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Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos?: Ein Dialog zur politischen Ökonomie
Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos?: Ein Dialog zur politischen Ökonomie
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eBook341 Seiten4 Stunden

Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos?: Ein Dialog zur politischen Ökonomie

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Über dieses E-Book

Der Neoliberalismus ist dabei, die Gesellschaft durch eine konsequente Kommerzialisierung zu unterwandern – mit dem Ziel ihrer Zerstörung. »Gesellschaft« stört bei dem Versuch, den Menschen durch übertriebenen Wettbewerb, propagierten Egoismus und systematische Erhöhung des Leistungsdrucks zu vereinzeln. Der Neo-liberalismus fördert unverblümt egoistische, ja in hu -mane Verhaltensweisen; er propagiert Un ge rechtigkeit und einen ruinösen Wettbewerb als Prinzip einer sogenannten marktgerechten Gesellschaft der Zukunft. Das Buch spürt den schon eingetretenen Folgen der neoliberalen Strategie in unserer Gesellschaft nach. Dies geschieht in Form eines f ktiven Dialogs zur politischen Ökonomie zwischen Zeitgenossen und interessierten Menschen aus der Zukunft. Dabei werden Hintergründe und viele Zusammenhänge deutlich, die so nicht in der Zeitung stehen – und es ergeben sich Vorschläge für Maßnahmen, die geeignet sind, die Auswirkungen des Neoliberalismus wenn nicht aufzuheben, so doch einzudämmen. Unsere Politiker waren in den letzten Jahrzehnten nicht sehr einfallsreich (Stichwort »Alternativlosigkeit«). Der Autor ist der festen Überzeugung, dass es immer eine sinnvolle Alternative gibt – vorausgesetzt, man ist bereit, sie zu denken.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Juli 2015
ISBN9783739255453
Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos?: Ein Dialog zur politischen Ökonomie

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    Buchvorschau

    Ist der Neoliberalismus wirklich alternativlos? - Volker Frühling

    Endnoten

    Einleitung und Kontaktaufnahme

    Wir sitzen vor dem Computer von Max. Er führt stolz die neuesten Features vor, die sich diesem neuen Rechner im Internet eröffnen.

    »Gestern Abend bin ich auf eine Website gestoßen, die ist ausgesprochen merkwürdig aufgebaut, und ich kann mit der IP-Adresse gar nichts anfangen.«

    »Ruf sie doch bitte mal auf.«

    »Sie heißt ›Zukunft‹, und sie ist ein wenig ungewöhnlich aufgebaut. Aber ich habe dort eine E-Mail-Adresse gefunden mit der Aufforderung, doch bitte in Kontakt zu treten, wenn man sich mit dem Inhalt der Website identifizieren kann.«

    »Um was geht es denn bei der ›Zukunft‹?«

    »Sie spricht uns so an, als ob das Gegenüber die Möglichkeit habe, aus der Zukunft von ziemlich genau hundert Jahren, also aus dem Jahr 2115, mit uns Kontakt aufzunehmen. Sie behauptet, sie habe eine technologisch begründete Methode gefunden, über einen Zeitraum von hundert Jahren mit uns zu kommunizieren – und ihre Vergangenheit sind wir und unsere Zeitgenossen.«

    »Wenn wir deren Vergangenheit sind, so bleibt nur das technologische Problem der in der Zukunft Lebenden, in ihre Vergangenheit von vor hundert Jahren eintauchen zu können.«

    »Aber ist deren Status (unter Vernachlässigung der Zeitkomponente) auch zwangläufig unsere Zukunft?«

    »Nein, das glaube ich nicht. Es kann eigentlich nicht sein. Sieh mal: Aus der Sicht der Zukunft sind wir deren Vergangenheit, und deren Vergangenheit hat aus der Sicht der Zukunft (ihrer Gegenwart) tatsächlich stattgefunden. Wir sind – vorausgesetzt, wir sind wirklich deren Vergangenheit – für sie Geschichte, und es gibt damit eine ein-eindeutige Relation zwischen ihnen und uns.«

