Das artemisianische Prinzip: Romanessay über Musik und Architektur
Von Gerd de Bruyn
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Über dieses E-Book
Obwohl die aus Bayern stammende sächsische Fürstin Maria Antonia Walpurgis (1724-1780) und andere Personen, die im Buch auftauchen, gelebt haben, handelt es sich nicht um einen Historienroman, sondern um eine phantasievolle Spekulation über die Ursprünge der Popkultur. Der Leser lernt das höfische Leben des 18. Jahrhunderts in seiner ganzen Fülle und Pracht kennen, um zu verstehen, weshalb die Architektur ihre integrative Rolle eingebüßt hat und die auditiven von den visuellen Künsten dominiert werden.
Gerd de Bruyn
Gerd de Bruyn, geb. 1954 in Köln, verbrachte sein halbes Leben in Frankfurt am Main. Als Schüler fuhr er eine Maico-MD 50, dann folgte eine lange Zeit ohne Motorrad. Das gute Leben stellte sich wieder ein mit der Anschaffung einer alten Boxer-BMW und der Restaurierung mehrerer Einzylinder-Motorräder. Inzwischen tuckert er aus Jux und Tollerei auf einer Harley rum. Falls das nicht mehr geht, schafft er sich einen Trecker an. Am besten einen Lanz!
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Buchvorschau
Das artemisianische Prinzip - Gerd de Bruyn
Beide nun gingen am Ufer des weitaufrauschenden Meeres,
Beteten viel und gelobten dem Erdumgürter Poseidon,
Dass sie doch leicht gewönnen den hohen Sinn des Achilleus.
Als sie die Zelt’ und Schiffe der Myrmidonen erreichten,
Fanden sie ihn, erfreuend sein Herz mit der klingenden Leier,
Schön und künstlich gewölbt, woran ein silberner Steg war,
Die aus der Beut er gewählt, da Eetions Stadt er vertilget;
Hiermit erfreut’ er sein Herz und sang Siegtaten der Männer.
Homer, Ilias, IX. Gesang
Zärtlichen Herzen gefühlvoll geweiht! Mit Hunden zerreißt sie,
Welchen sie liebet, und ißt, Haut dann und Haare, ihn auf.
Heinrich von Kleist, Dedikation der Penthesilea
Er hatte von ihr gesagt: »Du bist mädchen- und heldenhaft.«
Sie wiederholte: »mädchen- und heldenhaft!«
Die Wärme stieg ihr in die Wangen.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften
Sokrates: Es reizt mich, über die Künste zu schwätzen. Ich halte sie aneinander, ich suche Unterschiede; ich möchte den Gesang von Säulen hören und mir im klaren Himmel das Denkmal einer Melodie vorstellen. Diese Einbildung führt mich leicht dazu, auf die eine Seite die Musik zu stellen und die Architektur, auf die andere die anderen Künste.
