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Der Wildnis entkommen: Die Geschichten meiner Vorbilder - wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde
Der Wildnis entkommen: Die Geschichten meiner Vorbilder - wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde
Der Wildnis entkommen: Die Geschichten meiner Vorbilder - wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde
eBook484 Seiten6 Stunden

Der Wildnis entkommen: Die Geschichten meiner Vorbilder - wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde

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Über dieses E-Book

SPIEGEL-Bestsellerautor Bear Grylls erzählt ¬Geschichten von Heldenmut und Überleben. Er berichtet von Spionen und Soldaten, von Entdeckern und Abenteurern. Von einem abgeschossenen Bomberpiloten, der sich von hungrigen Haifischen ernährte, von einem Navy SEAL, der sich schwer verwundet durch die Berge Afghanistans schleppte, oder vom Opfer eines Flugzeugabsturzes, das nur überleben konnte, weil es zum Kannibalen wurde. Überleben ist nicht immer schön. Die Menschen in diesem Buch haben alle eines gemeinsam: Sie sind echte Helden.
SpracheDeutsch
HerausgeberPlassen Verlag
Erscheinungsdatum2. Juni 2014
ISBN9783864701863
Der Wildnis entkommen: Die Geschichten meiner Vorbilder - wahre, spannende und tragische Begebenheiten an den entlegensten Orten der Erde

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    Buchvorschau

    Der Wildnis entkommen - Bear Grylls

    NANDO PARRADO: DER GESCHMACK VON MENSCHENFLEISCH

    „Es war keine Heldentat und auch kein Abenteuer. Es war die Hölle."

    — NANDO PARRADO —

    Für den 22-jährigen Nando Parrado sollte es eigentlich nur ein schöner Familienausflug werden.

    Er spielte in einer uruguayischen Rugby-Mannschaft, die einen Flug nach Santiago in Chile gechartert hatte, um dort ein Freundschaftsspiel auszutragen. Er hatte seine Mutter Eugenia und seine Schwester Susy gefragt, ob sie nicht Lust hätten, ihn auf dieser Reise zu begleiten – eine Reise, bei der sie an Bord einer zweimotorigen Turboprop-Maschine über die Anden fliegen würden.

    Flug 571 startete am Freitag, dem 13. Oktober 1972, und einige der Jungs machten noch Witze darüber, dass dies wohl nicht gerade der beste Tag wäre, um sich auf einen Flug über eine Gebirgskette zu begeben, auf dem Piloten mit schwierigen und gefährlichen Wetterbedingungen rechnen mussten. Denn warme Luft steigt vom Fuß der Berge auf und trifft an der Schneefallgrenze auf kalte Luftmassen. Die dadurch entstehenden Fallwinde stellen für Flugzeuge eine sehr ernste Gefahr dar.

    Doch die Jungs dachten sich nichts weiter dabei. Sie rissen eben ihre Witze, denn der Wetterbericht war gut.

    Allerdings kann das Wetter in den Bergen für gewöhnlich sehr schnell umschlagen. Insbesondere in dieser Gebirgsregion. Das Flugzeug war bereits einige Stunden in der Luft, als der Pilot sich gezwungen sah, aufgrund schlechter Wetterverhältnisse in der Stadt Mendoza, am Fuß der Anden, einen Zwischenstopp einzulegen und zu übernachten.

    Am nächsten Morgen hatten die beiden Piloten erhebliche Zweifel, ob sie den Flug überhaupt fortsetzen sollten. Doch da die Passagiere ihr Rugby-Spiel nicht verpassen wollten, drängten sie die Piloten schließlich dazu, weiterzufliegen.

    Eine unkluge Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte.

    Denn als die Turboprop-Maschine den Planchon-Pass überflog, wurde sie von starken Turbulenzen erfasst. Von vier heftigen Fallböen. Ein paar der Jungs grölten vor Begeisterung, als wären sie auf der Achterbahn. Aber Nandos Mutter und seiner Schwester stand die Angst ins Gesicht geschrieben und sie hielten sich an den Händen. Nando öffnete den Mund, um sie zu beruhigen und ihnen Mut zusprechen.

    Doch dann blieben ihm die Worte im Hals stecken, weil die Maschine plötzlich mehr als 100 Meter absackte.

    Jetzt grölte keiner mehr.

    Die Maschine wurde brutal hin und her gerüttelt. Einige der Passagiere fingen an zu schreien. Nandos Sitznachbar – er hatte einen Fensterplatz – zeigte nach draußen. Kaum mehr als zehn Meter von der Flügelspitze entfernt konnte Nando die Bergflanke erkennen – eine gewaltige Wand aus Fels und Schnee.

    Als sein Nachbar ihn fragte, ob das Flugzeug denn nicht viel zu dicht an den Bergen wäre, zitterte seine Stimme vor Angst.