    »Aber was ist mit der Zeit? Kann es denn sein, dass sie zur gleichen Zeit leben wie wir, aber hundert Jahre mehr auf dem Buckel haben?«

    »Erklären kann ich das auch nicht. Das, was wir aus unserer Sicht als Zeitfolge verstehen, muss durch einen intelligenten Trick in Synchronizität umgewandelt werden können. Mir ist so ein Gedanke im Rahmen der Esoterik mal vor vielen Jahren über den Weg gelaufen – Rudolf Steiner, glaube ich, hat diesem Gedankenexperiment den Namen »Akasha-Chronik« gegeben, indem er behauptete, unsere Zeitvorstellung sei nur eine Sichtweise auf die Zeit und es gebe auch jene Akasha-Chronik, in der alle Zeiten parallel abgebildet werden und deshalb alles gleichzeitig ablaufe.«

    »Ist das ernstzunehmen?«

    »Ich kann das nicht ernstnehmen, weil ich dafür keine Erklärung habe, aber unser E-Mail-Kontakt – wenn er denn die Erwartungen erfüllt – zeigt, dass wir offensichtlich nicht am Ende der Möglichkeiten sind.«

    »Wenn wir auf diese E-Mail eingehen, wie können wir sicher sein, dass wir nicht getäuscht werden?«

    »Da gibt es keinen Nachweis, den wir verlangen könnten. Unsere Zukunft ist ja nicht zwangsläufig deren Gegenwart. Alles was sie uns über ihre Geschichte erzählen können, mag interessant sein, ist aber in letzter Konsequenz nicht unsere Zukunft.«

    »Wieso denn nicht?«

    »Wir treffen täglich private und gesellschaftliche Entscheidungen, die unsere Freiheitsgrade für die künftige Entwicklung einerseits einschränken, andererseits aber neue Räume eröffnen mögen; aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass wir die gleichen Entscheidungen treffen werden, die Menschen getroffen haben, die uns hundert Jahre voraus sind. Würden unsere Entscheidungen zur gleichen Zukunft führen, die der Gegenwart unserer in der Zukunft lebenden Gesprächspartner gleicht, dann wäre der Verlauf des künftigen Geschehens doch determiniert. Und das ist mir nicht vermittelbar. Dazu sind mir die Entscheidungen, die in unserer heutigen Welt jeden Tag getroffen werden, zu erratisch und kopflos. Eine Richtung ist dabei nicht erkennbar.«

    »Dann lass uns mal eine E-Mail schicken – mal sehen, was passiert! Sollen wir sie in unserer Sprache aufsetzen oder mehrsprachig?«

    »In Deutsch – die Website ist doch auch in deutscher Sprache formuliert.«

    »Und was schreiben wir? Sei erst mal vorsichtig und leg nicht gleich alle unsere Details auf den Tisch.«

    »Gute Idee – also ganz förmlich. Und – was wollen wir von unserem Gegenüber? Wir müssen doch einen Grund für die Kontaktaufnahme vorbringen.«

    »Richtig. Wir wollen uns mit ihm austauschen, um zu verstehen, wo die Unterschiede zwischen hier und dort sind.«

    »Nennen wir unsere richtigen Namen oder nehmen wir Decknamen?«

    »Wenn ich es recht bedenke: Diese Website hat ihren Weg zu uns gefunden. Eine große Verkleidung erscheint da wenig erfolgversprechend. Aber wir können ja mal schauen, wieviel das Gegenüber von sich preisgibt.«

    Max nimmt die E-Mail-Adresse auf und schreibt:

    »Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben Ihre Website entdeckt und sind neugierig, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Mit freundlichen Grüßen – Max«

    und löst aus.

    Es ist inzwischen spät geworden, und wir beschließen, uns wieder zu treffen, wenn eine Antwort vorliegt.

