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Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit: Sozialpolitisches Handeln am Beispiel Deutschlands und Finnlands
Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit: Sozialpolitisches Handeln am Beispiel Deutschlands und Finnlands
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eBook327 Seiten3 Stunden

Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit: Sozialpolitisches Handeln am Beispiel Deutschlands und Finnlands

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Über dieses E-Book

Welchen Einfluss haben die sozialen Menschenrechte auf den heutigen Sozialstaat? Dieser Frage geht Ingo Stamm in seiner rechtssoziologischen Studie nach.

Obwohl die Menschenrechte seit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in zahlreichen internationalen und supranationalen Verträgen verankert wurden, finden sie de facto kaum Beachtung. So auch das Recht auf soziale Sicherheit, wie es unter Artikel 9 des UN-Sozialpaktes festgeschrieben ist.

Im Rahmen dieses Rechts legt der Autor seinen Fokus auf das Risiko Arbeitslosigkeit und analysiert das sozialpolitische Handeln in Deutschland und Finnland. Am Beispiel der gegenwärtigen Arbeitslosensicherungssysteme setzt er das dort vorgefundene Menschenbild in Kontrast zum Menschenbild der Menschenrechte. Hierfür untersucht er unter Anwendung der Objektiven Hermeneutik Dokumente aus beiden Ländern. Das Ergebnis zeigt, dass beide Länder, wenngleich auch in unterschiedlicher Intensität, arbeitslosen Personen weite Teile ihrer Autonomie entziehen, indem sie sie zu Erziehungsobjekten machen. Beide Staaten laufen dabei Gefahr, das Autonomieversprechen der sozialen Menschenrechte zu missachten.

Mit der Fokussierung auf das Recht auf Einkommen in der Arbeitslosigkeit gewinnt die Studie an zusätzlicher Brisanz – wird doch in vielen europäischen Ländern im Zuge der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik immer strenger eine Gegenleistung von den Leistungsempfängern der Sozialen Sicherheit gefordert bzw. werden Sanktionen gegen Bürger eingeleitet, die zu wenige arbeitsmarktrelevante Aktivitäten vorweisen können.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Juni 2015
ISBN9783864967627
Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit: Sozialpolitisches Handeln am Beispiel Deutschlands und Finnlands
Autor

Ingo Stamm

Ingo Stamm ist Sozialpädagoge und Sozialwissenschaftler. Er ist Absolvent des Masterstudiengangs »Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession« in Berlin und hat im Fach Soziologie an der Universität Siegen und an der finnischen University of Jyväskylä promoviert. Neben den Themen Arbeitslosigkeit und Armut beschäftigt er sich intensiv mit zivilgesellschaftlicher Menschenrechtsarbeit. Sein praktischer Arbeitsschwerpunkt liegt derzeit im Bereich der internationalen Sozialen Arbeit. Daneben ist er an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Bereich Rekonstruktive Soziale Arbeit als Lehrbeauftragter tätig.

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    Buchvorschau

    Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit - Ingo Stamm

    1  Einleitung

    Als im Jahr 2001 eine Delegation der Bundesrepublik Deutschland vor dem UN-Sozialausschuss in Genf den vierten Staatenbericht über die Verwirklichung der Rechte des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vorstellte, kam es zu einem kleinen Eklat. Der Leiter der Delegation gestand ein, dass es im Bereich der Altenpflege soziale Missstände gibt, die als Menschenrechtsverletzungen zu werten sind (vgl. Hausmann 2002). Dabei gerieten vor allem die Rechte auf eine angemessene Ernährung und auf die Gesundheit älterer Menschen in Heimen ins Blickfeld. Auch das System der sozialen Sicherung wurde vom Expertengremium der Vereinten Nationen kritisiert (vgl. CESCR 2001). Angestoßen durch diesen Vorfall blieb das Thema „Altenpflege" bis heute Gegenstand öffentlicher Debatten, die soziale Dimension der Menschenrechte war jedoch schnell wieder vergessen. In ähnlicher Weise wiederholte sich dieser Vorgang im Jahr 2011, als es um die Reaktion des UN-Sozialausschusses auf den fünften Staatenbericht Deutschlands ging. Hier konzentrierte sich die kurze Medienaufmerksamkeit vor allem auf das Ausmaß von Kinderarmut in Deutschland.¹ Die Resonanz der Bundesregierung bestand kurzgefasst darin, die Vorwürfe für überzogen zu erklären und damit die Kritik des Expertenausschusses aus Genf abzuweisen. Wieder verschwand das Thema internationale Sozialrechte zügig aus der öffentlichen Diskussion.

