beabsichtigt war. Dienten die Verzichtserklärungen möglicherweise dazu, die Ziele der Protagonisten zu verhüllen, um in Ruhe eine Option auf die Produktion nationaler Kernwaffen schaffen zu können? Im Zentrum der Arbeit stehen dabei Vorgänge rund um die Errichtung der ersten beiden Schwerwasserreaktoren im Kernforschungszentrum Karlsruhe. Es soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Wahl der zu verwendenden Reaktortechnologie deutlich stärker als bisher angenommen von der Frage beeinflusst wurde, welcher Typ die größere Menge an waffenfähigem Plutonium zu produzieren in der Lage sei. Tatsächlich legt insbesondere die Analyse der technologischen Entscheidungen den Schluss nahe, dass der in Tradition zu den deutschen Kriegsforschungen stehende Schwerwasser-Natururanreaktor von der Regierungspolitik vorrangig gefördert wurde, um die Voraussetzungen für eine bundesdeutsche Atombombenproduktion zu schaffen.

    In diesem Zusammenhang ebenso wie in Verbindung mit den Forschungen im Zweiten Weltkrieg ist die Rolle der beteiligten bundesdeutschen Kernforscher zu betrachten. Inwieweit konnten diese – die nach außen hin schon vor der „Göttinger Erklärung einen rein an zivilen Verwendungszwecken der Kerntechnik interessierten Kurs zu verfolgen vorgaben – um die militärisch-diplomatischen Ambitionen der Bundesregierung wissen? Falls ja, wie gingen sie mit ihrem Wissen um? Welche Motive bewegten die Kernforscher dazu, trotz ihrer öffentlichkeitswirksam bekundeten Ablehnung militärischer Atomforschung die Öffentlichkeit nicht über die aus der von ihnen gleichzeitig zur Nutzung empfohlenen zivilen Kerntechnik automatisch entstehenden militärischen Möglichkeiten aufzuklären? Glaubten sie aufrichtig daran, dass die Atomkraft bei ziviler Nutzung segensreich sein könnte, dass aber eine Verwirklichung dieser Vision ohne die staatliche Unterstützung für fraglich erachtet werden musste? Zugleich ist zu fragen, ob in einer solchen Haltung nicht auch partielle Kontinuitäten im Verhalten der beteiligten Wissenschaftler zu erkennen sind, die vom „Dritten Reich über die „Stunde Null" hinaus bis weit in die Geschichte der Bundesrepublik hineinreichen in Form einer bereitwilligen Anpassung an von Politik und Militär vorgegebene Anforderungen bei gleichzeitiger Legitimierung der eigenen Forschungen als unpolitisch.

    Zu überprüfen ist darüber hinaus, inwieweit das Zusammenwirken der relevanten Akteursgruppen generell in der Tradition deutscher Großforschung steht. Wie zu zeigen ist, bildeten die am Aufbau der bundesdeutschen Kerntechnikinfrastruktur Beteiligten eine nach außen weitgehend abgeschlossene Gruppe. Dieser Kreis Eingeweihter war beschränkt auf relativ wenige, jedoch an entscheidenden Stellen wirkende Mitglieder. Neben Vertretern der Politik gehörten ihm auch Wissenschaftler, Militärs und Führungskräfte der für die Kerntechnikentwicklung relevanten Großfirmen an, die das von der Politik vorgegebene Ziel einer unter strikter Geheimhaltung zu verwirklichenden atomaren Rüstung der Bundesrepublik aus teils unterschiedlichen Eigeninteressen heraus stützten. Der strukturelle Rahmen der bundesdeutschen Atomforschung im Betrachtungszeitraum kann aufgrund der engen Zusammenarbeit der partizipierenden Akteursgruppen als militärisch-industriell-wissenschaftlicher Komplex⁵ bezeichnet werden.

    Helmuth Trischler skizziert, dass im Zentrum des von Franz Josef Strauß entwickelten und der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards entgegenstehenden Konzepts einer „staatsinterventionistischen, nicht-marktwirtschaftlichen Technologie- und Industriepolitik" militärisch relevante Schlüsseltechnologien standen.⁶ Ich glaube zeigen zu können, dass die frühe bundesdeutsche Kerntechnikentwicklung – trotz allseitiger Tarnung der mit ihr verbundenen militärischen Ambitionen – ein geradezu idealtypisches Ergebnis dieser Politik darstellt und ihre Geschichte einen weiteren Beleg dafür liefert, „wie eng nationales Sicherheits- und nationales Innovationssystem in Deutschland auch nach 1945 miteinander verflochten waren.⁷ Gleichwohl verkehrt sich der von Trischler für die übrige Militärforschung festgestellte, vergleichsweise „hohe Grad an Internationalität⁸ hier ins Gegenteil. Dass dabei gerade auf dem politisch wie moralisch besonders brisanten Gebiet der Kerntechnik etliche Protagonisten eine politisch wie moralisch fragwürdige Vergangenheit aufwiesen, ist mehr als nur eine Randnotiz. Denn sie waren es, die auf Grundlage von manch struktureller Kontinuität mit ihrer Betätigung dazu beitrugen, in der Bundesrepublik die Grundlage zu schaffen für den Durchbruch der Kernkraftnutzung, wie wir sie heute kennen. War dieser Durchbruch unausweichlich? Mit der Antwort darauf wird die vorliegende Arbeit enden; den Weg dorthin konkretisieren die folgenden Teilkapitel.