    Die Kontaktaufnahme

    Am nächsten Morgen ist die Antwort da:

    »Lieber Max, wir danken Dir für Deine Anfrage und sind sehr interessiert, den E-Mail-Kontakt auszubauen. Für uns ist es interessant, von Euren gegenwärtigen Problemen und Herausforderungen zu erfahren, und wir werden bemüht sein, unsere Erkenntnisse aus hundert Jahren Vorlauf in die Diskussion einzubringen. Aufgrund der Tatsache, dass wir mit Dir in E-Mail-Kontakt treten können, ist es wohl auch verständlich, dass wir über die laufende Internet-Kommunikation Eurer Zeit recht gut informiert sind. Wir haben technische Möglichkeiten, uns von ›außen‹ in das Netz einzuschleusen, ohne dass es die jeweiligen Betreiber bemerken – so ähnlich wie die NSA – wenn Du weißt, was ich meine? Wir nutzen eine sogenannte Mimikry, um unseren Zugang verdeckt zu halten. Da wir keine finanziellen Beiträge leisten, sind wir ja gewissermaßen ›Schwarzfahrer‹, und das Netz wäre deshalb auf uns nicht gut zu sprechen – wenn sie uns denn entdecken würden. Wir möchten uns gerne vorstellen – wir sind unser zwei. Ich nenne mich Immanuel, und mein Freund hört auf den Namen Benedikt. Wir würden uns freuen, wenn wir den Kontakt fortführen könnten. Gruß – Immanuel«

    An diesem Morgen sind wir etwas ratlos. Wie sollen wir diese Nachricht einordnen? Wenn uns hier jemand auf den ›Roller‹ nimmt, so ist es zumindest recht originell. Wir bleiben ernst und antworten:

    »Lieber Immanuel, es freut mich, dass Ihr Euch gemeldet habt. Wir sind uns aber nicht sicher, ob das Spiel, das wir hier betreiben, echt oder ein schlechter Scherz ist. Habt Ihr eine Idee, wie Ihr uns versichern könnt, dass unser Kontakt wirklich über eine ›Entfernung‹ von hundert Zeitjahren erfolgt? Wir sind einfach skeptisch, da unser Zusammentreffen jenseits unserer Erfahrungsmöglichkeiten liegt. Gibt es bei Euch noch Tageszeitungen oder andere Periodika, die ein Datum tragen? Dann könntet Ihr doch eine Kopie anfertigen, sie in ein für uns lesbares Format bringen und uns zusenden. Wäre das zumutbar?

    Übrigens, ich bin auch nicht allein, bei mir ist Moritz. Wir kennen uns schon lange und sind vielfach in politischen und ökonomisch-ökologischen Fragen engagiert. Gruß – Max«

    Nach wenigen Stunden kommt die Antwort:

    »Lieber Max, lieber Moritz, auch wir kennen noch Wilhelm Busch – sind das Eure richtigen Namen? Aber, egal. In der Anlage haben wir die heutige Zeitung gescannt und beigefügt. Ihr seht, es gibt uns im Jahr 2115. Ihr könnt auch gerne die Überschriften und Texte lesen. Ob Ihr aber die Zusammenhänge versteht, bezweifeln wir. In den letzten hundert Jahren haben sich heftige Umbrüche ergeben, und die Diskussionen, die wir hier und heute führen, sind nur in Teilen mit den Fragen vergleichbar, die Euch bewegen werden. Wir stehen vor Wahlen, und die politische Landschaft hat sich doch gegenüber Eurer Zeit sehr verändert. Das können wir gerne ein andermal ausführlich diskutieren. Heute geht es uns um unsere Glaubwürdigkeit. Wir möchten Euch versichern, dass wir keinen ›fake‹ darstellen und uns keinen Scherz erlauben. Gruß – Immanuel«

    »Klingt doch recht vernünftig. Jetzt lass uns mal in ihre Zeitung schauen. Sieht völlig verändert aus, aber das Datum stimmt, und bei jedem der Beiträge steht auch ein Datum und ein Name. Lassen wir es dabei, und gehen wir davon aus, dass die Angaben ihre Richtigkeit haben. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.«