Paul Valéry: Eupalinos oder Der Architekt
hermal
wer trauer spürt in diesen zeiten
die uns aus den händen gleiten
was dazu führt, dass viel misslingt
auch durch katastrophen bedingt
hat sich, mich, dich nicht aufgegeben
solang er kämpft um breites wissen
und spüret auch bei jedem bissen
brot: es gilt sein müh und streben
bis in den tod hinein dem leben
wer freude hat an jenen tagen
an denen wir am boden lagen
und in die stadt der donner fährt
weil der mensch zu sehr begehrt
was ihn um kopf und kragen bringt
der zeige uns das scheue glück
begleite uns ein kurzes stück
damit im spätsommer gelingt
worüber man am feuer singt
wer klagt und weinet bitterlich
schmeißet alles weit von sich
lässt bewährtes nicht mehr gelten
flüchtet sich in andre welten
wo fauchende motoren drohen
trinkt er die verpestete luft
prahlhans in der lederkluft
möcht fortan wie feuer lohen
nur wenig beten und verrohen
INHALT
DAS ARTEMISIANISCHE PRINZIP
»Juni 1727«
Orpheus (1)
Der Kastrat
Brief über den Heroismus
Hasse
Orpheus (2)
Die brillant aufspielende Hofkapelle
Malerei und Musik
Neptuns Töchter
Der Idealist
Hubertusburg
Friedrich der Große
Schloss Dahlen
Der Überfall
Das geheime Manuskript
Ein neues Domizil
Charlotte
Liebesglück
Geschlechtsumwandlung
Sanssouci
Marias Triumph
Neue Freunde
Der schöne Prinz (Epilog)
DREI CHARAKTERSTUDIEN
Ein dämonischer Koch
Der Sohn des Konditors
Kleiner Architekt mit großem Appetit
ANHANG
Hermal-Epos (Fragment)
»Juni 1727«
Der Kronleuchter, der wie eine Sonne über dem Parkett geschwebt hatte, fuhr laut rasselnd nach oben. Es wurde dunkel. Brokatseide raschelte. Weiß schimmerten im Parkett die Hälse junger Damen und verströmten süßes Parfüm. Die Musiker hörten auf ihre Instrumente zu stimmen. Das Geflüster verstummte. Hasse erschrak vor der anstürmenden Stille. Schon setzten die ersten Takte ein, und der Vorhang hob sich.
Die Musik war kraftvoll, ergriff ihn aber weniger als der Händel gestern in der Royal Academy. Einen Tag lang hatte ihn die Frage gequält, ob er je Ähnliches zustande bringen würde. Unter der Kuppel von St. Pauls war das Gefühl der Minderwertigkeit noch gewachsen und hatte sich wie Blei auf sein Gemüt gelegt. Jetzt in der Oper fasste er wieder Mut. Auf dem Spielplan stand die Astianatte von Bononcini. Was dieser Italiener konnte, konnte er auch. Überdies bewies der heftige Applaus nach dem ersten Akt, dass die Londoner Bononcini nicht weniger mochten als Händel. Das ärgerte Hasse, doch fiel ihm auch ein Stein vom Herzen.
Den Part der Andromache, die als Sklavin am Hof des Pyrrhus, Sohn des siegreichen Achill, lebte, hatte Faustina Bordoni übernommen. Für alle Nuancen des Unglücks, das die bedauernswerte Trojanerin ereilt hatte, fand ihr luzider Mezzosopran den passenden Ausdruck. Mühelos behauptete sich neben ihr Francesca Cuzzonis glockenhelle Stimme. Sie sang die Hermione. Noch waren sich die Trojanerin und die Griechin nicht begegnet. Das sollte sich nun ändern. Orest war gekommen, um Andromaches Sohn zu töten. Daher beschloss die verzweifelte Mutter, Hermione aufzusuchen und um Beistand anzuflehen.
Nachdem man die Zuschauer schon in den ersten beiden Akten mit phantastischen Dekorationen und ausgefallenen Bühnenaufbauten überrascht hatte, bot das King’s Theatre im dritten Akt ein Spektakel der besonderen Art: auf kreisrundem Grundriss war ein Kuriositätenkabinett nachgebaut worden, das keine Wünsche offen ließ. Man entdeckte Riesenmuscheln, Nautiluspokale, mit Edelsteinen besetzte Straußeneier und spiralförmige Spieße, die von Einhörnern stammten. In gläsernen Vitrinen waren kostbare Perlen, Korallen und Elfenbeinschnitzereien aus den fernsten Weltgegenden gehortet. Alles in solcher Skurrilität und Menge, dass sich die Zuschauer in einem Museum wähnten, das ein ausgestopfter Löwe bewachte, der mit weit aufgerissenem Maul neben dem Eingang stand, durch den Andromache nun trat.
