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Bergmannsfrühstück: Ein Gladbecker Lesebuch
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eBook386 Seiten4 Stunden

Bergmannsfrühstück: Ein Gladbecker Lesebuch

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Über dieses E-Book

In einem Zeitraum von über zwei Jahren haben die Autoren Beatrix und Michael Petrikowski mit über fünfzig Zeitzeugen gesprochen, die in diesem Buch zu Wort kommen und mit ihren Biografien einen Ausschnitt der Gladbecker Geschichte aufleben lassen. Sie erzählen von ihren Erinnerungen aus ihrer frühesten Kindheit, ihrer teils gefahrvollen, interessanten oder auch spannenden Arbeit, sowie von ihren Erlebnissen und geben Anekdoten aus ihrem Leben zum Besten. Einige von ihnen können noch aus Kriegstagen mit Bombenangriffen, von der Kinderlandverschickung oder vom Hamstern bei den Bauern auf den Dörfern berichten, während andere vom Vereinsleben oder der Brauchtumspflege erzählen. Alle zusammengetragenen Geschichten verbindet ein monatlich stattfindendes Bergmannsfrühstück des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht und bei dem die verschiedensten Themen sowie die Aktivitäten der ehemaligen Bergleute an den Schulen erörtert wurden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum1. Dez. 2014
ISBN9783738685763
Bergmannsfrühstück: Ein Gladbecker Lesebuch
Autor

Beatrix Petrikowski

Beatrix Petrikowski wurde 1957 in Gelsenkirchen-Buer geboren. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt heute mit ihrem Ehemann in Gladbeck. Seit 2011 schreibt sie regelmäßig Buchrezensionen, die in dem Blog BuchAviso veröffentlicht werden, führt gelegentlich Interviews mit bekannten Autoren und hält Lesungen ab. Zu ihren Veröffentlichungen zählen vier Sachbücher, zwei Romane, ein Kinderbuch und ein Band mit Kurzgeschichten.

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    Buchvorschau

    Bergmannsfrühstück - Beatrix Petrikowski

    Autoren

    Auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus in Gladbeck

    Der Verein für Orts- und Heimatkunde hat zu einer Wanderung auf dem neuen Bergbauwanderweg eingeladen. Etwa dreißig Interessierte sind dieser Einladung gefolgt und treffen sich am 18. Mai, einem Freitagnachmittag. Startpunkt der Tour ist der Festplatz an der Horster Straße, hinter dem eine Hangböschungshalde zu sehen ist. In den Anfängen des Bergbaus wurde versucht, das anfallende Bergematerial aus dem Streckenvortrieb möglichst unauffällig in der näheren Umgebung der Schachtanlage zu verbringen. Typisch für diese Zeit sind Hangböschungshalden, wobei das Bergematerial einfach an einen Hang geschüttet wurde. Sie waren die Vorläufer der aufgeschütteten Halden, die heute im gesamten Ruhrgebiet zu sehen sind.

    Mit von der Partie sind einige Mitglieder des REVAG Geschichtskreises Zeche Graf Moltke, die den Wanderweg mit vielen interessanten Stationen angelegt haben. Er kann in einer kleinen Runde von sieben Kilometern, aber auch in voller Länge von zehn Kilometern begangen werden. Die Graf Moltke-Halde mit der schönen Aussicht, auf der Bänke zum Ausruhen und Verweilen einladen, sollte man in jedem Fall besuchen. Nach der Begrüßung und einigen einführenden Worten durch Heinz Enxing vom Heimatkundeverein und Walter Hüßhoff vom Geschichtskreis geht es trockenen Fußes, denn der von den Wetterfröschen angesagte Regen bleibt glücklicherweise aus, zum ehemaligen Gelände der Schachtanlage Graf Moltke 1/2, vorbei an schicken Eigenheimen. Hinter einer kleinen Einzäunung zeugen zwei Schachtdeckel mit Protegohauben von der Existenz der längst abgerissenen Fördertürme. Auf dem Gelände des Freizeittreffs Karo, das aus vier einzelnen Gebäuden besteht, befindet sich die erste Schautafel der Tour mit vielen interessanten Informationen und einem Luftbild der Schachtanlage Graf Moltke 1/2 aus dem Jahre 1927. Dahinter sind am Spielplatz die Überreste der Grundmauer des alten Lokschuppens zu sehen.