    »Wir haben jetzt die einmalige Chance, unsere ›Kollegen‹ aus der Zukunft über die Entwicklungen unseres politischen und ökonomischen Systems zu befragen. Sie können zwar nicht sagen, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln wird; sie können aber berichten, wie sich ihre Gesellschaft entwickelt hat, und uns dadurch an ihren Erfahrungen teilhaben lassen.«

    »Also, Max, wir schreiben ihnen unsere Erwartung und warten auf die Reaktion.«

    Antwort:

    »Lieber Max, Eure Idee finden wir großartig. Wir haben es nicht gewagt, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, aber genau diese Themen erscheinen uns eine ideale Gesprächsgrundlage. Wir geben Euch Recht, wir können nur über unsere Entwicklung berichten, und wir tun das bestimmt auch relativ subjektiv. Eure Entwicklung wird sicher anders verlaufen, aber es wäre eine ungeheure Bereicherung, zu hören, wie sich Sachverhalte unter ähnlichen Ausgangsbedingungen fortentwickelt haben, auch dann, wenn es nicht zwangsläufig Eure Zukunft beschreiben wird. Gruß – Immanuel.«

    »Moritz, ich bin begeistert! Stell Dir vor, was wir für ein Glück haben, ausgerechnet auf Leute zu treffen, die bereit sind und dann auch noch Interesse daran haben, mit uns Probleme und Herausforderungen unserer Gegenwart aus ihrer Perspektive zu diskutieren. Da müssen wir uns ein bisschen vorbereiten und einen roten Faden entwickeln, an dem wir uns entlanghangeln können. Viele Dinge greifen ja in einander, und wenn zu viele Wiederholungen auftreten, wird das Gespräch für beide Seiten eher anstrengend.«

    »Max – ich denke, wir sollten zuerst versuchen, etwas über die Entwicklungslinien aus ihrer Welt zu erfahren. Wir haben ja ein Stück weit die gleiche Vergangenheit, und sie könnten doch die Hauptlinien umreißen, die sie in den letzten hundert Jahren durchlaufen haben. Es ist sicherlich nicht unsere Zukunft, aber es wäre trotzdem überaus prickelnd zu erfahren, wie und warum sich ihre Sicht der Dinge verändert hat. Wenn wir hier ein Verständnis der Zusammenhänge erreichen, dann können wir uns doch eventuell danach Einzelfragen widmen.«

    Gut! Gesagt – getan.

    Erste Berührungspunkte

    Die Antwort dauert einige Zeit und fällt recht lang und ausführlich aus:

    »Lieber Max, danke für Eure Fragestellung, die wir begeistert aufgreifen. Wir mussten aber leider feststellen, dass sich hundert Jahre schlecht in fünf E-Mail-Zeilen zusammenfassen lassen. Wir haben aus Eurem Internet gelernt, dass die veröffentlichte Meinung damit kämpft, dass die Fähigkeit der Leser, längere Texte zu verfolgen, verloren zu gehen droht. 40 Zeilen sei angeblich so das Maximum, was der Durchschnittsbürger intellektuell am Stück verkraftet. Bei längeren und etwas höher codierten Texten soll ganz massiv die Verständnisfähigkeit der Leser leiden. Wir werden uns daran nicht orientieren können; wir benötigen eine ganze Reihe weiterer Zeilen und Absätze, denn wir haben schon bei der groben Zusammenstellung der möglichen Inhalte festgestellt, welcher Aufwand dahintersteckt, wenn man diesem Projekt etwas Sorgfalt angedeihen lassen möchte.