In ihrem Gesicht spiegelte sich das Erstaunen des Publikums, als sie all der Schätze gewahr wurde. Nur kurz ließ sie sich blenden, dann entdeckte sie Hermione und lief auf sie zu. Als sich die beiden gegenüberstanden, mündete die Musik in ein Duett. Seine Innigkeit beschwor aber keinen Einklang der Seelen. Es entsprang Gefühlen, die kaum unterschiedlicher hätten sein können und sich dennoch derselben Töne bedienten. Während Andromache das schlimme Schicksal ihres Sohns beklagte, der viel zu früh den Vater verlor, schien Hermione, die ihre erste Begegnung mit Orest schilderte, im Glück zu ertrinken.
Wie Schwestern hielten sich die beiden Primadonnen an den Händen, als sie sich für den Beifall bedankten, der am Ende des Duetts aufbrandete. Doch führten sie ihre Verbeugung nicht synchron aus. Das hatte nichts mit Ungeschick zu tun. Vielmehr war es so, dass die Bordoni zu erkennen gegeben hatte, ihrer Kollegin den Vortritt zu lassen. Diese Artigkeit war in Wahrheit Hinterlist. Natürlich wollte auch sie sich verbeugen, aber erst als zweite und mit der allergrößten Wirkung. Und tatsächlich: gehalten von der ahnungslosen Cuzzoni sank Faustina auf die effektvollste Weise zu Boden.¹
Das Publikum war so ergriffen, dass es lauter applaudierte, wodurch der Anschein erweckt wurde, sie habe besser gesungen. Die Verärgerung der Cuzzoni würde sich dennoch in Grenzen gehalten haben, hätte sich der Zwischenfall nicht wiederholt. Statt nun den Spieß umzukehren und der Bordoni den Vortritt zu lassen, tappte sie ein zweites Mal in deren Falle und musste obendrein gute Miene zum bösen Spiel ihrer Rivalin machen, die aus ihrer Verbeugung gar nicht mehr auftauchen wollte.
Dieser Vorgang, der den Keim für alles weitere legte, war von Hasse kaum bemerkt worden. Er zählte zu den dankbaren Opfern der Intrige, die die Bordoni auf offener Bühne spann und schrie ein Bravo nach dem andern. Geblendet von ihrer Schönheit hatte er das Ende des Duetts nicht einmal abwarten wollen und in die letzten Töne hineinapplaudiert. Er verschlang die Venezianerin mit den Augen. Doch wer wollte ihm das verdenken? Ihre femininen Attribute standen in vollkommener Harmonie zum Tonumfang ihrer Stimme, die tief hinunter in die Altregion reichte.
Hasse liebte Sängerinnen mit dunklem Timbre. Kastraten konnten zwar länger die Töne halten und lauter singen, sie verfügten aber nicht über die Geschmeidigkeit ihrer Kolleginnen und schon gar nicht über deren Grazie. In der Hoffnung, dass ihm die Bewunderung, die er für Faustina hegte, ins Gesicht geschrieben stand, schaute er sie unentwegt an. Eigentlich hätte er wissen müssen (und wusste es ja auch), dass man ihn von der Bühne aus nicht erkennen konnte. Trotzdem verfolgte er sie so gebannt, dass er sich einbildete, sie müsse seine Blicke wie Nadelstiche auf der Haut spüren. Und siehe da, auch Faustina schien jetzt in seine Richtung zu sehen. Schade war nur, dass niemand neben ihm saß, dem er diesen Umstand mitteilen mochte.
Die Cuzzoni sang ebenfalls brillant, doch war ihr Ton zu schrill. Außerdem irritierte Hasse, dass sie, obschon schlanker als Faustina, ein Doppelkinn hatte. Magisch zog es die Blicke an und vibrierte in der auffälligsten Weise mit, wenn sie kolorierte. Als Andromache die große Gefahr schilderte, in der ihr Sohn schwebte, wollte Hermione nichts davon hören und widersprach: Orest sei allein ihretwegen gekommen. Hasse ärgerte sich über so viel Dummheit. Er hatte es längst aufgegeben, zwischen den Sängerinnen und ihren Rollen zu unterscheiden.