    Schautafel am Freizeittreff Karo

    Foto © Michael Petrikowski

    Bevor es in gemächlichem Anstieg auf die Moltke-Halde geht, von der die Teilnehmer der Wanderung einen herrlichen Blick auf die Schachtanlagen Hugo und Nordstern, die Rungenberghalde, den Tetraeder, die Stadt Gladbeck oder auch die Schalke Arena genießen können, führt der Weg durch drei Moltke-Siedlungen, die Anfang der 1950er Jahre von der „Siedlergemeinschaft gegen Wohnungsnot gegründet wurden. In der I. Moltkesiedlung ist eine weitere Schautafel zu finden, die über die Entstehung der Siedlung durch Gemeinschaftsarbeit der Bergleute informiert. Karl Otte, der viele Jahre im Bergbau als Maschinist und später im Wohnungswesen gearbeitet hat, kann den Teilnehmern zu diesem Thema viele zusätzliche Informationen geben. Auf der Halde Graf Moltke angekommen, wird bei einer Rast mit einem Schnaps das Bergmannslied „Glück auf, der Steiger kommt angestimmt. Dort rezitiert Walter Hüßhof das Gedicht „Sieben Halden Rundblick von Kurt Küther, bevor es weiter zum ehemaligen Gelände der Zeche Graf Moltke 3/4 geht, das saniert wurde und auf dem der „Gewerbepark Brauck entstanden ist. Lediglich ein altes Kauengebäude, in dessen Turm sich einmal auf allen vier Seiten eine Zechenuhr befand, ist noch erhalten geblieben.

    Die Häuser in der Phönixstraße

    Foto © Beatrix Petrikowski

    In der Phönixstraße wurden von 1898 bis 1901 Wohnungen für Bergwerksangestellte errichtet, die Häuser sind inzwischen zum größten Teil restauriert und fanden neue Bewohner. Nach einem Abstecher in die IV. Moltke-Siedlung ist im weiteren Verlauf hinter den Häusern der Steinstraße ein Stück der alten Zechenmauer zu sehen. Eine Besonderheit, die man aber leider wegen akuter Einsturzgefahr nicht besichtigen kann, ist das im Januar 1945 errichtete Stollenkrankenhaus. Der Stollen in der Halde diente der Bevölkerung während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg als Bunker. Wegen der völligen Zerstörung des Barbara-Hospitals wurde in dreimonatiger Bauzeit das Stollenkrankenhaus errichtet. Bergleute, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, aber auch Freiwillige, arbeiteten fast ununterbrochen, Tag und Nacht, daran.

    Fast wieder zurück am Ausgangspunkt, führt der Weg durch die Moltkestraße, die nach dem Krieg in Uhlandstraße umbenannt wurde. Dort ist die älteste Zechensiedlung von Gladbeck zu finden. Von Klaus-Wilhelm Rottmann, dem Vorsitzenden der I. Moltkesiedlung, erfahren die Teilnehmer viel Interessantes und Wissenswertes über die Arbeiter- und Wohnkultur in Gladbeck. Die Siedlung wurde im Jahr 1888 von der Zeche „Graf Moltke errichtet und der älteste Teil steht heute unter Denkmalschutz. Vier Familien, die zusätzlich verpflichtet waren, einen Kostgänger aufzunehmen, bewohnten ein solches Haus, zu dem jeweils ein Stall, ein Schuppen und ein Plumpsklo gehörten. Von dort führt der kürzere Weg auf die weithin sichtbare Lambertikirche zu. Auf dem Kirchplatz ist eine Skulptur von 1823 zu sehen, die das alte Dorf mit dem ursprünglichen Bachverlauf zeigt, das mit „Gladebecke Pate für die spätere Namensgebung stand. Vorbei am historischen Rathaus, vor dem eine weitere Schautafel mit Informationen aufgestellt wurde, endet der Bergbauwanderweg im Rathauspark. Hier ist der „Stein des Bergmanns" von Anatol, der bei den Bergleuten wenig Anklang fand, zu finden. Auf der letzten Station der Wanderung erläutert Heinz Enxing den Teilnehmern ausgiebig die Darstellungen auf der Stadtgeschichtssäule des Bildhauers Gottfried Kappen, die bei der städtischen Galerie im Rathauspark zu finden ist. Hier endet auch der etwa sieben Kilometer lange Bergbauwanderweg, der zu einem ersten persönlichen Kontakt zwischen uns, den Autoren, und Walter Hüßhoff führt, der uns bei dieser Gelegenheit spontan zu einem monatlich im Freizeittreff Karo stattfindenden Bergmannsfrühstück einlädt.