    Wir erklären das Jahr 2015 zu unserer gemeinsamen Basis. Bei der Betrachtung der folgenden Jahre werden wir unseren Lauf der Dinge beschreiben und zu ergründen versuchen, warum sich dieser Verlauf ergeben hat und nicht ein anderer. Die Vorgeschichte ist uns ja gemeinsam. 2008 hat es in der westlichen Hemisphäre eine große Wirtschaftskrise gegeben, die das Wirtschaftssystem des Westens – eine Form des Kapitalismus – an den Rand eines Abgrundes manövrierte. Die Politik sah sich gezwungen, das System mit Hilfe der Steuergroschen der kleinen Leute zu retten. Die Rettungsaktion hat viele Staaten an den Rand ihrer Finanzierungsfähigkeit gebracht: aus der Bankenkrise wurde eine Finanzkrise, und die Rettungsversuche führten dann vereinzelt zu Staatkrisen. Die Politik glaubte aus der Krise von 1929 gelernt zu haben, hat unter Vernachlässigung einer sinnvollen Zielsetzung die Märkte mit billigem Geld überflutet und dadurch vordergründig das Vertrauen in ein blindes ›Weiter so‹ hergestellt. Einzig erkennbares Ziel war ganz offensichtlich, sich Zeit zu erkaufen, um das Problem dann schrittweise zu lösen. Als Folge ist der Finanzmarkt nicht zusammengebrochen, die Banken machen weiter wie vorher, und 2015 ist die Situation im Bankensektor nicht besser geworden; manche sprechen davon, dass die Blase wieder mindestens so groß sei wie 2008.

    Da es aufgrund der Geldflut keine richtige Implosion gegeben hat, die den Wähler hätte verschrecken und gar aus seinem Schlaf aufwecken können, erkennen die Marktteilnehmer auch keinen richtigen Grund, ihr Verhalten zu verändern, und die Politik scheint zu schwach, um sich gegen die Wirtschaftsinteressen durchzusetzen.

    Deutschland hat alle Kraft im Export gebündelt. Export ist aber nur möglich, wenn den Finanz- und Warenströmen Importe in anderen Ländern spiegelbildlich gegenüberstehen. Importe lösen in der Zahlungsbilanz des jeweiligen Landes Verbindlichkeiten aus, denen Forderungen in der deutschen Zahlungsbilanz gegenüberstehen. Exportweltmeister haben systemimmanent sehr hohe Außenstände. Wenn im Rest der Welt völlige oder partielle Zahlungsunfähigkeit eintritt, ist schlagartig der Exportweltmeister im wahrsten Sinne des Wortes ein ›armes Schwein‹. Seine Forderungen aus dem Export lösen sich über Nacht in Luft auf. Der Schuldner zuckt mit den Achseln und bucht aus. Der Gläubiger verliert seine Forderung, und die vom Gläubiger erwirtschafteten Wertschöpfungsvorteile verbleiben ohne Gegenleistung beim Schuldner. Je mehr wir exportieren wollen, desto mehr müssen wir dafür sorgen, dass die ›Fußkranken‹ auch bezahlen können. Das stand nun in einigen Fällen in Frage, wobei wir unverantwortlicherweise immer weiter lieferten, obwohl das Problem absehbar und erkennbar war. Aber der sinnlose Titel ›Exportweltmeister‹ hat der Vernunft den Rang abgekauft. Das ist in groben Zügen die gegenwärtige deutsche Position. Und das Problem ist keinesfalls gelöst.

    Wir haben dann 2015 noch ein paar weitere Merkmale, die es zu erwähnen gilt: Das Wachstum, vom dem die Mehrzahl der Ökonomen zu wissen meint, dass es als immerwährend gedacht werden kann, ist in den letzten 10 bis 15 Jahren in Europa äußerst gering.¹ Wachstum ist die Entscheidungsgröße für politische Maßnahmen geworden. Dabei wird vergessen, dass Wachstum ohne Ressourcenverbrauch und ohne Beschäftigung, die dann wieder zu Konsum wird, nicht möglich ist.² Wir beobachten, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf immer noch steigt. Das gilt gemeinhin als Indikator für eine prosperierende Wirtschaft. Diese Durchschnittszahl wächst natürlich auch dann, wenn große Teile des Mittelstandes verlieren und ein kleiner vermögender Teil der Bevölkerung überproportional zulegt. Das BIP pro Kopf verdeckt also manchmal mehr als es erklären kann.