    1.2Stand der Forschung

    Die bisherige Forschung zur Schnittmenge der Themenfelder „Bundesrepublik der Ära Adenauer und „Atomkraft besteht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus Werken zu den politischen Bemühungen der Bundesregierung um größeren Einfluss auf die Nuklearpolitik der westlichen Verbündeten. Wegweisend für eine ganze Anzahl Studien dieser Art waren dabei Dieter Mahnckes „Nukleare Mitwirkung"⁹ und Catherine Kellehers „Germany and the Politics of Nuclear Weapons".¹⁰ Diese wie auch neuere Arbeiten weiterer Autoren¹¹ und zuletzt der anlässlich des Jubiläums der Spiegel-Affäre verfasste Beitrag Eckart Conzes¹² folgen dabei im Wesentlichen der in Westdeutschland wie von dessen NATO-Verbündeten offiziell stets vertretenen Ansicht, die Bundesrepublik habe nach ihrem Verzicht in den Pariser Verträgen keine ernsthaften Ambitionen auf eine unabhängige Produktion eigener Atomwaffen gehegt. Eine solche Herangehensweise erklärt auch, warum sich die meisten geschichtswissenschaftlichen Studien zur Atom- und auf Atomwaffen bezogenen Außenpolitik der Bundesregierungen in den 1950er und 60er Jahren beinahe ausschließlich mit den bundesdeutschen Wünschen nach Partizipation am Atomwaffenarsenal der Verbündeten oder allenfalls mit angepassten Verteidigungsplänen als Reaktion auf veränderte Nuklearstrategien der Verbündeten beschäftigen, nicht jedoch mit dem Aufbau einer kerntechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik.

    Wolfgang Müller wiederum beschäftigt sich in seiner zweibändigen „Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland" zu Planung und Bau der bundesdeutschen Atomanlagen sehr detailliert mit den finanziellen sowie forschungs-, energie- und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, ohne dabei jedoch eine Verbindung zu den der Technik unweigerlich innewohnenden machtpolitischen Aspekten zu ziehen.¹³ Der Grund hierfür ist vermutlich nicht zuletzt im Lebenslauf Müllers, dem langjährigen Chefredakteur des Branchenblattes „Atomwirtschaft – Atomtechnik", zu suchen. Sein umfangreiches Werk kann insofern auch als Quelle für den Umgang eines ehemaligen Protagonisten mit der bundesdeutschen Atomgeschichte angesehen werden. Aufgrund des akkuraten wissenschaftlichen Apparates, der durchgehenden Verwendung auch archivalischer Quellen und der Bezugnahme auf geschichtswissenschaftliche Forschungsliteratur wird es hier dennoch selbst der Letzteren zugeordnet.

    Als Ausnahmeerscheinung sind angesichts der überwiegenden Beschäftigung der Literatur mit bündnispolitischen Aspekten und von Müllers unkritisch-deskriptivem Werk bislang die verschiedenen Arbeiten Joachim Radkaus zu bezeichnen, allen voran sein entsprechendes Hauptwerk zu „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975".¹⁴ Obwohl dieses sich vorwiegend mit den übrigen die Errichtung der bundesdeutschen Kerntechnik-Infrastruktur beeinflussenden Rahmenbedingungen auseinandersetzt, thematisiert Radkau auch die Problematik des untrennbaren Nebeneinanders von militärischer und ziviler Kernenergienutzung. Ein kurzer Abschnitt behandelt gar die möglichen Gründe für den von der Bundesregierung und führenden Industriellen forcierten Aufbau einer inländischen Plutoniumproduktion.¹⁵ Radkaus Fazit bezüglich der Zielstrebigkeit der staatlichen Aktivitäten indes fällt hier, auch gegenüber späteren Ausführungen, in denen er offener auf mögliche machtpolitische Ambitionen der politischen Akteure verweist,¹⁶ eher zurückhaltend aus.¹⁷ Im Gefolge von Radkaus Ausführungen finden sich vermehrt Einschätzungen, die den Bau eigener westdeutscher Kernwaffen zumindest als vorübergehende „distant option"¹⁸ betrachten oder, wie Marc Trachtenberg,¹⁹ gar offensiv die These von durch die Politik gefassten Plänen einer bundesdeutschen Atomrüstung vertreten.