    Zu Gast beim Bergmannsfrühstück im Freizeittreff Karo

    Wir kommen gerne der Einladung zu einem Bergmannsfrühstück des REVAG Geschichtskreises Zeche Graf Moltke zu einem weiteren Treffen nach. Walter Hüßhoff, der 1. Vorsitzende des Vereins, stellt uns alle Mitglieder vor und wir haben sofort das Gefühl, bei den Kumpeln willkommen zu sein. An jedem zweiten Mittwoch im Monat finden sich im Bürgertreff Karo rund zwanzig ehemalige Bergleute der Zeche Graf Moltke zu einem gemütlichen Treffen bei einem deftigen Frühstück mit frischen Brötchen und Kaffee zusammen, zu dem alle Interessierten herzlich willkommen sind. Das Bergmannsfrühstück dient, außer der Kontaktpflege, auch dem Informationsaustausch und der Bekanntgabe von Terminen zu den verschiedensten Aktivitäten und Veranstaltungen. So fördert die REVAG die Bildungs- und Migrationsarbeit mit den unterschiedlichsten Projekten, in denen es um den Ruhestand oder um gesundheitliche und sportliche Aufklärung geht. Selbstverständlich gehört auch die Organisation von gut besuchten Festen und Veranstaltungen dazu.

    Die Autoren zu Gast beim Bergmannsfrühstück

    Foto © Dirk Brunngraber

    Für den Geschichtskreis Zeche Graf Moltke steht die Geschichte des Bergbaus in Gladbeck im Vordergrund, und den Mitgliedern ist es wichtig, den Bürgern die Geschichten und Erlebnisse der Bergleute näherzubringen und sie über die Entstehung der in Selbsthilfe errichteten Wohnsiedlungen zu informieren. Sie lassen Zeitzeugen zu Wort kommen und bieten Wanderungen auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus an, gehen in die Schulen, halten Vorträge und gestalten Abende, in denen Filme über die Welt unter Tage vorgeführt werden.

    Während sich alle das Frühstück schmecken lassen, kristallisiert sich ein gemeinsames Interesse an der Geschichte des Bergbaus heraus, und Walter Hüßhoff erzählt uns von seiner Idee zu einem „Gladbecker Lesebuch, in dem Zeitzeugen aus allen Bevölkerungsschichten über ihre Arbeit und ihr Leben in Gladbeck berichten. In Form von Interviews sollen sie ihre Geschichte(n) erzählen, die auch ein Teil der Geschichte der Stadt Gladbeck ist. Für uns klingt das nach einer interessanten Herausforderung und schnell werden wir uns einig, dass wir für das Buchprojekt die Interviews führen werden. Wie es sich für ehemalige Bergleute gehört, wird zum Ausklang das seit Jahrhunderten bekannte Steigerlied „Glück auf gesungen. Allen Beteiligten ist klar, dass wir uns zum nächsten Bergmannsfrühstück im folgenden Monat wiedersehen werden, und wir sprechen sofort mit dem Vorsitzenden einen ersten Termin zu einem Interview ab.