    Nando antwortete nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, auf das schreckliche Kreischen der Motoren zu hören, während die Piloten verzweifelt versuchten, wieder an Höhe zu gewinnen. Das ganze Flugzeug wurde so heftig durchgeschüttelt, dass man das Gefühl hatte, es würde jeden Augenblick auseinanderbrechen.

    Nando blickte in die angsterfüllten Augen seiner Mutter und Schwester.

    Und dann passierte es.

    Es gab einen fürchterlichen Aufprall, gefolgt von einem unerträglich schrillen Knirschen – so ein hartes, mahlendes Geräusch, wenn Metall über Stein schrammt. Die Maschine war in die Bergflanke gekracht und wurde in Stücke gerissen.

    Nando schaute nach oben. Doch er konnte über sich das Kabinendach nicht mehr sehen. Stattdessen blickte er geradewegs in den Himmel. Er spürte die eiskalte Luft in seinem Gesicht und sah im Mittelgang nur noch Wolken.

    Es blieb keine Zeit zum Beten. Noch nicht einmal Zeit zum Denken. Umgeben von einem markerschütternden, ohrenbetäubenden Getöse, spürte er nur noch, wie er von einer unglaublichen Kraft aus seinem Sitz herausgerissen wurde.

    Nando Parrado muss überzeugt gewesen sein, dass er im Begriff war, einen entsetzlich grauenvollen und schmerzhaften Tod zu sterben.

    Dann fiel er in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

    Nach dem Absturz war Nando drei Tage lang bewusstlos. So bekam er nicht mit, wie schlimm die Verletzungen waren, die einige seiner Kameraden erlitten hatten.

    Einem seiner Kameraden ragte ein Stahlrohr mitten aus dem Bauch und als ein Freund versuchte, es herauszuziehen, quoll ein blutiges Stück Darm aus der Wunde.

    Bei einem anderen war die Rückseite des Unterschenkels aufgeschlitzt, der Schienbeinknochen lag frei und der Wadenmuskel war abgerissen und baumelte nun lose um das Schienbein. Aber bevor ein Freund das Bein seines Kameraden bandagieren konnte, musste er zuerst den Wadenmuskel wieder an die richtige Stelle drücken.

    Eine Frau steckte in einem Gewirr aus zusammengeschobenen Sitzen fest und wurde langsam zerquetscht, weil diese so stark ineinander verkeilt waren, dass niemand sie befreien konnte. Ihre Beine waren gebrochen und sie schrie laut vor Schmerzen. Aber es gab nichts, was die Kameraden hätten tun können, um ihr zu helfen; sie waren gezwungen, sie ihrem Schicksal zu überlassen.

    Nandos Kopf war auf die Größe eines Basketballs angeschwollen. Er atmete zwar noch, aber keiner seiner Kameraden rechnete damit, dass er überleben würde. Doch allen Erwartungen zum Trotz wachte er nach drei Tagen aus tiefer Bewusstlosigkeit wieder auf.

    Er lag auf dem Boden des zertrümmerten Flugzeugrumpfs, wo sich alle Überlebenden zusammengekauert hatten. Die Toten hatte man draußen im Schnee deponiert. Die Tragflächen des Flugzeugs waren abgerissen worden und auch das Heck fehlte. Die Maschine war in ein steiniges, schneebedecktes Hochtal gestürzt, und die Überlebenden waren ringsum von hohen Berggipfeln umgeben. Doch das Einzige, was Nando in diesem Augenblick interessierte, war seine Familie.

    Allerdings gab es schlechte Nachrichten. Nandos Mutter war tot.

    Es brach ihm das Herz, doch er unterdrückte seine Tränen, denn er wusste, dass sein Körper Salz verlieren würde, wenn er weinte. Und ohne Salz würde er sterben. Er war zwar erst wenige Minuten aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwacht, aber schon jetzt wurde deutlich, dass er einen eisernen Überlebenswillen hatte und nicht bereit war, kampflos aufzugeben.

    Er wollte unbedingt überleben, egal wie.

    Da dieser schreckliche Absturz bereits 15 Menschen das Leben gekostet hatte, galt Nandos ganze Sorge jetzt seiner Schwester. Susy war zwar am Leben, aber sie war mehr tot als lebendig. Ihr Gesicht war blutverschmiert, sie hatte massive innere Verletzungen erlitten und ihr zertrümmerter Körper schmerzte so sehr, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Füße waren schon schwarz verfärbt – eine Folge der Erfrierungen. Im Fieberwahn rief sie nach ihrer Mutter und flehte sie an, sie und ihren Bruder nach Hause zu holen, raus aus dieser entsetzlichen Eiseskälte. Nando hielt sie den ganzen Tag und die ganze Nacht über in seinen Armen, in der Hoffnung, dass seine Körperwärme sie am Leben erhalten würde.

    Allmählich zeichnete sich jedoch das ganze Ausmaß der Gefahr ab, in der sie sich alle befanden. Denn nachts können die Temperaturen in den Anden auf bis zu minus 40 Grad Celsius sinken.