    Radkau selbst wiederum unterließ es in der aktualisierten Neufassung seiner Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft,²⁰ die von ihm zwischenzeitlich offener thematisierten militärisch-diplomatischen Interessen an der Kerntechnik detaillierter zu betrachten und so mit seinem atomgeschichtlichen Hauptwerk zu verbinden. Vielmehr wurde „Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft zwar um die Co-Autorenschaft Lothar Hahns und eine chronologische Fortschreibung bis in die Gegenwart erweitert, auch begradigte Radkau die in „Aufstieg und Krise aufgrund von Breite und Tiefe der Untersuchung unübersichtliche Gliederung durch Kürzungen und strich zugleich den Anmerkungsapparat; bezüglich des hier behandelten Sujets der Verbindung von Atomwirtschaft und Außenpolitik in der Bundesrepublik unterblieb jedoch jegliche Neubewertung. Radkaus diesbezügliche Kernaussage lautet nahezu wortgleich hier wie dort: „Eine zielstrebige Steuerung der deutschen Atomentwicklung im militärischen Interesse ist nicht zu erkennen und [ist]²¹ auch wenig wahrscheinlich."²²

    Angesichts der nur geringen textlichen Veränderungen bezüglich der Geschehnisse der 1950er und 60er Jahre und der Ausrichtung auf eine breitere Leserschaft liegt der Wert der Neuausgabe im Sinne vorliegender Arbeit vor allem in der Einleitung. Dort thematisiert Radkau Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Originals ebenso wie seine Verbindungen zu manchen Angehörigen der nuklearen „Community": Er berichtet von seinem Glück, Zugang zu den ehedem noch ungereinigten Akten von Atomministerium, Atomkommission und Reaktorsicherheitskommission erlangt zu haben,²³ dem sogar „großen Glück, für sein ursprüngliches Werk „nicht juristisch belangt worden zu sein²⁴ und der Empfindung, mehr mit der Forscherbegeisterung seiner Bekannten aus der „Community" sympathisiert zu haben als mit der Wut ihrer Gegner.²⁵ All dies lässt besser verstehen, weshalb Radkau sich, trotz seiner andernorts deutlich geäußerten Kenntnis der Zusammenhänge von Atomtechnik und atomdiplomatischen Ambitionen in der Bundesrepublik, zu einer detaillierteren Erörterung der Schnittstellen nicht durchringen mochte.

    Trotz Radkaus neuerlicher atomgeschichtlicher Betätigung gilt weiterhin, dass eine umfassende Auseinandersetzung mit dem gesamten Themenkomplex von außen- und wirtschaftspolitischen Überlegungen bis zu den tatsächlich gebauten Atomanlagen bislang erstaunlicherweise unterblieben ist. Obwohl die „Dual-Use"-Ausrichtung der frühen staatlichen Atompolitik in der Göttinger Erklärung der 18 Atomwissenschaftler keine Erwähnung fand und eine mögliche machtpolitische Ausnutzung der bundesdeutschen Kerntechnik-Infrastrukturen danach nur noch selten öffentlichkeitswirksam thematisiert wurde, verwundert es dennoch, dass kein geschichtswissenschaftliches Werk die im Folgenden untersuchten bundesdeutschen Bestrebungen zur Schaffung einer nationalen Produktionsmöglichkeit für Kernwaffen zentral behandelt. Auf der Seite der Politikwissenschaft hat sich Roland Kollert der Thematik zwar unter dem hier beschriebenen Ansatz genähert, seine Forschungen blieben jedoch unvollendet und ergaben statt der ursprünglich beabsichtigen ausführlichen Auseinandersetzung ein zwar aussagekräftiges, jedoch knapp gehaltenes Arbeitspapier über mögliche Verbindungen der bundesdeutschen Verteidigungs- und Außenpolitik zu einzelnen Kerntechnikprojekten.²⁶

    Ebenso existiert zwar vom Adenauer-Biografen Hans-Peter Schwarz ein Aufsatz über „Adenauer und die Kernwaffen",²⁷ dessen Hauptaussagen sich auch im später erschienenen zweiten Band der Adenauer-Biografie des Autors finden.²⁸ Schwarz konzentriert sich allerdings ganz auf die persönliche Rolle des Kanzlers und den Umstand, dass dieser mehr über die Möglichkeiten „moderner Waffen gewusst habe, als gemeinhin angenommen werde. Eine umfassendere Analyse des Geflechts von ziviler und militärischer Kerntechnik unterbleibt dabei. Lediglich Peter Fischers Arbeit über „Atomenergie und staatliches Interesse²⁹ weist in diese Richtung; der gewählte Untersuchungszeitraum endet allerdings 1955 und damit schon kurz nach den ersten Weichenstellungen. Die Arbeit Fischers wurde als Teil des Nuclear History Program (NHP) der Stiftung Wissenschaft und Politik veröffentlicht. Die übrigen Werke dieses Programms beschäftigen sich indes vornehmlich mit der Rolle von Atomwaffen im Rahmen der internationalen Bündnispolitik und tasten die zeitgenössische bundesdeutsche Außendarstellung eines grundsätzlich nicht nach eigenproduzierten Atomwaffen strebenden Landes nicht an.³⁰ Ihnen zur Seite gesellt sich der 2013 erschienene Beitrag Stephan Geiers,³¹ der sich ebenfalls nicht näher mit der Rolle der bundesdeutschen Kerntechnik auseinandersetzt.