    Schicht im Schacht

    Zu diesem Treffen lädt uns Walter Hüßhoff in sein Haus ein. In der oberen Etage hat er sich, seit die Kinder ausgezogen sind, ein eigenes Reich mit Büro und Fitness-Geräten, einer gemütlichen Sitzecke und einer Küche mit einem Esstisch eingerichtet, an dem wir in den nächsten Monaten diverse Interviews führen werden. Wir sind über die Vielseitigkeit dieses Mannes überrascht, der Kurzgeschichten und Gedichte verfasst und uns die selbst gemalten Bilder zeigt, welche die Wände im Treppenhaus und in den Räumen zieren. Obwohl es noch vieles zu sehen und zu erzählen gäbe, berufen wir uns doch auf den Anlass unseres Besuchs und wollen mit dem eigentlichen Interview beginnen. Dazu macht sich jeder von uns seine eigenen Notizen, um sie später für den Text miteinander abgleichen zu können. In lockerer Atmosphäre berichtet uns Walter Hüßhoff, dass die ehemalige Schachtanlage Graf Moltke zu den ersten Bergwerken gehörte, die nach der Eingliederung in die Ruhrkohle AG stillgelegt wurden. Damit endete für diese Schachtanlage eine fast einhundertjährige Geschichte.

    Am 12. November 1971 herrschte auf der Hängebank noch reger Betrieb. Ein Kohlenwagen nach dem anderen rollte aus dem Förderkorb zur Wäsche. Neben den Offiziellen und dem Bergwerksdirektor Dinsing waren vereinzelt ehemalige Bergleute und auch einige Kumpel gekommen, die eigentlich keine Schicht hatten. Um 17.30 Uhr kam der Korb mit dem letzten blumengeschmückten Wagenhoch und als sich das Geraune legte, trat Stille ein. Wenige Stunden später verließ der letzte Kumpel den Schacht und die noch verbliebenen 1511 Bergleute wurden auf die Schachtanlage Hugo in Buer verlegt.

    Einer von diesen Bergleuten war Walter Udo Hüßhoff, der am 12. Februar 1949 in Gladbeck-Brauck auf der Klarastraße geboren wurde. Seine Wurzeln reichen mütterlicherseits bis nach Schlesien und väterlicherseits nach Mühlheim und bis in die Tschechoslowakei. Seine Eltern wurden jedoch bereits beide in Essen-Karnap geboren. Der Vater, der als Einschaler auf dem Bau beschäftigt war, wünschte sich nach einem Sohn eine Tochter, für die auch schon der Name „Waltraud" ausgesucht war. Nachdem aber nicht das ersehnte Mädchen geboren wurde, musste das Kind Walter genannt werden. Seine Mutter war als Hausfrau immer für die Kinder da und bei ihrer Schwester wohnte die vierköpfige Familie auf zwei Zimmern zur Untermiete.

    Nach dem Besuch eines Kindergartens begann für Walter Hüßhoff in der evangelischen Schillerschule an der Roßheidestraße 1955 der Ernst des Lebens. Viele Lebenserinnerungen aus dieser Zeit prägen ihn noch heute und er denkt mit einem lachenden und einem weinenden Auge an seine Kindheitstage. So wurde auf der Zeche Graf Moltke in dem Erzgang Klara eine Blei-Zink-Vererzung abgebaut und obwohl der Bereich der „Silberberge", wie die Kinder den Erzabraum nannten, natürlich nicht öffentlich zugänglich war, spielten sie auf dem Areal oft Cowboy. Bevor Walter Hüßhoff nach acht Schuljahren aus der Schule entlassen wurde, fragte ihn ein Berufsberater, was er denn gerne werden möchte. Auf seinen Berufswunsch Schlosser oder Schmied schickte ihn der Berufsberater zur Ausbildungsabteilung auf der Zeche Graf Moltke 3/4, weil dort noch Auszubildende gesucht wurden. Allein schon wegen der Deputatkohle war Walter Hüßhoff von dem Vorschlag begeistert, denn durch die ärmlichen Familienverhältnisse langte es kaum für eine ausreichende Beheizung der Wohnung. So begann er am 1. April 1963 eine Ausbildung zum Betriebsschlosser, wobei ihn gute Lehrgesellen unter ihre Fittiche nahmen, die ihn auf den richtigen Weg brachten. Seiner raschen Auffassungsaufgabe hat er es zu verdanken, dass er bei einem Schmied alles von der Pike auf erlernen durfte. Gearbeitet hat er zu dieser Zeit schon im Akkord und sogar bei großen Aufträgen zog man den Auszubildenden mit ein, und er wurde von den Älteren voll akzeptiert.