Der Disput auf der Bühne entfachte einen Tumult im Parterre oder umgekehrt, das war schwer auszumachen. Andromache standen Zornesfalten auf der Stirn. Sie nannte Hermione nicht nur grausam, wie es im Libretto stand, sondern schalt sie auch brutal. Das hatte folgenden Grund: nach dem demütigenden Verbeugungsritual hatte sich Francesca losmachen wollen und, da sie von Faustina festgehalten wurde, diese heftig vor die Brust gestoßen. Daraufhin brachen alle Dämme. Eine Kanonade gegenseitiger Beschimpfungen gipfelte in einem hässlichen »faccia di culo«, das mit einer schallenden Ohrfeige quittiert wurde.
Die Musik ging im allgemeinen Tumult unter. Das aufgebrachte Publikum bildete mit seinem Gejohle und Gepfeife das effektivere Orchester. In den vorderen Reihen kam es zu Handgreiflichkeiten. Offensichtlich befahlen die Diven über mehrere Divisionen von Verehrern, die nun in offener Schlacht ausmachen wollten, wer von den beiden die bessere Sängerin war. Hasse hatte dergleichen nie erlebt – in Italien nicht und in Deutschland erst recht nicht. Ausgerechnet die distinguierten Engländer gerieten völlig aus dem Häuschen, fuchtelten mit ihren Stöcken in der Luft herum und ließen die Fäuste fliegen. Trotz des Heidenkrachs, der dabei entstand, war das Gezänk der Kontrahentinnen immer noch zu hören.
Hasse, der einige Jahre Komposition bei Scarlatti in Neapel studiert hatte, sprach fließend Italienisch. Ihm blieb nicht verborgen, dass die wütenden Primadonnen über intime Kenntnisse der Gossensprache verfügten. Offenkundig stammten sie nicht aus den besten Familien. Und es kam noch schlimmer. Nachdem Faustina die Hände ihrer Widersacherin, die ihr das Gesicht zerkratzen wollte, abgewehrt hatte, warf sie sich über Francesca und rang sie zu Boden. Dabei rutschte ihr das Kleid über beide Pobacken. Nun gingen die Anfeuerungsrufe der Claqueure in lautes Gejohle über. Ob aus Schadenfreude oder wegen der verführerischen Dessous, war nicht leicht zu entscheiden.
Auf dem Nachhauseweg beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl. Wohl hatte der Tag einen vergnüglichen Ausgang gefunden und ihm das Bild einer Frau ins Gedächtnis gestanzt, die so schön war, dass er ständig an sie denken musste. Doch ahnte er ja, dass er und alle anderen Zuschauer einem billigen Eifersuchtsdrama aufgesessen waren. Und warum? Weil ihm die Bordoni den Kopf verdreht hatte? Das wäre immerhin verzeihlich gewesen. In Wirklichkeit verhielt es sich so: Hasse war zum Zeugen eines Vorgangs geworden, der in seiner Welt nicht vorgesehen war. Er hatte erlebt, wie sich ein menschlicher Konflikt aus seiner musikalischen Form herausgelöst und in einen handfesten Skandal verwandelt hatte. Die ungeschminkte Realität war aus heiterem Himmel auf die Bühne gesprungen, um ihn zu übertölpeln.
Dass es außer dem Temperament der beiden Primadonnen noch einen anderen Grund für den Skandal gab, erfuhr er zwei Tage später, als er John Heidegger kennen lernte, den umtriebigen Direktor des King’s Theatre: ein agiles Männlein mit tiefen Gesichtsfalten und herabgezogenen Mundwinkeln, die es mal spöttisch, mal mürrisch aussehen ließen. Seine buschigen Augenbrauen und der schwarze Umhang mit dem roten Innenfutter taten ein Übriges, um dem Impresario das Ansehen eines Fürsten der Unterwelt zu geben. Zumal alle Welt wusste, dass er mehrmals im Jahr Maskenbälle veranstaltete, die halb London in ein Tollhaus verwandelten und nicht nur in den Augen der Puritaner zur allgemeinen Sittenverderbnis beitrugen.