    Aus unserer Sicht, mit einem Abstand von hundert Jahren, fällt besonders auf, dass die Gesellschaft des Jahres 2015 gespalten ist. Es gibt eine politische Struktur, und es gibt eine in die Gesellschaft teilweise eingebettete Wirtschaftsstruktur, die Werten folgt, die politisch überhaupt nicht legitimiert sind. Beide Bereiche laufen nicht mehr nebeneinander, sondern gegeneinander. Es fällt insbesondere aus der Perspektive eines Abstands von hundert Jahren auf, dass nicht mehr klar ist, wer das Sagen hat – dient die Wirtschaft der menschlichen Gesellschaft, oder hat sich die Gesellschaft einfach den Bedingungen der Wirtschaft unterworfen? Diese Frage wird uns noch öfter beschäftigen – wir haben sie vor circa 60 Jahren (also etwa 2050) sehr heftig diskutiert und dann auch entschieden. Darüber später mehr.

    Das sind in groben Zügen unsere gemeinsamen Grundlagen, die wir 2015 erkennen können.

    Mit besten Grüßen aus der Zukunft – Immanuel«

    »Immanuel – Wir glauben als Zeitgenossen unserer Gegenwart die Sache deutlich differenzierter zu sehen, aber aus einer langfristigen Perspektive fallen viele Meinungen dem Zahn der Zeit zum Opfer. Bemerkenswert erscheint mir die These, dass sich aus Eurer Sicht unsere Gesellschaft vor die Entscheidung gestellt sieht, welche Werte künftig Priorität erhalten sollen: jene des Wirtschaftssystems oder die unserer verfassten Gesellschaft. In vielen Diskussionen unserer Zeit fällt auf, dass Ökonomen und Nicht-Ökonomen immer öfter aneinander vorbei reden. Diejenigen, die sich mit Wertvorstellungen befassen und immer wieder davor warnen, bewährte und gemeinschaftsfördernde Werte nicht zugunsten ökonomischer Werte aufzugeben, stehen einer Kaste von Managern gegenüber, die meist wenig gebildet, aber gut ausgebildet ist und die von Wertdiskussionen überhaupt nichts hält. Für die Mehrzahl dieser Damen und Herren gelten der Markt und die ökonomische Rationalität als Ausdruck von Werten. Ökonomie ist komplett wertgesteuert, aber eben nicht durch gesellschaftlich getragene und legitimierte Werte. Vernunft ist nach Auffassung dieser Manager und Unternehmer nur dort angesiedelt, wo der Markt herrscht. Ihr Horizont reicht i.d.R. nicht aus, zu erkennen, dass Markt und Rationalität Vernunft und Legitimität nicht ersetzen können. Upton Sinclair (1878 – 1968) hat es auf den Punkt gebracht: ›Es ist schwer, einen Mann dazu zu bewegen, etwas zu verstehen, wenn die Höhe seines Gehaltes davon abhängt, dass er es nicht versteht.‹«

    »Was Du da ausgeführt hast, ist das allgemeine Auffassung? Ich denke, Max, das ist Deine persönliche Meinung.«

    »Das will ich nicht abstreiten. Doch schau Dir doch bitte die politischen Entscheidungen der letzten 20 Jahre an. Immer dann, wenn es in der Politik um die Frage geht: ›Nützt eine geplante Maßnahme den konkreten Menschen oder dem Wirtschaftssystem?‹, hat sich die Politik regelmäßig für die Seite des Systems entschieden. Es wird dann behauptet, die betreffende Maßnahme schaffe Wachstum oder Beschäftigung oder Export, und das sei dann der Nutzen für die Menschen. Merkwürdig ist nur, dass zur gleichen Zeit alle diese Entscheidungen regelmäßig dazu geführt haben, dass die Einkommens- und Vermögensschere zwischen Arm und Reich immer weiter zu Gunsten der ›Reichen‹ aufgegangen ist. Wo soll das hinführen, und wann begreifen die Politiker, dass ihre Wirkung ganz entscheidend dazu beiträgt, dass sie auch künftig gewählt werden? Und gewählt wird immer noch nach Köpfen und nicht nach Geldbeuteln. Das heißt doch, dass sich hier ein Problem auftürmt, das gelöst werden muss.«