    Bis zu seinem sechzehnten Geburtstag durfte Walter Hüßhoff aber nur im Tagesbetrieb eingesetzt werden. Danach ging es für ihn ins Lehrrevier unter Tage, in dem damals noch der Abbauhammer zum Einsatz kam, und er sich als Mann unter Männern fühlte. Die Ära der Modernisierungen im Bergbau fiel in diese Zeit und so erlebte er den Übergang von den Rutschen zum ersten Panzerförderer oder auch den Einsatz der ersten hydraulischen Stempel mit. Auf der Zeche Graf Moltke hielt der automatische Ausbau mit einem ersten Gleithobel Einzug. Ab dem 1. Januar 1967 war er als Grubenschlosser in der Wasserhaltung für diverse Pumpen zuständig und konnte Reparaturen schnell durchführen. Während dieser Zeit erhielt er einen Schichtlohn von 29,33 Mark, doch wollte er so viel, wie ein Hauer im Gedinge verdienen und drohte damit, „in den Sack zu hauen". Fortan wurde er als Lehrhauer mit Zuwendung für die Nachtschichten im Gedinge eingeteilt. An selbstständiges Arbeiten am Schacht war er gewöhnt und er konnte im Jahr 1969 auf Stinnes 3/4 seine Hauerprüfung ablegen. Zug um Zug raubte er mit seinem Kumpel an einem Tag einen Streb, den sie am nächsten Tag schon wieder einbauten.

    Trotz, oder gerade wegen der vielen Arbeit verlangte es Walter Hüßhoff auch nach Abwechslung. Mit Freunden fuhr er nach Schalke zu einer großen Diskothek, in der während eines Besuches im Jahr 1970 ganz plötzlich Anne vor ihm stand und er spürte nur noch Schmetterlinge im Bauch. Selbst auf seine Arbeit konnte er sich nur noch schlecht konzentrieren, wenn er auf der 6. Sohle in einem stillgelegten Revier unterwegs war und an sie dachte. Mit Anne, die als Friseurin einen Salon in Gladbeck leitete, traf er sich danach jeden Tag und so folgte ein Jahr später die Verlobung und im Jahr 1972 die Hochzeit. Eine Tochter machte das Glück zwei Jahre später vollkommen und heute freut sich das Ehepaar über zwei Enkelinnen.

    Zu der Zeit, als Walter Hüßhoff seine Frau kennenlernte, kursierten auch erste Gerüchte um eine Schließung des Bergwerkes Graf Moltke. Auf einer Belegschaftsversammlung wurden diese Gerüchte dementiert, doch am nächsten Tag war in der Zeitung bereits von der Schließung zu lesen. Graf Moltke wurde als eine der ersten Anlagen der Ruhrkohle AG geschlossen und die Bergleute zur Zeche Hugo verlegt. Sie mussten einen geringeren Verdienst hinnehmen und sich mit großen Umstellungen vertraut machen. Während sie von Graf Moltke nur flache Lagerungen gewohnt waren, hatten sie auf Hugo mit halbsteilen und sogar steilen Lagerungen im Flöz zu kämpfen. Flöz Dickebank war schon für die Zeit modern ausgebaut und gleich in der Verlegungsschicht auf Hugo fanden Walter Hüßhoff und seine Kumpel ein Desaster vor: Ein Hobel- und kompletter Kettenriss legten den gesamten Betrieb lahm. Die Bergleute auf Hugo standen dem Unglück völlig ratlos gegenüber und niemand wusste von ihnen, wie das Problem angegangen werden könnte. Ganz anders sah es für die von Graf Moltke kommende Belegschaft aus, die in allen Tätigkeiten geschult waren. Sie packten die Arbeit an und fuhren eine doppelte Schicht, bis wieder alles lief. Bei den Kumpeln von Hugo löste das großes Erstaunen aus und man zollte ihnen Respekt. Ihr Einsatz wurde vom Bergwerk mit einer dreifach bezahlten Schicht belohnt!