    Während Nando noch bewusstlos war, hatten seine Kameraden die klaffenden Löcher im Flugzeugrumpf mit Schnee und Koffern verschlossen, damit sie zumindest einigermaßen vor dem eiskalten, todbringenden Wind geschützt waren. Aber dennoch war Nandos Kleidung, als er wieder aufwachte, an seiner Haut festgefroren. Jeder von ihnen hatte eine dünne weiße Eisschicht auf Haaren und Lippen.

    Der Flugzeugrumpf – ihr einziger schützender Unterschlupf – war nach dem Absturz auf einem riesigen Gletscher zum Stehen gekommen. Aber obwohl sie sich in großer Höhe befanden, waren die Berggipfel um sie herum so hoch, dass sie den Kopf ganz in den Nacken legen mussten, damit sie die Bergspitzen überhaupt sehen konnten. Die Luft war so dünn, dass jeder Atemzug in ihren Lungen brannte. Die Sonneneinstrahlung war so intensiv, dass sie die Haut mit Blasen bedeckte. Und die Lichtreflexion durch den Schnee so grell, dass es in den Augen wehtat und sie Gefahr liefen, schneeblind zu werden.

    Wären sie über dem Meer oder in der Wüste abgestürzt, hätten sie eine weitaus bessere Überlebenschance gehabt. Zumindest existiert in diesen beiden Umgebungen Leben. Aber hier oben gab es keinerlei Leben. Keine Tiere und keine Pflanzen. Also rationierten sie die geringen Vorräte an Essbarem, die sie aus der Kabine und den Koffern zusammengetragen hatten. Doch das war nicht gerade viel und schnell aufgebraucht.

    Auf jeden Tag folgte eine eiskalte Nacht und danach begann wieder ein neuer Tag. Am fünften Tag nach dem Absturz beschlossen die fünf stärksten Überlebenden, einen Versuch zu wagen, um aus dem Tal aufzusteigen. Wenige Stunden später kamen sie zurück – gezeichnet von Sauerstoffmangel, Erschöpfung und völliger Verzweiflung. Sie sagten, es sei unmöglich.

    Doch „unmöglich" ist kein gutes Wort, an das man sich klammern kann, wenn man ums nackte Überleben kämpft.

    Am achten Tag starb Nandos Schwester in seinen Armen. Und wieder kämpfte er gegen die Tränen an, obwohl ihn der Schmerz fast zerriss.

    Nando begrub sie im Schnee. Alles war ihm genommen worden, nur eines nicht: sein Vater in Uruguay. Er gelobte im Stillen, dass er alles daransetzen würde, nicht hier oben in der einsamen eisigen Bergwelt der Anden zu sterben.

    Wasser gab es überall in Form von Schnee. Doch schon bald wurde es für alle zu einer unerträglichen Tortur, Schnee zu essen, denn durch die trockene, kalte Luft waren ihre Lippen aufgesprungen und blutig. Sie waren auf dem besten Weg zu verdursten, bis einer der Überlebenden mithilfe eines Aluminiumblechs eine Vorrichtung zum Schneeschmelzen erfand. Dann schichteten sie den Schnee auf das Blech und ließen ihn immer in der Sonne schmelzen.

    Aber egal, wie viel Wasser sie auch trinken würden, es könnte letztlich nicht verhindern, dass sie langsam, aber sicher verhungerten.

    Bereits nach einer Woche waren ihre kärglichen Essensvorräte aufgebraucht. In großer Höhe und bei extremer Kälte braucht der menschliche Körper jedoch sehr viel mehr Nahrung als auf Meereshöhe. Aber mittlerweile hatten sie überhaupt nichts mehr zu essen. Ziemlich schnell begannen ihre Körper, sich selbst aufzuzehren. Sie brauchten daher dringend Eiweiß. Denn wenn sie ihrem Körper kein Eiweiß zuführten, würden sie sterben. So einfach war das.

    Allerdings stand ihnen jetzt nur eine einzige Nahrungsquelle zur Verfügung: die Leichen, die draußen im Schnee lagen. Immerhin war das Fleisch der Toten aufgrund der Minusgrade hervorragend konserviert. Nando war der Erste, der vorschlug, dass sie darauf zurückgreifen sollten, um ihr Überleben zu sichern. Denn die einzige andere Alternative war, auf den Tod zu warten, doch dafür war er nicht bereit.

    Sie nahmen sich zuerst die Leiche des Piloten vor: Vier der Überlebenden hatten im Flugzeugrumpf Glasscherben gefunden und benutzen diese, um mühsam schmale Streifen Fleisch aus dem Leichnam des Piloten herauszuschneiden. Nando nahm sich ein Stück davon. Natürlich war es steinhart gefroren und außerdem hatte es eine seltsame grau-weiße Farbe.

    Er starrte auf dieses Stück Fleisch in seiner Hand und merkte, dass es einigen der Überlebenden um ihn herum genauso erging. Andere hatten bereits die gefrorenen Brocken Menschenfleisch in den Mund gesteckt und kauten mit großer Selbstüberwindung darauf herum.