    Die Außensicht

    »Lass uns doch mal schauen, was Immanuel dazu anzumerken hat.«

    »Hallo Max, diese Diskussion kommt mir aus unserem Geschichtsunterricht sehr bekannt vor. Ihr müsst wissen, wir beide sind heuer (in 2115) etwa 60 Jahre alt und kennen Eure Zeit im wesentlichen auch nur aus dem Geschichtsunterricht. Unsere Geschichtsbücher sehen die Entwicklung ähnlich wie wir sie angesprochen haben und wie Max sie ausgeführt hat. Dabei geht die Diskussion nicht über die alte Frage, ob diese Erkenntnis nun links- oder rechtslastig, konservativ oder fortschrittlich ist. Die beschriebene Situation hat sich in den dann folgenden Jahrzehnten durch weitere heftige Krisen des Wirtschaftssystems so verschärft, dass wir etwa im Jahr 2050 vor massiven Unruhen standen und das vor uns her geschobene Problem endlich lösen mussten. Die alte Parteienlandschaft hatte sich völlig aufgelöst. Es gab nur noch eine Vertretung der ›Reichen und Vermögenden‹ und letztlich eine Reihe von Parteien, die den verarmten kleinen Mann vertraten. Hehre Ziele wie Freiheit, Solidarität, Menschenwürde sowie Tugenden wie Vertrauen, Zuverlässigkeit, Mitmenschlichkeit waren in aller Munde, nur nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die führende Kaste, die sich durch Vermögen und hohes Einkommen auszeichnete, trat immer noch für jene Ziele ein, deren Verfolgung ihnen, ohne Rücksicht auf die Mehrzahl der Bevölkerung, Ertrag in ihre Taschen spülte. Leistung wurde zwar immer vehement eingefordert, aber eben so definiert, dass Leistung wesentlich in einer Einheit gemessen wurde, über die die Wirtschaftseliten im Überfluss verfügten – also Geld. Die Mehrzahl der abhängig Beschäftigten war damit zwangsläufig in der Kategorie ›underperformer‹ versammelt und hatte sich ständig zu rechtfertigen und den Vorwurf der ›Trägheit‹ abzuwehren. Das haben sich die Leute irgendwann nicht mehr gefallen lassen, und im Rahmen einer neuerlichen Krise kam es dann zum gesellschaftlichen Big Bang. Aber den Bericht über das Ereignis wollen wir noch zurückstellen. Gruß – Immanuel«

    »Das, was er hier äußert, ist nicht sehr beglückend. Ist das, was diese beiden aus der Entfernung glauben erkennen zu können, in Ansätzen auch bei uns heute schon erkennbar?«

    Die Innenansicht

    »Ich weiß nicht, ob das so einfach ist. Aber ich will es mal versuchen, denn ich habe eine Idee, die diese Sicht der Zusammenhänge stützen würde. Es geht dabei um Struktur und Ziel.

    Wir verstehen uns als komplexe, hoch entwickelte Gesellschaft, die nach allgemeiner Auffassung demokratischen Regeln folgt. Es besteht auch, so meine ich, ein Einverständnis, dass die demokratischen Regeln dazu führen, dass Entscheidungen langsam erfolgen und manchmal verschlungene Wege gehen, bis eine Meinung gebildet ist, die i.d.R. nicht zu Extremen neigt. Das ist die Schwäche des demokratischen Systems, die gleichzeitig aber auch seine Stärke darstellt.