    Auch Michael Eckert beschäftigte sich auf bündnispolitischer Ebene mit den westdeutschen Nuklearambitionen.³² Er stellte dabei explizit die Problematik des weitgehenden Nebeneinanders ziviler und militärischer Technik fest; seine recht knappen Beiträge zum Thema bieten allerdings noch keine umfassende Analyse des gesamten Themenkomplexes zwischen Wirtschafts- und Außenpolitik sowie ziviler und potenziell militärisch nutzbarer Kerntechnik. Erwähnt werden muss zudem die politikwissenschaftliche Arbeit Matthias Küntzels, die bereits in den frühen 1990er Jahren unter dem Titel „Bonn und die Bombe publiziert wurde und den hier thematisierten Zeitraum nur kurz berührt.³³ Obgleich Küntzel sich ebenso kenntnisreich wie tabubrechend mit den atomdiplomatischen Ambitionen der verschiedenen Bundesregierungen befasste, unterließ er es, die Verbindung zwischen Atomwaffenstreben und Atomtechnik näher zu untersuchen. Michael Knoll wiederum wirft in seiner Dissertationsschrift³⁴ zwar die Frage nach möglichen Zusammenhängen auf; mit der irrigen Annahme, die – unter militärischen Gesichtspunkten entscheidende – „Konstruktion von Reaktortypen, die die Plutoniumentnahme während des laufenden Prozesses ermöglichen, sei „nicht realisierbar" gewesen,³⁵ beraubt er sein Werk in diesem Punkt aber der Urteilskraft und kommt hier folgerichtig nicht zu neuen Ergebnissen.

    Noch weniger thematisiert als die regierungsseitigen Ambitionen – die zumindest verschiedentlich Erwähnung finden – wurde in der geschichtswissenschaftlichen Literatur bislang die Rolle der chemischen Industrie. Das vehemente Engagement einiger ihrer Vertreter beim Aufbau der bundesdeutschen Kerntechnikinfrastruktur erscheint schwer erklärlich. Anhand der Biografien leitender Persönlichkeiten wie der des Vorstandsvorsitzenden der Farbwerke Hoechst, Karl Winnacker, denen aufgrund der Exklusivität des Kreises der eingeweihten Entscheidungsträger rund um die „Physikalische Studiengesellschaft" besondere Bedeutung zugemessen werden muss, soll erörtert werden, inwieweit auch nicht kommerziell orientierte Motive eine Rolle für die Partizipation am ersten deutschen Atomprogramm spielten.

    Die Rolle der Atomforscher ist schon häufig thematisiert worden, stellvertretend sei Elisabeth Kraus’ „Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung" angeführt.³⁶ Die Betrachtung richtet sich hierbei zwar auf die Verantwortung der Wissenschaftler, beantwortet jedoch nicht die sich aufdrängende Frage, weshalb Wissen um die „Dual-Use-Möglichkeit der Atomtechnik nicht an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Eine Beschäftigung mit der Motivation der Initiatoren der Göttinger Erklärung unter diesem Blickwinkel verspricht daher immer noch ertragreich zu sein. Um überhaupt in der Lage zu sein, etwaige Kontinuitäten im Verhalten der Atomforscher feststellen zu können, ist das Wissen um die Tätigkeit der betreffenden Personen zur Zeit des „Uranvereins während des Krieges unabdingbar. Dieser Bereich ist indes durch Mark Walker glänzend erforscht,³⁷ der zudem in jüngeren Veröffentlichungen³⁸ plausible Erklärungsmuster für die Rechtfertigungsversuche der Forscher in der Nachkriegszeit liefert. So enttarnt Walker die gerne geglaubte³⁹ Schutzbehauptung der Wissenschaftler, man habe Hitler keine Atomwaffen zur Verfügung stellen wollen, als doppelten Versuch, das eigene Renommee zu wahren: In Wahrheit sei man im Krieg an der Bombe gescheitert – obwohl man durchaus, wenn auch angesichts fehlender Ressourcen weitgehend chancenlos – in diese Richtung gearbeitet habe. Vor diesem Hintergrund muss wiederum die in der Göttinger Erklärung erfolgte Distanzierung vom Bau atomarer Waffen bei gleichzeitiger Befürwortung ziviler Atomkraftnutzung deutlich kritischer hinterfragt werden, als dies, trotz in diese Richtung gehender jüngster Ansätze Cathryn Carsons,⁴⁰ bislang geschehen ist.

    Dass sich am Konzentrationspunkt der hier analysierten Geschehnisse, dem Kernforschungszentrum Karlsruhe, eine überraschend große Anzahl ehemals hochrangiger Nationalsozialisten versammelte, ist keine neue Erkenntnis. Schon Robert Jungk stellte in seinem populären Werk „Der Atomstaat fest, dass die Stimmung an dem für die nuklearen Ambitionen der Adenauer-Regierungen so bedeutsamen und angesichts der Ambivalenz des Forschungsgegenstandes heiklen Zentrum von Personen geprägt werde, „die einer früher in Deutschland vorherrschenden Geisteshaltung immer noch eng verbunden seien.⁴¹ Teil der im Folgenden vorgenommenen Analyse des mit den frühen bundesdeutschen Atomplänen verbundenen Interessengeflechts soll es sein, diesen Befund zu überprüfen.