    Es ist nur Fleisch, sagte er sich. Sonst nichts. Dann schob er das Fleisch über seine aufgesprungenen Lippen auf seine Zunge. Es hatte keinen Geschmack, nur Textur: Es war zäh und sehnig. Nando kaute ein paarmal und würgte dann den Klumpen Menschenfleisch hinunter.

    Er hatte kein schlechtes Gewissen. Vielmehr war er einfach nur wütend, dass sie so etwas tun mussten, um zu überleben. Auch wenn durch den Verzehr des Fleisches dieses quälende Hungergefühl nicht nachließ, so hegte er doch die Hoffnung, dass er den Hungertod zumindest so lange hinauszögern könnte, bis die Suchmannschaften sie gefunden hätten.

    Denn alle verfügbaren Rettungsteams in Uruguay würden nach ihnen suchen. Das würden sie doch, oder? Bestimmt müssten sie nicht lange auf diese schreckliche Weise gegen das Verhungern ankämpfen. Das müssten sie bestimmt nicht, oder?

    Einer der Überlebenden hatte ein kleines Transistorradio in den Trümmern gefunden und es sogar zum Laufen gebracht. Einen Tag, nachdem sie das erste Mal Menschenfleisch gegessen hatten, gelang es ihnen, einen Nachrichtensender zu finden.

    Und dann hörten sie genau das, was keiner von ihnen hatte hören wollen. Die Suche nach Überlebenden war abgebrochen worden. Die Wetterbedingungen waren viel zu gefährlich. Außerdem erschien es aussichtslos, überhaupt noch Überlebende zu finden.

    Jedes Mal, wenn unter den Überlebenden das Gefühl der Verzweiflung übermächtig wurde, sagten sie sich: „Atme. Denn wenn du atmest, bist du noch am Leben."

    Doch jetzt, wo ihnen jegliche Hoffnung auf Rettung genommen worden war, tauchte zwangsläufig die Frage auf, wie viele Atemzüge sie wohl noch machen würden.

    Denn der Berg hielt noch sehr viel mehr Gefahren für sie bereit. Als Nächstes wurden sie während eines heftigen Schneesturms mitten in der Nacht von einer Lawine überrascht, die schließlich dafür sorgte, dass unzählige Tonnen Schnee über den Flugzeugrumpf hinwegdonnerten. Gewaltige Schneemassen drangen ins Innere des Wracks und begruben Nando und viele andere Überlebende unter sich. Sechs von ihnen starben; sie erstickten unter einer Decke aus Schnee und Eis. Nando sagte später, er habe sich gefühlt, als wäre er in einem U-Boot eingeschlossen, das auf dem Meeresboden liegt und nicht mehr auftauchen kann.

    Draußen wütete ein schrecklicher Schneesturm und sie trauten sich nicht hinaus, weil sie nicht wussten, wie viel Schnee sich über ihnen aufgetürmt hatte. Es sah ganz danach aus, als ob der Flugzeugrumpf zu ihrem eisigen Grab werden sollte.

    Da sie verschüttet waren und kein Sonnenlicht mehr hatten, funktionierte auch ihre Vorrichtung zum Schneeschmelzen nicht mehr. Außerdem waren die einzigen Leichen, auf die sie jetzt zurückgreifen konnten, die der gerade Verstorbenen.

    Während zuvor nur diejenigen, die die Leichen zerteilt hatten, gezwungen waren, diesen Anblick zu ertragen, mussten jetzt fast alle von ihnen hautnah miterleben, wie ein paar unerschrockene Überlebende die Toten in Stücke schnitten. Da das Fleisch dieser frischen Leichen noch nicht durch die Sonne ausgetrocknet war, stellte der Verzehr dieses Fleischs sie vor eine völlig neue Herausforderung. Denn dieses Fleisch war nicht zäh und trocken, sondern irgendwie schwammig und ölig.

    Roh.

    Feucht.

    Blut quoll heraus und es war mit Knorpelstückchen durchzogen. Außerdem war es alles andere als geschmacklos. Deshalb mussten Nando und seine Kameraden eine unglaubliche Selbstüberwindung aufbringen, um sich nicht gleich wieder zu übergeben, als sie dieses schwabbelige Fleisch hinunterwürgten, während sie ringsum von dem penetranten, ekelerregenden Gestank von verwesendem menschlichen Fett und Gewebe umgeben waren.

    Als der Schneesturm endlich vorüber war, brauchten die Überlebenden acht Tage, um den Flugzeugrumpf wieder von den eingedrungenen Schneemassen zu befreien.

    Sie wussten, dass sich in dem abgerissenen Heck der Maschine Batterien befanden, mit deren Hilfe sie möglicherweise das Funkgerät in Gang bringen könnten, um einen Hilferuf abzusetzen. Nando und drei seiner Kameraden machten sich auf die Suche, und nachdem sie sich stundenlang durch Schnee und Eis gequält hatten und völlig erschöpft waren, fanden sie die Batterien schließlich. In den darauffolgenden Tagen versuchten sie dann, das Funkgerät zu reparieren, aber es gelang ihnen nicht.