    Es scheint sich also beim System der sozialen Menschenrechte² – mittlerweile etabliert durch zahlreiche Normen der International Labour Organization (ILO), durch die Europäische Sozialcharta und nicht zuletzt durch den UN-Sozialpakt – und der nationalen Sozialgesetzgebung um zwei komplett unterschiedliche Rechtssphären zu handeln, die nebeneinander und weitgehend ohne Schnittmenge existieren. Es kommt offenbar nur selten vor, dass sie aufeinandertreffen und die Auswirkungen dieser kurzen „Kollisionen an die Öffentlichkeit geraten. Wird bezüglich der Länder des Südens derzeit eine intensive Debatte über globale soziale Rechte geführt (vgl. Fischer-Lescano/Möller 2012), scheint für Europa eher die Annahme zu gelten, dass internationalen Abkommen über Sozialrechte in elaborierten Sozialstaaten³ lediglich eine symbolische Bedeutung zukommt. Der Status der sozialen Menschenrechte als vermeintlich „vergessene Menschenrechte (Weiß 2000) geht jedoch nicht nur auf die Politik zurück, auch die Sozial- und Rechtswissenschaften, die sich mit Sozialpolitik und Sozialrecht beschäftigen, schenken dem Thema kaum Beachtung. So veröffentlichte der Politikwissenschaftler Michael Krennerich (2013) erst kürzlich das erste Standardwerk über soziale Menschenrechte im deutschsprachigen Raum.⁴

    Erstaunlicherweise befasst sich selbst die international vergleichende Sozialstaatsforschung kaum mit internationalen Sozialrechten. Sie werden entweder gänzlich ausgespart oder in ihrer Wirkkraft von vornherein als marginal angesehen.⁵ So äußert sich Franz-Xaver Kaufmann, der sich als einer der wenigen intensiv mit der Entstehung des Menschenrechtssystems und seiner sozialen Dimension auseinandergesetzt hat, in eindeutiger Weise:

    „Es fällt auf, dass in der soziologischen und sozialpolitischen Literatur auf die Menschenrechtsdoktrin nur selten Bezug genommen wird. Auch in der umfangreichen vergleichenden Forschung zur Wohlfahrtsstaatsentwicklung spielt sie keine Rolle." (Kaufmann 2003c: 41)

    Gleichwohl erkennt Franz-Xaver Kaufmann in der menschenrechtlichen Programmatik der sozialen Sicherheit ein „Kriterium guter Gesellschaftsentwicklung (2003b: 103) und schreibt internationalen Abkommen zur Sozialpolitik zumindest die Rolle einer „Rückschrittsbremse (ebd.) zu, wenn sie schon nicht als Motor dienen könnten. In welcher Weise diese internationalen, sozialpolitischen Abkommen diese Rolle erfüllen (können) oder welche Funktion ihnen allgemein zukommt, führt Kaufmann jedoch nicht aus.

    An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an und fragt, in welchem Zusammenhang soziale Menschenrechte und nationale Sozialpolitik stehen. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem modernen System der Menschenrechte als Teil des Völkerrechts, die historischen Wurzeln der Menschenrechte werden jedoch ebenfalls in den Fokus genommen. Das Erkenntnisinteresse der Arbeit besteht zunächst darin, das weitgehend unbekannte Feld der sozialen Menschenrechte zu erschließen. Darauf aufbauend soll dann die Beziehung zwischen nationaler und internationaler Ebene untersucht werden.

    Eine solche Fragestellung kann sich allerdings nicht auf das gesamte Feld der Sozialpolitik beziehen. Daher musste vorab eine Einschränkung vorgenommen werden: Hinsichtlich der Menschenrechte entschied ich mich, das Recht auf soziale Sicherheit – Artikel 9 des UN-Sozialpakts – ins Zentrum zu stellen. Das Recht kann als Generalklausel verstanden werden, die mit allen anderen Paktartikeln in Verbindung steht (vgl. Scheinin 2001a). Unter sozialer Sicherheit verstehe ich grundsätzlich die staatliche Aufgabe, ein System zu schaffen, das den Einzelnen vor allgemeinen Lebensrisiken schützt (vgl. Schulte 2000: 21). Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit verlangt in seiner normativen Auslegung durch den UN-Sozialausschuss die Abdeckung von wenigstens neun Risiken, darunter Krankheit, Alter, Behinderung und Arbeitslosigkeit (vgl. CESCR 2008). Da Systeme sozialer Sicherheit also wiederum aus zum Teil enorm großen Teilsystemen bestehen, musste auch hier eine Einschränkung vorgenommen werden. Innerhalb des Rechts auf soziale Sicherheit konzentriere ich mich auf das Risiko „Arbeitslosigkeit" und damit auf den Bereich der .arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit.