Hasse ahnte nichts davon, als er ihm im Hause eines reichen Musikverlegers das erste Mal gegenüberstand. Das griesgrämige Gesicht, das der Alte machte, hätte ihn schwören lassen, er sei schlecht auf den Tumult zu sprechen, den seine Sängerinnen wenige Tage zuvor veranstaltet hatten. Ihretwegen war immerhin eine Aufführung abgebrochen und Eintrittsgelder erstattet worden. Doch das Gegenteil war der Fall. Als Hasse erwähnte, an diesem Abend im King’s Theatre gewesen zu sein, hellte sich Heideggers Antlitz auf. Leutselig klopfte er seinem Landsmann auf die Schulter und nannte ihn einen Glückspilz, der, obschon neu in der Stadt, sogleich in den Genuss eines so großartigen Spektakels gekommen sei.
Verblüfft wollte Hasse wissen, wie er das verstehen dürfe? Da lugte dem Alten nicht mehr der Spott, sondern der Schalk aus dem Gesicht, gerade so, als wollte er ihn warnen, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was er jetzt hören werde. Zugleich wechselte er vom Englischen in die gemütliche Sprechweise seiner alemannischen Heimat und gestand, er habe schon vor Jahren seine Dekorateure angewiesen, die Bühnenbilder des King’s Theatre in der aufwendigsten Weise auszuführen. Spiele eine Szene in der Kirche, müsse dem Publikum Weihrauchduft in die Nase steigen und ein gotisches Kirchenschiff, kraftvoll wie die Kathedrale von Canterbury, vor Augen stehen. Verlege der nächste Akt die Handlung in einen Gasthof, müsse sich Schankraumatmosphäre ausbreiten, so lebensecht, dass die Zuschauer Lust auf ein Glas Bier verspürten.
Hasse gab zu bedenken, dass in der Oper zuallererst die Musik für den großen Eindruck zu sorgen habe, doch der Alte schüttelte den Kopf. So wie das Auge bei einem raffiniert zubereiteten Dinner mitesse, wolle es bei guter Musik mithören. Aus diesem Grund sei das Bühnenbild ebenso wichtig wie die Komposition. Er, Heidegger, rühme sich, das als erster erkannt und in die Tat umgesetzt zu haben. Auch sei ihm zu verdanken, dass die Sängerinnen nicht länger wie Ölgötzen auf der Bühne stünden, sondern immerzu in Bewegung seien. Hasse hatte das bemerkt. Es war ihm positiv aufgefallen, doch wollte er es nicht zugeben. Stattdessen sagte er, jede Entwicklung, die auf Kosten der Musik gehe, sei zu bedauern. Um der Kunst willen hätte er gut und gerne auf den Ringkampf der Primadonnen verzichten können, so amüsant er auch gewesen sei.
Ums Amüsante, entgegnete Heidegger lächelnd, gehe es doch in allererster Linie. Obwohl der Streit der Sopranistinnen (er nannte sie ins Englische zurückspringend rival queens) nicht geplant war, gäbe er gerne zu, dass hierdurch seine Absichten befördert worden seien. Das King’s Theatre habe eine Publicity erreicht wie selten zuvor. Man werde erleben, dass die Abonnementzahlen in die Höhe schnellen würden und die Eintrittspreise auch. Mit Begeisterung sagte er das, nein, rief es in den Raum hinein, und die Blicke der Gäste richteten sich auf ihn.
Heidegger registrierte es mit Genugtuung, legte verschwörerisch seine Hand auf Hasses Arm und flüsterte (nicht weil er etwas Geheimes ausplaudern, sondern die Leute, die in der Nähe standen, noch neugieriger machen wollte): die Honorare der Bordoni und Cuzzoni würden schon bald ins Astronomische steigen. Und als hätte er geahnt, was seinem jungen Gesprächspartner in den nächsten Tagen durch den Kopf gehen sollte, prophezeite er: eine wandernde Operntruppe, die sich mit einer der beiden Sängerinnen (am besten mit beiden) und einem Komponisten, der kein Einfaltspinsel sei, zusammenschlösse, würde weltweit Furore machen.