    Mittlerweile war die Absturzstelle zu einem grauenerregenden Ort geworden, der immer unerträglicher wurde.

    Zunächst hatten sich die Überlebenden darauf beschränkt, kleine Stücke Fleisch aus den Leichen ihrer umgekommenen Kameraden zu verzehren. Manche der Absturzopfer weigerten sich jedoch, Menschenfleisch zu essen, und erst – so wurde später berichtet –, als ihnen klar wurde, dass ihnen keine andere Wahl blieb, wenn sie nicht verhungern wollten, gaben sie schließlich ihren Widerstand auf.

    Und je mehr Zeit verstrich, desto offensichtlicher wurde für alle die brutale Realität, dass sie zu Kannibalen geworden waren.

    Denn die Absturzstelle war mit menschlichen Knochen übersät. Amputierte Arme und Beine, deren Fleisch noch unberührt war, lagen aufeinandergestapelt neben einer Öffnung im Flugzeugrumpf – eine grausige, aber leicht zugängliche Vorratskammer. Man hatte große Stücke menschlichen Fettgewebes über das Wrack gezogen, damit es in der Sonne trocknen konnte. Inzwischen war man dazu übergegangen, nicht nur das Fleisch zu essen, sondern auch die Innereien zu verzehren. Nieren. Leber. Herz. Lunge. Man hatte sogar die Schädel der Toten aufgebrochen, um die Hirnmasse herauszulösen und zu essen. Die gespaltenen leeren Schädel lagen überall verstreut im Schnee.

    Zwei der Leichen blieben jedoch unangetastet. Aus Respekt Nando gegenüber hatten die anderen die Leichname seiner Mutter und seiner Schwester nicht angerührt. Doch Nando wusste, dass sie es sich auf lange Sicht nicht leisten konnten, wertvolle Nahrung unbeachtet zu lassen. Der Zeitpunkt würde kommen, an dem der Selbsterhaltungstrieb stärker war als der Respekt. Daher musste er unbedingt versuchen, Hilfe zu holen, bevor er gezwungen war, seine eigene Familie aufzuessen. Er musste den Kampf mit dem Berg aufnehmen.

    Ihm war durchaus klar, dass er möglicherweise bei dem Versuch sterben könnte. Allerdings war diese Option allemal besser, als es gar nicht erst zu versuchen.

    Seit dem Flugzeugabsturz waren mittlerweile 60 Tage vergangen, als Nando und seine beiden Kameraden – Roberto und Tintin – sich auf den Weg machten, um Hilfe zu holen. Von der Absturzstelle aus gab es jedoch keinen Weg bergab. Sie konnten nur bergauf klettern. Allerdings war ihnen nicht bewusst, dass sie im Begriff waren, einen der höchsten Gipfel der Anden zu ersteigen – einen Gipfel, der fast 5.200 Meter hoch ist.

    Erfahrene Bergsteiger hätten sich gleich zweimal überlegt, eine solche Expedition in Angriff zu nehmen. Ganz gewiss hätten sie sich nicht darauf eingelassen, wenn sie die letzten 60 Tage kurz vor dem Verhungern gestanden hätten, und erst recht nicht, wenn sie nicht über die lebenswichtige Ausrüstung eines Extrembergsteigers verfügt hätten.

    Doch Nando und seine tapferen Kameraden verfügten weder über Steigeisen noch über Eispickel, geschweige denn über spezielle Kleidung für Hochgebirgstouren. Sie hatten auch keine Sicherungsseile und keine Stahlanker. Sie hatten lediglich die Kleidung, die sie sich aus den Koffern im Wrack zusammengesucht hatten, und waren durch Unterernährung, Durst, Erschöpfung und Unterkühlung stark geschwächt. Außerdem war es für sie das erste Mal, dass sie versuchten, einen Berg zu besteigen. Und es dauerte nicht lange, bis Nandos Unerfahrenheit offensichtlich wurde.

    Wer noch nie Bekanntschaft mit der Höhenkrankheit gemacht hat, kann sich überhaupt nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Man hat rasende Kopfschmerzen und glaubt, der Schädel will einem zerspringen; schwerer Schwindel sorgt dafür, dass man sich kaum auf den Beinen halten kann, und man wird von einer bleiernen Müdigkeit überwältigt. Steigt man zu hoch auf, riskiert man ein Hirnödem oder gar sein Leben. Deshalb soll man auch ab einer Höhe von 3.000 Metern an einem Tag nicht mehr als 300 Höhenmeter aufsteigen, damit sich der Körper an die Höhe akklimatisieren kann.

    Aber Nando und seine Freunde wussten das alles nicht. Und so stiegen sie am ersten Morgen 600 Höhenmeter auf. Das führte dazu, dass ihr Blut dicker wurde, damit es mehr Sauerstoff aufnehmen konnte. Sie hyperventilierten und sie dehydrierten.