    Dies hat verschiedene Gründe: Für Robert Castel ist Erwerbsarbeit, mehr noch als in der Vergangenheit, zum „Epizentrum" der sozialen Frage geworden:

    „Etwas differenzierter ausgedrückt, bildet ein festes Arbeitsverhältnis in Form einer Anstellung die Grundvoraussetzung gesellschaftlicher Integration, während ein unglückliches Verhältnis zur Arbeit wie Arbeitslosigkeit oder die Einrichtung in prekären Arbeitsbedingungen die nötigen Voraussetzungen, um einen Platz in der Gesellschaft zu haben oder als vollwertiges Individuum zu gelten, in Frage stellen oder daran hindern, sie zu erlangen." (Castel 2011: 37)

    Dieser These folgend, scheint eine Untersuchung über den Stellenwert der sozialen Menschenrechte im Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit besonders vielversprechend zu sein. Manches deutet daraufhin, dass dieser Bereich zum exemplarischen Experimentierfeld für Sozialpolitik allgemein geworden ist. Mögliche Veränderungen im Verhältnis zwischen Staat und Bürger drücken sich am ehesten innerhalb dieses Feldes aus, da die Absicherung von Arbeitslosen legitimationsbedürftiger ist als andere Bereiche der sozialen Sicherheit. Hier scheint sich die ebenfalls von Castel (2009) konstatierte Rückkehr „sozialer Unsicherheit" in Europa als Erstes zu zeigen. Zu den Veränderungen in den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor. Doch auch hier wird in der Regel kein Bezug zu den sozialen Menschenrechten hergestellt.

    Nun liegt es nahe, die Bedeutung internationaler Sozialrechte in einer international vergleichenden Studie zu untersuchen. Wie bereits festgestellt, wird das Menschenrechtssystem in den zahlreichen Veröffentlichungen der vergleichenden Sozialstaatsforschung disziplinübergreifend vernachlässigt. Außerdem stellte sich mir die Frage, ob die Nichtbeachtung sozialer Menschenrechte ein „deutsches" Phänomen ist, das beispielsweise auf dem hohen Status der Sozialversicherungen als selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts beruht. Die Untersuchung bezieht daher neben Deutschland auch den finnischen Sozialstaat mit ein. Die Wahl fiel auf Finnland zunächst aufgrund der Annahme, dass es sich bei diesem Land als Teil des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregimes (vgl. Esping-Andersen 1990) um einen kontrastierenden Fall zum deutschen Sozialstaat handelt. Deutschland gilt gemeinhin als einer der Prototypen des konservativ-kooperatistischen Regimes. Zudem existiert nach meinem Kenntnisstand bisher kein Vergleich zwischen dem System sozialer Sicherheit (oder eines Teilbereichs) in Deutschland und in Finnland.⁶ Auch in größere internationale Vergleichsstudien wird der nördlichste EU-Mitgliedsstaat nur selten mit einbezogen. Zu guter Letzt sprach für die Auswahl von Deutschland und Finnland, dass der Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in beiden Ländern in den letzten 20 Jahren Schauplatz zahlreicher und zum Teil grundlegender Reformen war.⁷

    Beide Länder bekennen sich in diversen Abkommen zu den internationalen Menschenrechten; unter anderem gehören sie zu den derzeit 164 Staaten (Stand: März 2015), die den UN-Sozialpakt ratifizierten. Sie verpflichteten sich dadurch zu einer regelmäßigen Berichtlegung über die Verwirklichung der Paktrechte. Diese beinhalten, wie eingangs für Deutschland beschrieben, auch einen Dialog mit dem zuständigen Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR) in Genf. Der UN-Sozialpakt hat in beiden Staaten den Status einfachgesetzlichen Rechts. Das Menschenrecht auf soziale Sicherheit ist damit in Deutschland und Finnland geltendes Recht.