Drei Jahre später trat Johann Adolph Hasse zum katholischen Glauben über und heiratete Faustina Bordoni. In Venedig. Sie war glücklich und schwanger, und er zweifelte nicht daran, der Vater ihres Kindes zu sein. In den ersten Ehejahren waren sie das Traumpaar Europas. Auf gemeinsamen Tourneen feierte man Faustina als La nuova Sirena und ihn als Il divino Sassone – als den göttlichen Sachsen.
¹ Ein Jahrhundert später hätte es geheißen: wie ein sterbender Schwan …
Orpheus (1)
Sachsens Kurfürst war gestorben und seine Gemahlin fühlte sich wie neu geboren, obschon sie Friedrich Christian gemocht und ihm seine Zuneigung mit fünf Söhnen und zwei Töchtern vergolten hatte. Insgesamt war sie in sechzehn Jahren Ehe elfmal niedergekommen. Das erste Kind starb nach der Geburt, das letzte kam tot zur Welt. Außerdem erlitt sie zwei Fehlgeburten. Über die Totgeburt erschrak sie sehr. Ihr Leibarzt, dem sie so wenig traute wie allen anderen Ärzten, behielt immerhin Recht damit, als er ihr Malheur den langen Ausritten zuschrieb, auf die sie nicht verzichtet hatte, selbst als sich ihr Bauch schon wölbte.
Maria Antonia wusste um ihren Leichtsinn und beharrte dennoch darauf, dass eine Totgeburt ein schlimmes Omen sei. Fortan verweigerte sie ihrem Gemahl Bett und Beischlaf. Friedrich Christian litt seit seiner Geburt an einer Lähmung beider Füße und saß meist im Rollstuhl. Seine Behinderung war schuld daran, dass er für den geistlichen Stand vorgesehen war, doch wollte er nichts davon wissen und ließ sich zu keinem Thronverzicht bewegen. Er war überzeugt, dass mangelnde Körperkraft durch kluge Politik mehr als wettgemacht werden könne.
Seiner Frau vergaß er nie, dass sie ihn, den Krüppel, ohne Murren geheiratet hatte. Soviel er wusste, war sie ihm immer treu gewesen. Dafür liebte er sie und fühlte sich ihr verbunden. Zumal sie eine große Leidenschaft für die Musik teilten. Im Laufe der gemeinsamen Jahre hatten sie den gleichen Geschmack entwickelt: in Fragen des Stils, der Mode und des Essens. Auch stimmten sie oft im Urteil der Menschen ihrer nächsten Umgebung überein. Als er tot war, las sie in seinem Tagebuch: Maria ist mein zweites Ich. Das fand sie rührend und übertrieben.
Friedrich Christian verwand ihren Auszug aus dem gemeinsamen Schlafgemach nicht. Kaum war ein Jahr vergangen, wurde er krank, und die Pocken rafften ihn dahin. Mich trifft keine Schuld, sagte Maria und stampfte auf. Sie war theatralisch. Doch ihr Gewissen scherte sich nicht um Posen. Es warf ihr vor, von Friedrichs Tod zu wenig erschüttert zu sein. Das stimmte. Missfallen hatte ihr die unheroische Art seines Endes. Von Tag zu Tag war er schmaler geworden und geschrumpft. Elend hatte er aus seinem Kissen zu ihr hoch geblinzelt. Natürlich empfand sie da Mitleid, aber auch großes Befremden.