    Mit siebenundzwanzig Jahren wurde Walter Hüßhoff Aufsichtshauer, war für seine Kumpel Vertrauensperson und durch seine Mitarbeit im Betriebsrat konnte er viele Kontakte knüpfen. Am 1. Mai 1986 zählte er im Kolpinghaus zu den Gründungsmitgliedern des Knappenvereins, den er für einige Jahre bis 1996 als erster Vorsitzender führte. Er erinnert sich an einen Umzug mit über eintausend Knappen während des achten Nordrhein Westfälischen Knappentages am 2. und 3. Mai 1992. Ein Höhepunkt in seinem Leben ist aber zweifellos seine Rolle als Wortführer im Bundeskanzleramt. Im Jahr 1986 stand auch der weitere Betrieb des Bergwerks Hugo auf der Kippe. Direkt nach der Nachtschicht machten sich sechs Kumpel als „Looser, wie er es nennt, auf den Weg nach Bonn, um Bundeskanzler Kohl eine Petition zu überreichen. Als „Gewinner kamen sie zurück, denn sie erreichten mit ihrem Einsatz, dass Hugo noch nicht geschlossen wurde. Mit Tränen in den Augen erzählt er uns von dem überwältigenden Gefühl, wie sie im Ruhrgebiet empfangen wurden und überall die Kirchenglocken läuteten!

    Walter Hüßhoff bei dem Musical „König von Zeche"

    Foto © Dirk Brunngraber

    Die Solidarität der Menschen im Ruhrgebiet mit dem Bergbau spürte er hautnah am 14. Februar 1997. Mit einem „Band der Solidarität" bildeten 220.000 Menschen eine knapp einhundert Kilometer lange Menschenkette quer durchs Ruhrgebiet, um für den Erhalt der Arbeitsplätze im Bergbau zu demonstrieren. Die Kette reichte von Neukirchen-Vluyn bis nach Lünen und auf einer Brücke in Duisburg-Rheinhausen standen die Menschen in Dreierreihen. Damit zählt diese Demonstration wohl zu einer der spektakulärsten in der Geschichte der Bundesrepublik und nicht nur Walter Hüßhoff dürfte an dem Tag das Herz vor Begeisterung übergeschäumt sein.

    Im Jahr 1996 ist Walter Hüßhoff aufgrund eines schweren Unfalls aus dem Berufsleben ausgeschieden und suchte nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung. Die Förderung der Jugend hat er sich zur Aufgabe gemacht und in Zusammenarbeit mit Gladbecker Schulen schon viele Projekte, wie beispielsweise die Aufführung eines Theaterstücks oder das Musical „Ich will leben und zuletzt ein Hörbuch mit den Schülern umgesetzt, was ihn mit Stolz erfüllt. Von dem Musical „Ich will leben hatten wir schon einmal gehört, doch dass es ein Projekt einer Schule war, ist uns völlig neu und wir wollen mehr darüber erfahren.

    Nach dem Theaterstück um den Bergarbeiterstreik von 1889 und dem Musical „König von Zeche war „Ich will leben bereits das dritte Schulprojekt, erklärt uns Walter Hüßhoff. Das Musical wurde nach seiner Idee mit Schülerinnen und Schülern der Erich-Fried-Schule erarbeitet. Über einen Zeitraum von fast einem Jahr probten sie mit musikalischer Unterstützung von Norbert Gerbig sowie weiterer fachkundiger Begleitung durch die Lehrkräfte Friederike Dopp, Reinhard Dannhoff und dem Berufseinstiegsbegleiter Bernd Häßler von der Erich-Fried-Schule. In dem Stück wurden Liebeskummer, Freundschaft und Zukunftsängste sowie die individuellen Lebenserfahrungen der Jugendlichen thematisiert. Die Aufführung am 6. Juni 2011 in der restlos ausverkauften Stadthalle war ein riesiger Erfolg, über den sich Schülerinnen und Schüler sowie deren Großeltern und Eltern aus fünfzehn unterschiedlichen Nationalitäten gefreut haben.