    Wie schon deutlich angeklungen, ist die vorliegende Arbeit interdisziplinär angelegt. Entstanden vor dem Hintergrund meiner Praxiserfahrung als Sozialarbeiter in der Arbeits- und Sozialverwaltung bezieht sie sich inhaltlich sowohl auf die (rechts-)soziologische und politikwissenschaftliche (vergleichende) Sozialstaatsforschung als auch auf die Rechtswissenschaften, hier insbesondere auf völkerrechtswissenschaftliche Studien.

    Fragestellung

    Die zentrale Frage der Arbeit lautet: Welchen Einfluss hat das Menschenrecht auf soziale Sicherheit – eingegrenzt auf die Absicherung des Risikos „Arbeitslosigkeit" – auf das sozialpolitische Handeln in Deutschland und Finnland. Um die Fragestellung für meine Fallstudien handhabbar zu machen, stellt sich für mich die weitere Frage, welches Menschenbild dem Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in beiden Ländern zugrunde liegt und inwieweit dieses in Kontrast zum Menschenbild der Menschenrechte steht.

    Für ein besseres Verständnis meines Vorgehens bedarf es zunächst einer Präzisierung der Formulierung „sozialpolitisches Handeln". Da soziale Menschenrechte der Hauptgegenstand der Untersuchung sind, bezieht sich dieses Handeln primär auf den Staat bzw. staatliche Stellen der Arbeits- und Sozialverwaltung. Das moderne Verständnis der Menschenrechte als Bestandteil völkerrechtlicher Verträge sieht immer die öffentliche Ordnung und seine Institutionen als primäre Pflichtenträger in der Verantwortung (vgl. Menke/Pollmann 2007). Mit Handeln ist hier also im Wesentlichen die Ausgestaltung von Recht gemeint. Die Gesetzgebung ist direkt auf politische Entscheidungen bzw. Regierungshandeln zurückzuführen. Der Staat hat eine Monopolstellung bei der Rechtssetzung, wobei die Menschenrechte als internationales Recht, das erst in nationale Gesetzgebung transferiert werden muss, eine gesonderte Stellung einnehmen. Selbstverständlich entfaltet sozialpolitisches Handeln auf der Ebene der Implementierung von Gesetzen und Verordnungen in vielfältiger Weise und nahezu in allen Lebensbereichen Wirkung. Eine Ausweitung der Arbeit auf diese Ebene hätte die Grenzen der Durchführbarkeit jedoch überschritten.

    Der Frage nach dem Menschenbild kommt eine bestimmte Funktion zu. Das Menschenbild des modernen Menschenrechtssystems fasst den Menschen primär als Träger subjektiver, universeller und unveräußerlicher Rechte auf, die der Sicherung gleicher Autonomie dienen. Dabei sind nicht nur die „klassischen" bürgerlich-politischen Menschenrechte, sondern auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte mit einbezogen.⁹ Der Rechtswissenschaftler Winfried Brugger sieht folgende Vorteile in seiner Vorstellung von einem Menschenbild der Menschenrechte:

    „Der Rekurs auf das Menschenbild verspricht eine zusammenfassende, ganzheitliche Sicht der Menschenrechte. Das ist angesichts der Vielzahl dessen, was heute als Menschenrecht positivrechtlich anerkannt oder eingefordert wird, ein Vorteil, denn so kann eine gedankliche Konzentration auf das Universelle im Partikularen und das Verbindende im Trennenden erfolgen." (Brugger 2007: 217)

    Ich gehe weiter davon aus, dass auch allen sozialpolitischen Entscheidungen und dem daraus resultierenden Handeln immer eine Vorstellung vom Menschen, meist Adressat sozialpolitischer Maßnahmen, zugrunde liegt. Ein Menschenbild wird also stets implizit mitgedacht und ist latent vorhanden. Daher bietet sich für die Analyse der Dokumente das Interpretationsverfahren der objektiven Hermeneutik an, da dieses auf die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen abzielt (vgl. Oevermann 1981, 2002). Die Fallstudien zu Deutschland und Finnland setzen sich aus der Analyse mehrerer Dokumente aus den Bereichen Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung zusammen.

    Der Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit soll dabei ausdrücklich nicht im Sinne einer Politikfeldanalyse, beispielsweise mit Blick auf Zugangsbedingungen, Leistungsumfang und Bezugsdauer, in vergleichender Weise untersucht werden. Es kann und soll sich außerdem nicht um eine vergleichende, normative Bewertung über die Verwirklichung des Rechts im Sinne einer (völker-)rechtswissenschaftlichen Expertise handeln.¹⁰ Im Mittelpunkt steht im Sinne einer soziologischen Herangehensweise die Beziehung zwischen Staat und Individuum (vgl. Kaufmann 2009: 85).