    Aber sie gingen dennoch entschlossen weiter.

    Ihre einzige Nahrungsquelle bestand aus ein paar Fetzen Menschenfleisch, die sie von den Leichnamen ihrer toten Freunde abgelöst und zum Transport in eine alte Socke gestopft hatten. Mittlerweile war Kannibalismus jedoch ihr geringstes Problem. Denn ihr größtes Problem war die gewaltige Größenordnung der zu bewältigenden Aufgabe.

    Aufgrund ihrer Unerfahrenheit wählten sie die schwierigste Aufstiegsroute am Berg. Nando kletterte voraus und war dadurch gezwungen, sehr spezielle Klettertechniken zu erlernen. Er musste sich damit vertraut machen, extrem steile und komplett vereiste Felswände hinaufzuklettern, wobei er lebensgefährliche Rinnen umgehen und hauchdünne, spiegelglatte Felsvorsprünge traversieren musste. Und als die drei mit einer extrem steilen Felswand konfrontiert waren, die weit über 100 Meter steil aufragte und mit stark verdichtetem Firnschnee und Eis bedeckt war, zögerte Nando nicht. Er nahm seinen spitzen Stock und schlug Stufen in das Eis bis ganz nach oben.

    Nachts fielen die Temperaturen so drastisch, dass ihre Wasserflaschen aufplatzten und zerbarsten. Sogar am Tag zitterten die Männer unaufhörlich in dieser Eiseskälte, so erschöpft waren sie. Aber allen Widrigkeiten zum Trotz erreichten sie den Gipfel. Doch oben angekommen, mussten sie feststellen, dass dieses menschenfeindliche Gebirge einen weiteren Rückschlag für sie bereithielt. Nando hatte gehofft, dass er vom Gipfel aus über die Gebirgskette hinwegschauen könnte. Aber als er sich von seinem unglaublichen Aussichtspunkt aus umblickte, sah er nur noch mehr Berggipfel, soweit das Auge reichte.

    Nichts Grünes.

    Keine Zivilisation.

    Keine Hilfe.

    Nichts als Schnee, Eis und Fels.

    Doch wenn ein Mensch ums nackte Überleben kämpft, braucht er vor allem eins: Kampfgeist. Trotz der großen Enttäuschung ließ Nando den Mut nicht sinken.

    Er konnte zwei kleinere Berggipfel ausmachen, die nicht mit Eis bedeckt waren. War das ein gutes Zeichen? Vielleicht markierten sie ja das Ende der Gebirgskette? Allerdings, so schätzte er, waren sie gut 80 Kilometer entfernt. Da die Männer nicht genügend Menschenfleisch für alle drei dabeihatten, um ihren Weg fortzusetzen, schickten sie Tintin – er war der Schwächste von ihnen – zurück zur Absturzstelle, damit Nando und Roberto weitergehen konnten. Tintin brauchte nur eine Stunde, um wieder zu seinen Freunden im Flugzeugwrack hinunterzurutschen.

    Die beiden anderen machten sich derweil an den Abstieg, hinunter zur Wolkengrenze, und waren damit nicht nur dem Berg, sondern auch der Schwerkraft schutzlos ausgeliefert.

    Nando stürzte und wurde gegen das Eis der Felswände geschleudert. Sein abgemagerter, geschundener Körper war mit Prellungen übersät und übel zugerichtet. Aber dennoch gingen Nando und Roberto beharrlich weiter. Sie zwangen sich dazu, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, auch wenn Schmerz und Erschöpfung sie übermannten.

    Als sie dann in tiefere Bergregionen vordrangen, wo es nicht mehr ganz so kalt war, fing das Menschenfleisch, das sie in die Socke gestopft hatten, an zu tauen und zu verwesen. Der strenge Geruch des verwesenden Fleisches war an sich schon schlimm genug, aber noch schlimmer war, dass dieser Geruch ein untrügliches Zeichen dafür war, dass sie dieses Fleisch nun nicht mehr essen konnten. Und wenn sie nicht bald Hilfe fänden, würden sie schlichtweg hier oben zugrunde gehen.

    Am neunten Tag ihrer Klettertour wendete sich jedoch das Blatt. Sie sahen einen Mann. Und am zehnten Tag kehrte dieser Mann zurück und brachte nicht nur Hilfe mit, sondern auch etwas zu essen. Nach 72 Tagen nahmen Nando und Roberto dann ihre erste warme Mahlzeit zu sich, die nicht aus Menschenfleisch bestand.

    Aber was noch viel wichtiger war, sie hatten dem Mann nicht nur zu verstehen gegeben, dass sie die Anden überquert hatten, sondern ihm auch eine Botschaft aufgeschrieben: „Ich komme von einem Flugzeug, das in den Bergen abgestürzt ist. [...] In der Maschine befinden sich noch 14 verletzte Überlebende. [...]" Denn da sie sich in einer einsamen, abgelegenen Bergregion befanden, musste zuerst jemand zur nächstgelegenen Militärstation reiten, um diese wichtige Nachricht zu überbringen, damit die Überlebenden gerettet werden konnten.