    Die Beziehungen zwischen Politik und Militär in der Bundesrepublik der 1960er Jahre wurden unter anderem bereits von Detlef Bald in seinem Werk „Politik der Verantwortung"⁴² beschrieben; Bald geht dabei davon aus, dass sich das Militär – als „Lehre" aus der Zeit der Weimarer Republik – gegenüber der Politik die im Kontakt mit den NATO-Verbündeten auszuübende Entscheidungsgewalt bezüglich des Einsatzes der in der Bundesrepublik stationierten US-Atomwaffen nach dem Zwei-Schlüssel-Prinzip gesichert habe. Dazu beigetragen habe nicht zuletzt das Engagement von Franz Josef Strauß in dessen Zeit als Verteidigungsminister. Im Folgenden sollen angesichts von Strauß’ Rolle bei der Etablierung der Nukleartechnik in der Bundesrepublik auch die Entwicklungen des Verhältnisses zwischen Militär und Politik in Bezug auf die mutmaßlich angestrebte Schaffung eines eigenen Atomwaffenarsenals untersucht werden.

    Für andere Länder sind zum hier thematisierten Problemkomplex bereits einige umfassende Arbeiten erschienen. Beispielhaft zu nennen sind dabei für Frankreich Gabrielle Hechts „The Radiance of France"⁴³ und für Schweden die Veröffentlichungen Thomas Jonters.⁴⁴ Mit diesen beiden Ländern sowie der Schweiz und Großbritannien beschäftigt sich auch Roland Kollert in seiner „Politik der latenten Proliferation.⁴⁵ Angesichts der anhaltenden Wirkungsmacht des von Eisenhower apostrophierten Begriffes vom „friedlichen Atom sind dabei insbesondere die Fälle Schwedens und der Schweiz von Interesse, da hier wie in der Bundesrepublik zum Start des als friedlich deklarierten Atomprogramms für die unauffällige Plutoniumproduktion besonders geeignete Schwerwasser-Natururanreaktoren gebaut wurden. Die Thematik behandelte für die Bundesrepublik bislang nur Kollerts knappes Arbeitspapier;⁴⁶ Anliegen der vorliegenden Studie ist es, die bestehende Forschungslücke auf die im folgenden Teilkapitel dargelegte Weise zu schließen.

    1.3Thesen und Herangehensweise

    Der hier vorzunehmenden Analyse liegt die Eingangsthese zugrunde, dass in der Bundesrepublik zur Regierungszeit Adenauers die hinter dem Einstieg in die als „friedlich" deklarierte Kernkraftnutzung stehenden Motive überwiegend außenpolitischer Natur waren. Dies zu belegen bedeutet im Umkehrschluss auch, den Nachweis zu erbringen, dass aus den bislang vorwiegend als lediglich politische Ambitionen verstandenen Kernrüstungsplänen der Regierungspolitik konkrete Maßnahmen in Gestalt des Baus speziell konzipierter Kernreaktoren erwuchsen. Mit den folgenden Ausführungen soll überprüft werden, ob dieser für andere Staaten bereits festgestellte Befund auch für die Bundesrepublik zu konstatieren ist; die seit dem westdeutschen Einstieg in die Kernkraftnutzung übliche weitgehende Tabuisierung der mit der zivilen Technik einhergehenden machtpolitischen Möglichkeiten würde damit als innen- wie außenpolitische Tarnung erkennbar.⁴⁷

    Die Untersuchung erfolgt entlang zweier Hauptfragen: Welche bundesdeutschen Akteursgruppen forcierten aus welchen Gründen die Entwicklung der Kerntechnik in der Bundesrepublik – und welche Folgen hatten ihre Bemühungen? Die im Folgenden zu verifizierende Hauptthese ist es dabei, dass der von der bundesdeutschen Regierungspolitik getragene Wunsch, eine Option auf den Bau von Atomwaffen zur erlangen, wenigstens bis zum Ende von Adenauers Kanzlerschaft die treibende Kraft hinter dem Aufbau einer nationalen Kerntechnikinfrastruktur darstellte. Vermutet wird dabei, dass mit Ausnahme der Energiewirtschaft die übrigen Akteursgruppen dieses Leitmotiv stützten, da es mit ihren eigenen Interessen korrelierte.

    So legten die Umstände des bundesdeutschen Einstiegs in die Kerntechniknutzung eine Verwendung von Schwerwasserreaktoren zur Plutoniumproduktion nahe; eine Vorgehensweise, die vor allem der Chemieindustrie mit der Produktion von Schwerwasser und der Abtrennung von Plutonium zwei lukrativ erscheinende neue Geschäftsfelder bot. Die deutschen Atomforscher wiederum hatten schon während des Krieges versucht, einen Schwerwasserreaktor zur Produktion von Plutonium in Gang zu setzen; diese auf den Bau von Atomwaffen gerichteten Bemühungen waren jedoch nicht an einer bewussten Gewissensentscheidung gescheitert.⁴⁸ Entsprechend musste ihr Streben in der Bundesrepublik darauf gerichtet sein, den entstandenen Ansehensverlust wettzumachen: Zum einen wollten sie unterstreichen, dass alle ihre Bemühung schon seit jeher rein friedlich orientiert gewesen seien, sie also – entgegen der Vorwürfe des Auslands – nicht für den Bau der Atombombe durch ihre Kollegen in den USA verantwortlich gemachten werden konnten; zum anderen, dass sie in der Lage waren, die im Krieg begonnenen Arbeiten zufriedenstellend zu beenden und einen funktionierenden Schwerwasserreaktor zu erstellen.