    Ziel meiner rekonstruktiven Forschungsarbeit ist es, im Ergebnis eine Kontrastierung des Menschenbilds der Menschenrechte mit dem impliziten Menschenbild der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in Deutschland und Finnland vorzunehmen. Es kommt also in gewisser Weise zu einem doppelten Vergleich: Zunächst untersuche ich, inwieweit sich die Menschenbilder auf den zwei verschiedenen Ebenen gleichen oder unterscheiden; in einem zweiten Schritt gehe ich der Frage nach, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede diesbezüglich zwischen beiden Ländern zu identifizieren sind. Die Zusammenführung der Ergebnisse der zwei Fallstudien zu Deutschland und Finnland soll Antworten liefern, was beide Länder im Hinblick auf die Bedeutung der sozialen Menschenrechte verbindet und was sie trennt. Die Frage nach dem Menschenbild dient also als eine Art Indikator für die Wirkkraft des Menschenrechts auf soziale Sicherheit. Dabei versuche ich im Fazit, von dem übergreifenden Konzept des Menschenbilds der Menschenrechte zu einem differenzierteren Blick auf das Recht auf soziale Sicherheit zu kommen. Die Ergebnisse der Arbeit sollen sowohl einen Beitrag für die soziologische Sozialstaatsforschung liefern als auch als Basis für weiterführende Studien zum professionellen Handeln von Sozialarbeitern¹¹ im Bereich der Arbeits- und Sozialverwaltung und angrenzender Arbeitsfelder dienen.

    Aufbau der Arbeit

    Kapitel 2, das der Einleitung folgt, nimmt das System sozialer Menschenrechte allgemein in den Fokus. Es fasst die Entwicklung der Menschenrechte von rein moralisch verstandenen Rechten hin zu ausdifferenzierten, völkerrechtlich verbrieften Normen in knapper Form zusammen. Daran anschließend werden aktuelle Begründungstheorien zu sozialen Menschenrechten vorgestellt. Dabei wird auf die Sichtweise der sozialen Menschenrechte als Freiheitsrechte besonders eingegangen und das Menschenbild der Menschenrechte für die späteren Fallrekonstruktionen expliziert. Das Kapitel schließt mit einem kurzen Blick auf Kontroversen und Kritik sowie einer Diskussion über das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschenrechte.

    Kapitel 3 ist dem Recht auf soziale Sicherheit, vor allem seiner Ausgestaltung innerhalb des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte der Vereinten Nationen gewidmet. Zunächst werden der Pakt und seine Entstehung beschrieben, außerdem wird auf aktuelle Kontroversen zu internationalen Sozialrechten eingegangen. In Kapitel 3.3 wird dann der überaus kurze, aber zentrale Artikel 9 des UN-Sozialpakts anhand des Allgemeinen Kommentars (General Comment) Nr. 19 des UN-Sozialausschusses im Detail beschrieben. Dabei werde ich vor allem den Geltungsbereich und die wesentlichen Strukturelemente vorstellen und die Frage nach den staatlichen Pflichten zu beantworten versuchen. Diese Beschreibung erfolgt bereits mit einem Fokus auf das Risiko „Arbeitslosigkeit".

    Kapitel 4 bezieht dann das System der sozialen Menschenrechte auf zwei bekannte Studien der vergleichenden Sozialstaatsforschung. Dabei werden vor allem Gøsta Esping-Andersens Drei-Welten-Theorie mit seinen Erweiterungen und der damit verbundenen Kritik (vgl. Esping-Andersen 1990, 1999) und Franz-Xaver Kaufmanns „Varianten des Wohlfahrtsstaats" (vgl. Kaufmann 2003a) vor dem Hintergrund der Fragestellung präsentiert. Beide Studien heben die Wichtigkeit sozialer Rechte hervor und erwähnen auch die Ebene der Men- (ebd.: 39–42), schreiben ihr aber keine tragende Rolle zu und lassen sie demnach nicht explizit in ihre Untersuchungen einfließen. Dabei soll die identifizierte Forschungslücke, welche die vorliegende Arbeit in Ansätzen zu schließen versucht, konkretisiert werden. Dieses Vorhaben kann natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Da die Veröffentlichungen zur vergleichenden Sozialstaatsforschung mittlerweile kaum zu überblicken sind, war eine Selektion unumgänglich.