    Letztlich war es allein dem unerschütterlichen Durchhalte-willen von Nando und Roberto zu verdanken, dass die übrigen Überlebenden am 22. und 23. Dezember – pünktlich zum Weihnachtsfest – von einem Hubschrauber gerettet und in Sicherheit gebracht werden konnten.

    Von den 41 Passagieren dieses Unglücksflugs waren noch 16 am Leben. Doch das größte Wunder ist, dass es überhaupt so viele Überlebende gab.

    Für viele Menschen ist der verzweifelte Überlebenskampf von Nando Parrado und seinen Kameraden nichts anderes als eine schaurige Geschichte über Kannibalismus. Manche verurteilen die Überlebenden sogar wegen ihrer Entscheidung, sich durch den Verzehr von Menschenfleisch am Leben zu erhalten.

    Aber damit tun sie ihnen unrecht.

    In einem ihrer schwärzesten Augenblicke hatten die Überlebenden nämlich einen Pakt miteinander geschlossen: Falls einer von ihnen sterben sollte, würde er den anderen gestatten, seinen Leichnam zu verzehren. Denn jeder von ihnen wusste, dass sie durch den Verzehr ihrer toten Kameraden nicht etwa eine Missachtung menschlichen Lebens zum Ausdruck brachten. Vielmehr brachten sie damit zum Ausdruck, wie wertvoll das Leben eigentlich ist. So wertvoll, dass sie sich mit aller Kraft an das Leben geklammert haben, während diese unvorstellbar erbarmungslose Umgebung ihr Bestes tat, um es ihnen zu entreißen.

    Die Überlebenden von Flug 571 haben nicht nur bemerkenswerte Unerschrockenheit und unglaublichen Einfallsreichtum bewiesen, sondern – meiner Meinung nach – auch Würde. Und mit ihrem unerschütterlichen Überlebenswillen haben sie uns einmal mehr eine Tatsache vor Augen geführt, die so alt ist wie das Leben selbst: Auch wenn der Tod so gut wie unausweichlich erscheint, weigern sich die meisten Menschen energisch, sich kampflos in ihr Schicksal zu ergeben und den Tod gewinnen zu lassen.

    JULIANE KOEPCKE: DIE GRÜNE HÖLLE

    „Ich falle rasend schnell durch den Himmel [...] aus etwa 3.000 Metern Höhe auf die Erde zu."

    — JULIANE KOEPCKE —

    Es ist Heiligabend 1971. Eine 17-jährige Studentin, die in Peru als Tochter deutscher Eltern zur Welt kam, sitzt festgeschnallt in ihrem Flugzeugsitz direkt neben ihrer Mutter. Der Flug von Lima nach Pucallpa ist nur ein Katzensprung und sollte kaum länger als eine Stunde dauern.

    Allerdings wird Juliane Koepckes Reise sehr viel länger dauern als eine Stunde.

    Sie fliegen mit einer Lockheed Electra, einem Turboprop-Flugzeug, das sich gerade in einer Flughöhe von 6.400 Metern befindet. Als Juliane die Maschine zum ersten Mal sah, als sie noch am Boden stand, war sie total beeindruckt, wie gigantisch sie wirkte. Sie hatte ja keine Ahnung, dass sie in erster Linie dafür konzipiert war, über Wüstengebiete zu fliegen. Oder dass sie völlig ungeeignet war, den Turbulenzen und Fallwinden im Hochgebirge der Anden standzuhalten.

    Und sie ahnte erst recht nicht, dass das Flugzeug im Begriff war, mitten in einen Gewittersturm hineinzufliegen.

    Vor wenigen Minuten war es draußen noch taghell. Doch jetzt ist es plötzlich stockdunkel, als wäre es tiefste Nacht. Durch die Fenster kann Juliane sehen, wie gewaltige Blitze durch den Nachthimmel zucken und um sie herum alles in gleißendes Licht tauchen.

    Auf einmal fängt das ganze Flugzeug an, heftig zu vibrieren. Es fühlt sich an, als würde es von einer unsichtbaren Hand durchgeschüttelt, etwa so, wie wenn ein Kind ein Spielzeug hin und her schüttelt. Auf dem Boden mag die Maschine zwar durchaus groß und beeindruckend gewirkt haben, doch hier oben, inmitten der entfesselten Naturgewalten, ist sie diesem Gewittersturm so hilflos ausgeliefert, als wäre sie eine Stubenfliege.

    Plötzlich gehen die Gepäckfächer auf. Gepäckstücke werden herausgeschleudert. Essen fliegt durch die Kabine. Alle schreien.

    Juliane Koepcke bemüht sich, Ruhe zu bewahren. Ihre Mutter ebenso. Sie versucht, Juliane zu trösten, und sagt ihr, dass alles gut wird.

    Doch es wird nicht alles gut.