    Der Umstand, dass die bundesdeutsche Politik überhaupt an einer militärischen Option interessiert war, ist Teil der Hauptthese; auch er ist bislang weder im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch der Geschichtswissenschaft nachhaltig verankert. Gleichwohl wurde in der im vorangehenden Teilkapitel vorgestellten Literatur die Erkenntnis, dass der bundesdeutsche Verzicht auf Atombewaffnung weder freiwillig noch aufrichtig geäußert wurde, an manchen Stellen bereits geäußert. Abseits von Radkau⁴⁹ und Kollert⁵⁰ allerdings wird dies lediglich auf einer Ebene der politischen Ideen- und Bündnisgeschichte konstatiert; dass, wie im Folgenden zu belegen sein wird, tatsächlich Anlagen direkt auf die diplomatische Verwendung hin konzipiert wurden, die teilweise noch bis zu Beginn der 1990er Jahre in Betrieb waren, ist bislang noch nicht ausführlich untersucht worden. Radkau befasste sich zwar intensiv mit der Entstehungsgeschichte aller relevanten Anlagen, geht aber, wie beschrieben, in seinem atomgeschichtlichen Hauptwerk⁵¹ nicht von einer eindeutigen Ausrichtung auf die militärische Verwendung hin aus.

    Bei Annahme eines dem Bau der fraglichen Atomanlagen zugrundeliegenden diplomatischen Hauptzwecks jedoch verändert sich auch der Blickwinkel auf die bereits von einigen anderen Autoren festgestellten Bestrebungen der bundesdeutschen Regierungspolitik zur Beendigung der atomaren Enthaltsamkeit. Überdies könnten im Falle einer Bestätigung der hier aufgestellten These einer – soweit im Rahmen der Tarnung möglich – zielstrebigen Verfolgung der militärischen Option auch zur Entstehungsgeschichte der gesamten bundesdeutschen Kerntechniklandschaft neue Schlüsse gezogen werden. Zwar reicht der gewählte Betrachtungszeitraum im engeren Sinn nur bis 1963, die Auswirkungen der hier getroffenen Weichenstellungen jedoch sind auch über fünfzig Jahre später noch bedeutungsvoll. Denn das Ringen zweier primär nach außenpolitischer Zweckmäßigkeit ausgestalteter Reaktorkonzepte, dem bundesdeutschen Schwerwasserreaktor und dem US-amerikanischen Leichtwasserreaktor, bestimmte die Geschicke der bundesdeutschen Kerntechnik deutlich stärker als bislang angenommen. Dabei schuf, wie hier zu zeigen ist, die von den bundesdeutschen Akteuren nach außen hin stets gepflegte Darstellung der Entwicklungen als rein zivil motiviert überhaupt erst die Grundlage für die spätere großmaßstäbliche Atomkraftnutzung. In Erweiterung der eingangs des Teilkapitels eingeführten Fragestellung wird daher untersucht, welche Auswirkungen das vermutete Streben nach der Bombe auf die Entwicklung der Kerntechnik in der Bundesrepublik hatte.

    Wo liegt nun der Mehrwert der vorliegenden Arbeit im Vergleich mit der bisherigen Literatur im Einzelnen? Gegenüber Müller⁵² soll er in der Analyse von allen mit der möglichen militärischen Nutzung zusammenhängenden Aspekten bestehen. Letztere finden in Radkaus atomgeschichtlichem Hauptwerk bereits Beachtung in einem kurzen Teilkapitel.⁵³ Der Unterschied liegt hier vor allem im Fazit: Während Radkau davon ausgeht, dass die Technik lediglich militärisch vorstrukturiert war und der Leichtwasserreaktor ungeplant zum Durchbruch kam, soll im Folgenden demonstriert werden, dass die zivile Nutzung der Kernenergie auch in Bezug auf Schwer- und Leichtwasserreaktor ohne die mit ihr aufs Engste verwobenen militärisch-diplomatischen Interessen nicht denkbar gewesen wäre. Zur Analyse wurden dabei einerseits Quellen – darunter Akten des Auswärtigen Amts, des Kernforschungszentrums Karlsruhe, des Verteidigungsministeriums und der beteiligten Unternehmen – herangezogen, die Radkau noch nicht zugänglich waren; andererseits wurden die von Radkau bereits in großem Umfang verwendeten – und inzwischen durchgängig mit anderen, den Abgleich erschwerenden Signaturen versehenen – Bestände des ehemaligen Bundesministeriums für Atomfragen unter stärkerer Berücksichtigung der militärischen Aspekte vermeintlich zivil orientierter Kerntechnik neu ausgewertet.⁵⁴ Gerade auch im Vergleich zu Radkaus späterer Beschäftigung mit der Thematik⁵⁵ befasst sich die vorliegende Arbeit daher weitaus umfassender mit den eine mögliche außenpolitische Verwendbarkeit der Technik betreffenden Fragen.