    Kapitel 5 kommt eine zentrale Position innerhalb der Arbeit zu. Nach einer kurzen Vorstellung und Begründung des methodischen Zugangs mittels der Textinterpretation der objektiven Hermeneutik folgen die zwei Fallstudien zu Deutschland und Finnland. Beiden Teilen ist jeweils ein kurzer historischer Abriss über die Entwicklung von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenunterstützung vorangestellt. Dies geschieht im Unterkapitel zu Finnland aufgrund der bereits konstatierten Wissenslücke aus deutscher Sicht ausführlicher. Zur Untersuchung der Situation in Deutschland wurden der Bericht der Hartz-Kommission, der aktuelle Text des Sozialgesetzbuches II und eine Informationsbroschüre der Bundesagentur für Arbeit einer Analyse unterzogen. Für den finnischen Fall wurden drei zentrale Gesetzestexte und ebenfalls eine Broschüre für Arbeitslose für die Textinterpretationen ausgewählt. Die Ergebnisse der Interpretationen werden jeweils am Ende der Länderkapitel zusammengefasst.

    Im abschließenden Kapitel 6 werden die Ergebnisse der beiden Länderstudien zusammengeführt und diskutiert. Dabei wird unter anderem gezeigt, dass das implizite Menschenbild im Bereich der arbeitsmarktbezogenen sozialen Sicherheit in Deutschland und in Finnland strukturell ähnlich ist. Das Kapitel endet mit einer kurzen Bewertung der Ergebnisse im Hinblick auf die Bedeutung wohlfahrtsstaatlicher Regime und mit einem Ausblick auf weiterführende Forschungsvorhaben.


    ¹Exemplarisch sei hier auf die Artikel „Uno kritisiert deutsches Sozialsystem (Spiegel-Online 2011) und „Vereinte Nationen rügen deutsche Sozialpolitik (Meisner 2011) im Spiegel und Tagesspiegel verwiesen.

    ²Ich verwende die Begriffe „soziale Menschenrechte, „internationale Sozialrechte sowie „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte" (kurz: wsk-Rechte) in der vorliegenden Arbeit synonym.

    ³In der vorliegenden Arbeit verwende ich trotz des international etablierten Begriffs „welfare state" mehrheitlich den in Deutschland üblichen Begriff „Sozialstaat", siehe Lessenich (2012a: 25–27).

    ⁴Auch im Rahmen internationalen Rechts ist die vorliegende Literatur zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten überschaubar; exemplarisch sei hier auf die Sammelbände von Eide et al. (2001), Chapman/Russell (2002) sowie Baderin/McCorquodale (2006a) verwiesen. Innerhalb der Sozialen Arbeit ist die soziale Dimension der Menschenrechte wesentlich von Silvia Staub-Bernasconi (2003, 2013) eingebracht worden.

    ⁵Beispielhaft können hierzu folgende Studien und Einführungswerke genannt werden: Esping-Andersen (1990), Seeleib-Kaiser (2001), Kaufmann (2003a), Schmidt (2005), Schmidt et al. (2007), Schubert et al. (2008), Schmid (2010), Van Aerschot (2011).

    ⁶Aufgrund meiner Sprachdefizite beruhen meine Kenntnisse über die Situation in Finnland notgedrungen auf Veröffentlichungen in Englisch oder Deutsch und beschränken sich daher auf bestimmte Autoren.

    ⁷Für Deutschland sei hier exemplarisch auf Lessenich (2008), Ludwig-Mayerhofer et al. (2009) und Dingeldey (2011), für Finnland auf Keskitalo (2008) und Van Aerschot (2011) verwiesen. Über das Verhältnis zwischen sozialer Arbeit und (neuer) Arbeitsmarktpolitik in Deutschland siehe die beiden Bände von Burghardt/Enggruber (2005, 2010) sowie von Dahme/Wohlfahrt (2005).

    ⁸Zum Status von Menschenrechtsverträgen in Deutschland siehe Schneider (2004); für Finnland sei auf die Aufsätze des finnischen Völkerrechtlers Martin Scheinin (2001c, 2002) verwiesen.