    Auf Anregung von Walter Hüßhoff hat der REVAG Geschichtskreis Zeche Graf Moltke in Gladbeck einen Wanderweg auf den Spuren des Steinkohlenbergbaus angelegt, der noch weiter ausgebaut wird. Für sein außerordentliches Engagement in zahllosen Projekten erhielt er 2011 von Bürgermeister Ulrich Roland die Ehrenplakette, die höchste Auszeichnung der Stadt Gladbeck. Im Jahr darauf wurde ihm der „Vestische Preis für Menschen mit Ideen" verliehen und er hat auch schon wieder eine neue Vision: Ein fünfundzwanzig Meter hoher Bergmann soll sich als Wahrzeichen für Gladbeck durch Windkraft auf einer Halde drehen und dabei Strom erzeugen. Damit wäre die traditionelle Figur des Bergmanns mit moderner Energiegewinnung in Einklang gebracht. Doch wird dies sicherlich nicht die letzte Idee von Walter Hüßhoff sein!

    Das Musical „König von Zeche"

    Den Mitgliedern des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke war es immer schon sehr wichtig, den jungen Leuten in den Schulen etwas über die Bergbaukultur zu vermitteln und die Schüler für verschiedene Projekte zu gewinnen und zu begeistern. Da sie bereits mit den Schülern der ehemaligen Hauptschule Butendorf erfolgreich ein Theaterstück über den Bergarbeiterstreik von 1889 erarbeitet haben, das in der Stadthalle aufgeführt wurde, lag es nahe, diesen Gedanken weiter auszubauen. So hatte Walter Hüßhoff die Idee zu einem Musical, das in Zusammenarbeit mit der REVAG und der IG BCE Ortsgruppe Gladbeck-Mitte entstand.

    Aufführung des Musicals „König von Zeche"

    Foto © Dirk Brunngraber

    An dem Projekt unter dem Titel „König von Zeche haben sich siebzehn Schüler der ehemaligen Hauptschule Butendorf beteiligt. Gemeinsam mit Bernard Brokamp vom Geschichtskreis haben sie auch das Bühnenbild erarbeitet und gebaut. Viele Kleidungsstücke und Requisiten wurden von Gladbecker Bürgern gespendet und die Kostüme in einer eigens dazu gegründeten AG von den Schülern angefertigt. Die Sozialpädagogin Sabine Leipski, die Lehrerin Katarzyna Gawron sowie der Berufseinstiegsbegleiter Bernd Häßler haben sich mit den Schülern jede Woche Dienstag getroffen und das Musical einstudiert, bei dem es um die Lebenssituation und die Arbeitsbedingungen der Menschen in den Arbeiterkolonien ging und um die Aufbaujahre in der Bundesrepublik sowie speziell in Gladbeck. Den jungen Leuten wurde dabei schnell klar, dass sich ihre eigenen Probleme und Wünsche gar nicht so sehr von denen ihrer Eltern oder Großeltern unterscheiden, denn auch in den Nachkriegsjahren drehte sich vieles um die erste Liebe. Norbert Gerbig, der mit den Schülern die musikalischen Beiträge einstudierte, hat zum Stichwort „Liebe dann auch den seinerzeit bekannten Schlager „Schuld war nur der Bossa Nova" mit in die Darbietung eingeflochten. Bei der Aufführung am 4. Juni 2010 in der Stadthalle wurden die Eltern und Großeltern der jungen Darsteller an die alten Zeiten erinnert, als noch regelmäßig ein Klüngelskerl durch die Straßen zog und viele Bergmänner Tauben hielten. Eis genoss man in Gladbeck in der Eisdiele Capri und nach der Maloche trafen sich die Kumpel auf ein Bier in der Glückauf Wirtschaft oder in der Gaststätte Dietzel.