    Die Unterschiede zu Kollert, der diesen Ansatz ebenfalls gewählt hat,⁵⁶ bestehen einerseits in einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit dem Aufbau der bundesdeutschen Kerntechnikinfrastruktur – ganz im Sinne von Kollerts Arbeit zu verschiedenen anderen europäischen Staaten⁵⁷ – und andererseits in der vertieften Betrachtung der diplomatischen Zusammenhänge, damit der Motive der politischen Akteure und insbesondere in Bezug auf die „Göttinger Erklärung" auch der Motive der beteiligten Atomwissenschaftler. Die vorhandene bündnispolitische Literatur⁵⁸ sowie auch Küntzel⁵⁹ wiederum thematisieren zwar teils die Ambitionen der Bundespolitik auf eine nationale Atomrüstung, unterlassen aber jegliche Beschäftigung mit der zugrundeliegenden Technik und beschreiben damit gewissermaßen einen Eisberg nur anhand der Kenntnis um dessen Spitze. Der Unterbau fehlt, und nur anhand dieses Unterbaus ist es möglich, die Zusammenhänge zwischen militärisch-diplomatischen Interessen und der Durchsetzung einer für die zivile Energiegewinnung in vielerlei Hinsicht ungeeigneten Technik fundiert zu untersuchen. Dies ist das Anliegen meiner Arbeit.

    Kapitel 2 ist dabei zunächst einer knappen Darstellung der deutschen Kriegsforschungen gewidmet, verbunden mit einer ersten Diskussion der Frage, inwieweit von diesen Arbeiten Kontinuitäten hinüberreichen in die Zeit des Aufbaus der bundesdeutschen Kerntechnikinfrastruktur. Im anschließenden Teilkapitel werden am Beispiel des Manhattan-Projekts die Zusammenhänge zwischen Atomtechnik und Atomwaffen dargestellt und die kernphysikalischen Grundlagen erläutert. Das Kapitel beschließt ein Abriss zu den für die kerntechnische Entwicklung in der Bundesrepublik maßgebenden Geschehnissen zwischen dem Ende des Krieges und der Möglichkeit zur Wiederaufnahme der Kernforschung nach Inkrafttreten der Pariser Verträge.

    Zur Einordnung der später analysierten Vorgänge in der Bundesrepublik in einen internationalen Rahmen dient das vorgelagerte Kapitel 3, das den Aufbau der Kerntechnikinfrastrukturen anderer Staaten beschreibt. Insbesondere mit den Teilkapiteln über die Forschungen in Schweden und der Schweiz wird bezweckt, die bundesdeutschen Motive über den Weg der vergleichenden Analyse zu erhellen. Der in Teilkapitel 6.1 angestellte Quervergleich ist insofern eine Fortsetzung von Kapitel 3, als er die Ergebnisse der Kerntechnikentwicklung in den dort betrachteten Staaten mit den in Kapitel 5 dargestellten Arbeiten in der Bundesrepublik vergleicht. Das vorliegende Werk folgt in diesem Punkt einer schon von Kollert verfolgten, jedoch nur betreffs der Darstellung der Entwicklungen außerhalb der Bundesrepublik vollständig verwirklichten Idee.⁶⁰ War ein hinter dem Aufbau vorgeblich ziviler Kerntechnikinfrastrukturen verborgenes Streben von Regierungen nach nationaler Verfügungsgewalt über unabhängige Nukleararsenale ein Wesensmerkmal der Zeit vor dem Atomwaffensperrvertrag?

    Kapitel 4 beleuchtet die spezifischen Motive der verschiedenen bundesdeutschen Akteursgruppen und zeichnet zudem die Rollen einzelner Protagonisten nach, um so die Betrachtung der Gruppen als monolithische Entitäten aufzulockern und damit eine differenziertere Sichtweise auf die von ihnen forcierten Entscheidungen zu ermöglichen.⁶¹ Teilkapitel 4.4 nimmt eine Sonderstellung ein, da eine direkte Beteiligung der dort behandelten militärischen Akteure an der bundesdeutschen Atomplanung aus den verwendeten Quellen nicht hervorgeht. Hegte die Bundeswehrführung also gar kein Interesse an einer nationalen Verfügungsgewalt über Atomwaffen – oder sind ihre Angehörigen eher als „graue Eminenzen im Hintergrund zu betrachten? Zur Beantwortung dieser Frage sollen die strategischen Planungen der Bundeswehrführung untersucht werden. Außerdem soll erörtert werden, inwieweit sich die Entscheidungen der politischen Akteure und die Planung des Militärs gegenseitig beeinflussten. Die Betrachtung der „Politik selbst – Teilkapitel 4.1 – beschränkt sich wiederum auf die Analyse der regierungspolitischen Akteure, da die Oppositionspolitik nur insofern Relevanz für die gewählte Fragestellung besitzt, als sie die vermeintliche Notwendigkeit einer schnellstmöglichen zivilen Kernkraftnutzung in der Bundesrepublik im Betrachtungszeitraum nie in Frage stellte.