    Unsere Gesellschaft in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern hat eine Reihe von systemischen Untergliederungen, die deshalb als so wichtig angesehen werden, weil sie auch wesentliche Teile unserer Identität und Anerkennung hervorbringen. Ein bedeutendes Subsystem unserer Gesellschaft ist unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem. Historisch gesehen, hat sich diese Struktur in den letzten rund hundert Jahren stark verändert. Die Strukturen waren früher in erster Linie auf die Versorgung gerichtet, um dem Mangel zu entkommen. Der Mangel ist lange überwunden; heute verwaltet die Struktur eher den Überfluss und hat sich dabei von einer produktionsorientierten Versorgungswirtschaft zu einer primär geldorientierten Wirtschaft gewandelt. Das primäre Ziel einer Vielzahl von Unternehmen ist nicht mehr die Produktion und Versorgung einer bestimmten Bevölkerung mit Gütern, sondern die Erzielung einer Geldrendite, also tendenziell die Produktion von Reichtum. Die meisten Top-Probleme eines Unternehmens drehen sich nicht um die Frage der Versorgung, Produktion und Bereitstellung von Gütern, sondern um Fragen des Geldes, seines effizienten Einsatzes und seiner Rentierlichkeit. Das ist die reine Shareholder-Perspektive, bei der das Geschäftsmodell nur Mittel zum Zweck ist. Seine Pervertierung erfährt das gegenwärtige System im Finanzmarkt mit dem ernsthaften Versuch, schlicht Geld aus Geld zu machen.

    In diesem Wirtschafts-Subsystem herrschen aber nicht die gleichen Regeln wie im Gesamtsystem. Das Wirtschaftssystem arbeitet über Verfahren und Einstellungen, die man beim besten Willen nicht demokratisch nennen kann. Die Folge sind Herrschaftsformen, die wesentlich vom Eigentum bestimmt sind. Das kapitalistische System fußt auf Eigentum, verstanden als ein Recht, andere von den Nutzungen dieses Rechtes auszuschließen. Wer das Recht hat, handelt und fragt nicht, weil das Eigentumsrecht Grundlage unserer Wirtschaft ist. Wir haben deshalb in der Wirtschaft Entscheidungsbefugnisse zugelassen, die hierarchisch von oben nach unten durchstrukturiert sind. Widerspruch ist i.d.R. nicht erwünscht und wird i.d.R. nicht geduldet. Wenn er trotzdem kommt, muss sich der Widersprechende versichert haben, dass sein Einwand breite Unterstützung erfahren wird. Kritik bleibt ein hohes Risiko, und deshalb gibt es dieses Phänomen im Wirtschaftssystem eher selten.«

    Ausgangsfrage: Merkantile oder humane Werte

    »Vergleichen wir dieses System mit den demokratischen Regeln des Gesamtsystems, so müssen wir, was Schnelligkeit, Effektivität und Durchsetzungsfähigkeit betrifft, leider feststellen, dass das Wirtschaftsteilsystem dem demokratischen Gesamtsystem unter dem Gesichtspunkt der Effizienz überlegen ist. Auf der anderen Seite fehlt den privaten wirtschaftlichen Entscheidungen i.d.R. der gesellschaftliche Bezug, weil die Entscheidungen unter dem Primat der Eigentumsordnung legal ohne Rücksicht auf andere, insbesondere nicht wirtschaftliche (z.B. soziale) Interessen getroffen werden können. Das ist nicht selbstverständlich, sondern es ist ein demokratisch verfasstes Zugeständnis, welches das Gesamtsystem der merkantilen Ordnung unter der Voraussetzung zubilligt, dass sie dem Wohle der Allgemeinheit dient (Art. 14, II GG).

    Solange die Politik machtvoll als Repräsentant des gesellschaftlichen Gesamtsystems auftritt und die für den Menschen angemessenen Prioritäten verfolgt, ist der Wettbewerb der Teilsysteme kein grundsätzliches Problem. Es wird aber zum Problem, wenn es dem Subsystem gelingt, über seinen

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