Als zu merken war, dass es immer schlechter um ihn stand, ließen ihn die Ärzte zur Ader, führten gelehrte Debatten und standen am Ende doch nur, wie stets in solchen Fällen, hilflos herum. Die Wissenschaften hatten enormen Aufschwung genommen, doch war davon so gut wie nichts in der Heilkunst angekommen. Maria fand das empörend. Sie schüttelte den Kopf, dass die Löckchen ihrer Perücke hin und her flogen. Sie waren mit parfümiertem Puder bestäubt, der nach allen Seiten flockte und die Fürstin in eine wohl duftende Schneewolke einhüllte. Friedrich Christian war davon wie betäubt gewesen. Sie roch einfach zu verführerisch. Aber nur, weil ihr künstlicher Haarschmuck fest auf dem verschwitzten, juckenden Kopf saß. Doch galt das ja für alle schönen Dinge: nie durfte man sich unterstehen, an ihrer Fassade zu kratzen, und schon gar nicht mit der Nase in verbotene Zonen geraten …
Als der Kurfürst von seinen Leiden erlöst war, erfasste Maria ein Schwindel erregendes Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie überließ sich ihm wie einem Vollblutpferd, dem man die Sporen gibt und das daraufhin losprescht, als würden ihm Flügel wachsen – mächtige Schwingen, die Ross und Reiter hoch ins Firmament reißen. Aus heiterem Himmel schoss ihr eines Tages durch den Kopf: alle Engel sind schrecklich. Der verstörende Gedanke, von dem sie nicht wusste, woher er stammte, holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Hatte sie sich nicht in den ersten Wochen seines Siechtums eingebildet – nein, nicht eingebildet, sondern lebhaft ausgemalt – dass sie Friedrich Christian hinterher sterben wolle? Auch das war ein starkes Gefühl gewesen. Ein stimulierender Schmerz, der durch den Körper fuhr.
Damals hatte sie an einem Libretto zu schreiben begonnen. Allerdings merkte sie schon bald, dass ihr das Motiv der trauernden Gattin, die ihrem Mann in den Tod folgt, auf Dauer nicht behagen würde. Eines Tages hörte sie, dass Gluck in der Oper, die zuletzt von ihm aufgeführt wurde, die Geschichte von Orpheus und Eurydike vertont hatte. Auch da ging es um einen übermächtigen Trennungsschmerz, doch führte das bei Orpheus nicht zu Verzweiflung und Selbstmord, sondern zu dem heroischen Versuch, die verstorbene Eurydike ins Leben zurückzuholen.
Das war ein Stoff nach Marias Geschmack. Eine Komtesse aus Wien, die der Uraufführung beigewohnt hatte, erzählte ihr von der sehr zu Herzen gehenden Musik und konnte sogar den Text einer Arie hersagen, die am meisten Applaus erhalten hatte. In ihr beklagte sich Orpheus über den Verlust, den er durch Eurydikes Tod erlitt. Seine Worte, die das Publikum zu Tränen rührten, hatte ihm der Librettist Calzabigi in den Mund gelegt: Ach, ich habe sie verloren / All mein Glück ist nun dahin / Wär’, oh wär’ ich nie geboren / Weh, dass ich auf Erden bin.
Man tuschelte, Signore Calzabigi sei ein Freund des berühmt berüchtigten Giacomo Casanova, dem die Flucht aus Venedigs Bleikammern gelungen war. Mutmaßungen dieser Art lösten auch bei Maria ein gewisses Prickeln aus. Jedenfalls interessierte sie die Freundschaft des Dichters mit dem Schürzenjäger mehr als dessen Version des Orpheus-Stoffs. Sie wollte einen eigenen Zugang finden und beließ es daher bei der Lektüre antiker Autoren. Dort erfuhr sie, was ihr wichtig war. So bei Vergil, der die Orpheussage zum Anlass genommen hatte, um der Endgültigkeit des Todes mit der These vom ewigen Werden und Vergehen zu widersprechen.
Der Römer hatte sich zu diesem Zweck eine Geschichte zu Aristaios einfallen lassen, der am Unglück des Orpheus Schuld war. Aristaios hatte Eurydike nachgestellt, um sie zu vergewaltigen. Bei ihrer Flucht trat sie auf eine Giftschlange, an deren Biss sie starb. Damit ihm die Götter nicht zürnten, entschloss sich der Übeltäter zu einem großmütigen Opfer. Er schlachtete vier Stiere und vier Kühe und sein Kalkül ging auf. Die Olympier ließen sich besänftigen und hielten ihn sogar eines Wunders für würdig: bevor der