    Das umfangreichste Kapitel 5 dient sowohl der Darstellung als auch der Analyse des Aufbaus der kerntechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik. Es ist chronologisch gegliedert, wobei die ersten beiden, bis 1961 reichenden Teilkapitel den Schwerpunkt ausmachen und daher jeweils drei weitere Unterkapitel aufweisen, die im Fall von 5.2 angesichts der Parallelität wichtiger Entwicklungen primär nach Thematik angeordnet wurden. Im Mittelpunkt stehen dabei Planung und Bau der in besonderem Maße mit den Interessen der verschiedenen Akteursgruppen verbundenen Anlagen mit Schwerwasserreaktor. Teilkapitel 5.3 reicht bis zum Ende des Hauptbetrachtungszeitraums der vorliegenden Untersuchung und erörtert Eckpunkte eines Prioritätenwandels, der schließlich zu der unter 5.4 bearbeiteten Abkehr vom Schwerwasserreaktor als Hauptlinie der bundesdeutschen Kerntechnikentwicklung führte.

    Kapitel 6 ist schließlich den Ergebnissen und Folgen der bundesdeutschen Atompolitik bis 1963 gewidmet. Dem bereits vorgestellten Vergleich mit dem Ausland folgt unter 6.2 eine Analyse der außenpolitischen Ergebnisse. Im Gegensatz zur Literatur, die ihre Schlüsse zur bundesdeutschen Atomwaffenpolitik – meist im Sinne des Versuchs einer Beteiligung an zur Diskussion stehenden multilateralen Arsenalen – ohne Verbindung zum Bau konkreter Anlagen zieht oder, wie bei Radkau,⁶² diese Anlagen nicht mit außenpolitischen Resultaten in Bezug bringt, wird hier der Zusammenhang zwischen Kerntechnik und Außenpolitik der Bundesrepublik erstmals fundiert untersucht. Teilkapitel 6.3 beschäftigt sich mit den Bestrebungen der Protagonisten zur Tarnung der mit dem bundesdeutschen Atomprogramm verbundenen Interessen und den Grenzen dieser Tarnung, wobei insbesondere auch die Sicht der DDR auf die Arbeiten im Westen thematisiert wird. Teilkapitel 6.4 ist wiederum den Folgen der anfänglichen Bevorzugung des Schwerwasserreaktors gewidmet und legt gewissermaßen die argumentative Grundlage für die im anschließenden Fazit nochmals diskutierte Schlussfolgerung, wonach erst die den Interessen der verschiedenen Akteursgruppen dienende Festlegung auf den Schwerwasserreaktor dem Durchbruch des Leichtwasserreaktors und damit der gesamten heutigen Kernkraftwerkslandschaft den Boden bereitete.

    1.4Quellenlage

    Hinsichtlich der Quellenlage bestand die wesentliche Herausforderung darin, die Bedeutung des militärischen Aspekts der Kerntechnik zu analysieren, obwohl die überwiegende Mehrzahl der zur Verfügung stehenden Dokumente – zumindest auf den ersten Blick – nur die zivilen Zwecke thematisiert. Hierin ist vermutlich auch der Grund dafür zu sehen, dass die Literatur sich in Bezug auf die Bundesrepublik bislang nicht umfangreicher mit dem Zusammenhang zwischen „friedlicher" Kerntechnik und Außenpolitik befasst hat. Doch belegt die geringe Zahl offensichtlicher Indizien automatisch die Nichtexistenz militärischer Interessen? Bei der Auswertung des verwendeten Quellenmaterials wurde angesichts der weitreichenden Dual-Use-Fähigkeiten der Atomtechnik auch in scheinbar unverfänglicher Korrespondenz und vorgeblich rein zivilen Aufstellungen nach indirekten Hinweisen auf mögliche machtpolitische Motive hinter der frühen bundesdeutschen Kerntechnikentwicklung gesucht; eine vorangegangene Beschäftigung mit für den Reaktorbetrieb grundlegenden kernphysikalischen Vorgängen erwies sich dabei als Schlüssel zu manch neuer Erkenntnis.

    Von besonderer Bedeutung waren für vorliegende Arbeit die Akten des inzwischen als Teil des Karlsruher Instituts für Technologie firmierenden ehemaligen Kernforschungszentrums Karlsruhe; sie wurden bereits zu Beginn der 1980er Jahre an das örtliche Generallandesarchiv (GLA) abgegeben und sind dort ohne nennenswerte Einschränkungen zugänglich und frei recherchierbar.⁶³ Es lässt sich allerdings nicht mehr vollständig nachprüfen, ob angelegentlich dieses Umzugs Akten ausgesondert wurden. Ähnliches gilt für die im Koblenzer Bundesarchiv lagernden Bestände des ehemaligen Bundesministeriums für Atomfragen,⁶⁴ des Bundeskanzleramts⁶⁵ sowie des Wirtschafts- und des Finanzministeriums.⁶⁶ Problematischer stellte sich die Ausgangslage bei nach wie vor geheim gehaltenen Akten aus den Beständen des Bundesministeriums

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