    Ein gleißend heller Blitz blendet Juliane. Irgendetwas ist mit der rechten Tragfläche passiert. Ist womöglich der Blitz eingeschlagen? Nicht auszudenken. Auf einmal gibt es einen fürchterlichen Ruck. Die Nase des Flugzeugs kippt nach unten weg. Die Schreie werden immer lauter, aber sie werden von dem ohrenbetäubenden Dröhnen der Motoren übertönt, während die Maschine im Sturzflug immer schneller und schneller auf den Boden zuschießt.

    Durch das Heulen der Motoren und das Geschrei der Menschen hindurch hört Juliane noch die Stimme ihre Mutter – ein leises Bekenntnis, dass der Augenblick des Todes naht.

    Die immensen Fliehkräfte reißen das Flugzeug regelrecht in Stücke. Und plötzlich merkt Juliane Koepcke, dass die anderen Passagiere nicht mehr da sind. Und auch das Flugzeug nicht mehr da ist. Denn auf einmal kann sie weder die Schreie der Menschen noch das Dröhnen der Motoren hören.

    Das Einzige, was sie noch hört, ist das ungeheure Getöse des Windes in ihren Ohren.

    Juliane ist noch immer in ihrem Sitz festgeschnallt, der aus der Verankerung am Boden der Passagierkabine herausgerissen wurde. Sie befindet sich in diesem Augenblick in einer Höhe von 3.000 Metern.

    Sie stürzt der Erde entgegen, und zwar rasend schnell.

    Doch erstaunlicherweise sollte ihr langer und gefährlicher Überlebenskampf gerade erst beginnen.

    Juliane Koepcke wird sich später daran erinnern, dass der Gurt, der sie fest in den Sitz drückte, sich tief in ihren Bauch grub und ihr die Luft aus den Lungen presste, während sie auf die Erde zuraste. Sie fiel so schnell, dass ihr keine Zeit blieb, Angst zu haben. Außerdem wurde sie immer wieder bewusstlos. Und als sie einen Augenblick lang bei Bewusstsein war, spürte sie, dass sie sich mit dem Kopf nach unten sehr schnell drehte – sie schraubte sich regelrecht im freien Fall durch die Luft, bis die ausladenden Baumkronen des Regenwaldes immer näher kamen, um sie aufzufangen.

    Dann wurde es schlagartig dunkel, denn sie war wieder bewusstlos.

    Und als sie wieder zu sich kam, merkte sie, dass sie am Boden des Regenwalds lag. Der Flugzeugsitz lag auf ihr drauf, aber sie war nicht mehr angeschnallt.

    Sie schaute auf die Uhr. Es war neun Uhr morgens.

    Sie versuchte aufzustehen, aber ihr wurde sofort schwindlig und sie sank wieder zu Boden.

    Ihr Schlüsselbein fühlte sich irgendwie seltsam an. Sie tastete es ab und konnte fühlen, dass es gebrochen war. Denn an der Bruchstelle ragten zwei spitze Knochenstücke hervor, die ihre Haut zum Glück jedoch nicht durchbohrt hatten. An ihrem linken Bein hatte sie einen tiefen Schnitt, der eigenartigerweise überhaupt nicht blutete. Sie fühlte sich sehr müde und benommen, denn sie hatte eine Gehirnerschütterung erlitten. Außerdem hatte sie ihre Brille verloren, und so konnte sie alles, was mehr als ein paar Meter entfernt war, nur verschwommen erkennen.

    Erst jetzt dämmerte ihr, was geschehen war und dass sie ganz allein war. Sie rief laut nach ihrer Mutter, aber sie bekam keine Antwort. Das Einzige, was sie hören konnte, waren die Geräusche des Regenwalds.

    Sie hatte einen Flugzeugabsturz überlebt, den man eigentlich gar nicht überleben kann. Doch jetzt musste sie gegen die unerbittliche Natur in einer der menschenfeindlichsten Regionen der Erde ums nackte Überleben kämpfen.

    In einem undurchdringlichen, unbewohnten und unberührten tropischen Regenwald.

    Wenn Sie vorhaben, aus Ihrer Komfortzone auszubrechen, dann sollten Sie sich einmal auf eine Tour durch den Regenwald begeben.

    Dort herrschen nicht nur konstante Temperaturen, große Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit, sondern es gibt auch Wasser und Sonnenlicht im Überfluss, und das bedeutet wiederum, dass Regenwälder die komplexesten Ökosysteme auf unserem Planeten sind. Denn hier tobt überall das Leben: Es kreucht und fleucht und beißt sich durchs Unterholz, es hockt in den Bäumen und es gleitet lautlos über Äste. Es kann Sie mit seiner atemberaubenden Schönheit verzaubern, aber es kann sie in einem unaufmerksamen Augenblick auch blitzschnell töten.

    Juliane Koepcke wusste das. Denn für sie war der Regenwald kein gänzlich fremdes Terrain, da ihre Eltern – sie waren Zoologen – sie schon

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