    Schachtzeichen und andere Aktivitäten des Geschichtskreises

    Dass die ehemaligen Bergleute nicht ständig in Erinnerungen an ihre Zeit als Kumpel schwelgen, wurde uns schon bei unserem ersten Besuch beim Bergmannsfrühstück klar. Die Mitglieder des Geschichtskreises Zeche Graf Moltke möchten aktiv die bergmännische Kultur pflegen und ihr Wissen über die Welt der Bergleute an die nachfolgenden Generationen weitergeben, denn nur, wer die Vergangenheit des Ruhrgebiets und seiner Bewohner kennt, kann die Zukunft gestalten. Deshalb, so berichten uns die ehemaligen Bergleute, engagieren sie sich besonders für Kinder und Jugendliche an Grund- und Hauptschulen und junge Leute mit Migrationshintergrund.

    Im Freizeittreff Karo, in dem auch das Bergmannsfrühstück stattfindet, sprechen wir mit Bernard Brokamp, dem 2. Vorsitzenden des Vereins, der am 6. Juli 1958 in Damme im Kreis Vechta zur Welt kam. Sein Vater stammte aus einer großen Familie mit dreizehn Geschwistern und war selbst das jüngste Kind. Da er als Landwirt seine Familie in der Heimat nicht ernähren konnte, beschloss er im Jahr 1959 ins Ruhrgebiet zu ziehen. Zunächst wohnte die Familie in Erle, wo der Vater auf einem Bergwerk eine Arbeit fand und Bernard Brokamp die Schule besuchte. Weil sein älterer Bruder eine Ausbildung zum Elektriker auf dem Bergwerk Hugo machte, wurde der Familie im Frühjahr 1973 eine Werkswohnung angeboten. So stand ein Umzug nach Buer zum Brößweg 39 an, in ein Haus direkt neben dem Werkstor der Zeche, auf der auch Bernard Brokamp am 1. August 1973 eine Arbeit als Bergjungmann annahm. Nach einem Jahr konnte er nach der bestandenen Aufnahmeprüfung eine dreieinhalbjährige Ausbildung zum Betriebsschlosser auf der Schachtanlage beginnen. Im Anschluss daran war er als Betriebsschlosser über Tage beschäftigt und hat anschließend weitere drei Jahre als Schlosser im Streckenausbau unter Tage gearbeitet, mit dem Ziel, sich für die Bergbaufachschule zu qualifizieren. Er kann sich noch sehr gut daran erinnern, dass ihn der Reviersteiger Treiber „angetrieben" hat, wie er uns schmunzelnd berichtet. Doch zwischenzeitlich musste er zunächst in der Zeit von Januar 1978 bis März 1979 seinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr in Münster ableisten, wo er nach der Grundausbildung als Schlosser eine eigene kleine Werkstatt innerhalb der Fahrzeugreparatur hatte. Er führte die gerade anfallenden Reparaturen durch und beendete seine Dienstzeit als Hauptgefreiter. Von 1984 bis 1986 besuchte er ganztags die Bergbaufachschule in Recklinghausen und wurde bis zum 23. Juli 1986 nach erfolgreich abgelegter Prüfung als Steiger in der Maschinentechnik auf dem Bergwerk Hugo eingesetzt. 1989 zog er, mittlerweile verheiratet und Vater von zwei Kindern, nach Gladbeck und wurde wegen der Schließung der Zeche Hugo ab Januar 2000 als Maschinensteiger zum Bergwerk Friedrich-Heinrich, dem späteren Bergwerk West in Kamp-Lintfort, verlegt. Nach zweieinhalb Jahren wechselte er im Jahr 2002 zur Zeche Auguste-Victoria nach Marl, wo er bis zum Eintritt in den Vorruhestand im Juli 2007 arbeitete.

    Einige Zeit, nachdem die Familie nach Gladbeck umgezogen war, wechselte Bernard Brokamp auch in der Gewerkschaft zur IG BCE Ortsgruppe Gladbeck-Mitte, deren Bildungsobmann er bis heute ist. Über die Gewerkschaftsarbeit hat er Walter Hüßhoff kennengelernt, mit dem er den

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