    ⁹Auf die Debatte über den Ursprung des Menschenbilds der Menschenrechte, die auch in engem Zusammenhang mit der Frage nach der kulturübergreifenden Geltung der Menschenrechte steht (vgl. Menke/Pollmann 2007: 74–98), kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.

    ¹⁰Rechtswissenschaftliche Studien, die sich explizit mit dem Menschenrecht auf soziale Sicherheit in Deutschland und Finnland befassen bzw. einen europäischen Vergleich anstreben, liegen m.W. nicht vor. Rechtsvergleichende Studien zu sozialen Grundrechten in Europa allgemein siehe Matscher (1991) sowie die umfangreiche Studie (einschließlich Deutschlands und Finnlands) von Iliopoulos-Strangas (2010).

    ¹¹In der vorliegenden Arbeit verwende ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit grammatikalisch die männliche Form. Dabei sind jedoch stets beide Geschlechter gemeint.

    2  Soziale Menschenrechte

    2.1  Begriff und historische Entwicklung

    Zwei Hinweise sind vorab wichtig: Erstens wird die Geschichte der Menschenrechte gemeinhin in zwei Zeitalter aufgeteilt, in die Entwicklungsphase vor der Gründung der Vereinten Nationen und in die Zeit danach. Zweitens gibt es nicht den einzig wahren Begriff der Menschenrechte. Nach wie vor werden über Idee und Konzept der Menschenrechte lebhafte Debatten geführt. Bestehende Menschenrechte werden in neuen Abkommen für bestimmte Gruppen spezifiziert, es entstehen neue Instrumente der Überwachung und einzelne Normen werden weiterentwickelt und präzisiert. Die Menschenrechte als Teil des Völkerrechts müssen also als ein offenes Konzept verstanden werden. Dies zeigt sich gerade auch mit Blick auf die sozialen Menschenrechte.

    Ihr Ursprung liegt in der Antike und fand mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der Virginia Declaration of Rights von 1776, und der Französischen Revolution mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, der Déclaration des Droits de l’homme et du Citoyen von 1789, ihre ersten Höhepunkte.¹² Die „stille Revolution (Menke/Pollmann 2007: 26) hin zum modernen Menschenrechtssystem, das Ausgangspunkt dieser Arbeit ist, entstand jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Zuge der Gründung der Vereinten Nationen und mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) im Jahr 1948 wurden die Menschenrechte Teil internationalen Rechts. Insbesondere die AEMR war eine eindrucksvolle Antwort auf die durch das Nazi-Regime begangenen „Akte der Barbarei, wie es in der Erklärung heißt, und auf die weltweite Verwüstung, die durch den Zweiten Weltkrieg entstanden war. Der bekannte Völkerrechtler Christian Tomuschat bezeichnete diesen Zeitpunkt daher auch als „kopernikanische Wende des Völkerrechts" (2002: 14). Die historische Entwicklung der Menschenrechte in ihrer sozialen Dimension soll an dieser Stelle allerdings nur in Ansätzen, insbesondere im Hinblick auf die Entstehung gängiger Systematisierungen, erläutert werden.

    Doch zur begrifflichen Klärung zunächst einige Schritte zurück: Rechte sind gerechtfertigte bzw. rechtfertigbare Ansprüche von Person(en) X, den Trägern des Rechts, gegenüber Person(en) Y, den Adressaten des Rechts, auf der Basis von Rechtsgründen (Gosepath 1998: 148). Wenn hier von Rechten gesprochen wird, dann sind subjektive Rechte gemeint, also Rechte, die Subjekte haben. In ihrem ursprünglichen Verständnis sind Menschenrechte moralische Rechte, es sind also moralisch begründete Ansprüche; der Rechtsgrund ist ein moralischer. Dem gegenüber stehen legale Rechte, die innerhalb eines Staates verliehene, einklagbare Ansprüche sind und „deren Verletzung mit staatlichen Zwangsmitteln sanktioniert werden" (ebd.).

    Der deutsche Philosoph Georg Lohmann bezeichnet die Menschenrechte als komplexe Rechte. Demnach haben sie seiner Meinung nach nicht nur eine moralische Dimension, sondern sie entfalten erst als „politisch gesatzte, juridische Rechte ihre volle Bedeutung" (2000b: 354). Prägnant auf den Punkt gebracht stehen die Menschenrechte zwischen einer moralischen Idealisierung und einer politisch ausgehandelten, rechtlichen Institutionalisierung (Lohmann 2000a: 9). Ähnlich sieht

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