DAS ALBTRAUMSYSTEM: Ram Collins 2
Von Adrian Urban
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Über dieses E-Book
Nachdem Ram Mirco und Violet befreit hat, erfahren die drei Freunde, dass Mio sie für seinen Kampf gegen eine künstliche Intelligenz gewinnen will, die die Menschheit bedroht.
Als virtuelle Figuren sollen sie das entgleiste KI-System von innen bekämpfen, zusammen mit einem Außenteam aus der realen Welt. Doch die KI entwickelt sich zur Superintelligenz, und sie kennt keine Skrupel.
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DAS ALBTRAUMSYSTEM - Adrian Urban
Das Albtraumsystem
Ram Collins 2
AndroSF 203
Adrian Urban
DAS ALBTRAUMSYSTEM
Ram Collins 2
AndroSF 203
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Februar 2025
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Hans Rodrian
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 437 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 706 0
Was bisher geschah
Ramses »Ram« Collins ist ein dreißigjähriger Ire, der seit Langem in Berlin wohnt. Als Ram 2033 einen originalverpackten Cube – ein würfelförmiges Speichermodul – im Müll findet, stellt das sein gewohntes Leben auf den Kopf. Denn das Cube-Programm, einmal auf seinen implantierten Minicomputer geladen, ermöglicht es ihm, die Gedanken der Menschen in seiner Nähe zu hören.
Nach dem Sieg bei einem Pokerturnier, bei dem ihm seine neue Kraft zugutekommt, lernt Ram eine Gangsterbande kennen, die ihn als Strohmann für illegale Pokerspiele einsetzt und dafür großzügig belohnt. Doch sein Luxusleben endet jäh, als ihm der Gangsterboss befiehlt, als Spitzel zu arbeiten, um einen Feind in den eigenen Reihen der Lüge zu überführen. Ram weiß, dass er den Mann einem schrecklichen Schicksal ausliefert, und ihm ist klar, dass er so nicht weitermachen kann.
Bedauerlicherweise lässt sich die Gedankenlese-App nicht deinstallieren. Ram findet heraus, dass der Cube in der englischen Stadt Bristol produziert wurde, von einem Unternehmen namens Progressive Cybernetics (PC). Weitere Informationen erhält er nicht.
Er beschließt, die Firma zu suchen, in der Hoffnung, sie könne seine telepathischen Fähigkeiten löschen. Mit Mirco, einem IT-Nerd, der ihm bereits mehrmals geholfen hat, reist Ram nach Bristol. Während sie recherchieren, werden sie gute Freunde.
Doch was sie in Bristol erleben, stellt ihr gewohntes Realitätsempfinden zunehmend auf die Probe.
Bei einem Ausflug rettet Ram Violet, einer jungen Engländerin, die sich umbringen will, das Leben. Nachdem sich Violet erholt hat, suchen sie zu dritt nach der IT-Firma, während sie gleichzeitig von der Gangsterbande und von einer Antiterroreinheit gejagt werden. Als sie schließlich die Zentrale der IT-Firma entdecken und deren Geheimnisse ergründen, finden sie heraus, dass sie in einer Computersimulation leben.
Mithilfe eines Rechneralgorithmus entwickeln die drei Freunde Superkräfte. Plötzlich können sie Objekte mit Gedankenkraft manipulieren, einschließlich des menschlichen Willens. Zuletzt überwinden sie die Wirklichkeit und gelangen in eine Welt, die Progressive Cybernetics »Universum/Multiversum« genannt hat.
Schließlich finden sie heraus, dass ihre Realität mithilfe von Quantencomputern entstanden ist, die zahlreiche virtuelle Universen erschaffen haben.
Die Forscher von PC hoffen, in einer ihrer neuen Welten könnte ein wirksames Mittel gegen das »2100-Problem« entwickelt werden. Dieser Begriff steht für die Prognosen zahlreicher Computersimulationen, die ergeben haben, dass die menschliche Zivilisation um das Jahr 2100 herum dem Untergang geweiht ist. Mit unterschiedlichen Ursachen aber stets demselben Ergebnis: eine weltweite Apokalypse.
Irgendwann wird klar, dass das künstliche Universum, in dem die drei Freunde ihr Leben verbracht haben, entgleist ist, ohne seinen Zweck zu erfüllen. Der Fehler hätte eigentlich die sofortige Abschaltung des Programms zur Folge gehabt, wenn der leitende Wissenschaftler nicht von einer Kollegin überzeugt worden wäre, dieser Simulation eine letzte Gnadenfrist zu gewähren.
Offenbar existiert eine unbekannte Macht, die Ram, Violet und Mirco immer wieder aus Krisensituationen heraushilft.
Wer oder was das sein könnte, bleibt vorerst ein Rätsel.
Allein
Als Ram erwachte, war er so verwirrt, dass er weder hören noch sehen konnte und nicht einmal wusste, wie er hieß.
Doch dieser Nebel in seinem Gehirn verzog sich nach und nach.
In Rams Umgebung war es dunkel, feucht und ziemlich warm.
Wo, zur Hölle, bin ich?
Und eine weitere, mindestens ebenso drängende Frage schloss sich an.
Wie bin ich hierhergekommen?
Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die schummrigen Lichtverhältnisse.
Er stellte fest, dass er in nassem Sand lag. Im Inneren einer Höhle.
Ram wälzte sich auf die rechte Seite. Aufzustehen und herumzulaufen schien ihm im Moment nicht ratsam zu sein, denn es bestand die Gefahr, dass er dem nicht gewachsen war.
Er blickte auf spitze Felsbrocken. In einer Richtung schien ein schlauchartiger Weg ins Freie zu führen.
Das hoffte Ram zumindest, denn dieser Teil der Höhle, vielleicht zehn Meter entfernt, wirkte ein bisschen heller als der Rest.
Die Felsen über ihm ließen vielleicht zwei Meter Platz nach oben.
Falls er sich irgendwann stark genug fühlte, seinen Körper in die Vertikale zu befördern, würde er sich trotz seiner Größe von gut einem Meter neunzig nicht einmal bücken müssen.
Doch noch war es nicht so weit. Ram beschloss, vorerst liegen zu bleiben und die Wartezeit zu nutzen, um sein Gedächtnis zu durchforsten. Nach Anhaltspunkten zu suchen, die ihm bei der Klärung der Frage helfen konnten, was ihn an diesen Ort gebracht hatte.
Was ist das letzte Erlebnis, an das ich mich erinnere?
Die Antwort war innere Schwärze.
Okay, das ist vielleicht im Moment etwas zu schwierig.
Nächster Versuch: Woran erinnere ich mich überhaupt?
Ich bin Ram Collins aus Dublin. Wohne aber seit vielen Jahren in Berlin, und zu meinem großen Bedauern denke und träume ich inzwischen meistens auf Deutsch. Mein Vater ist ein versoffener Schläger, dem sich meine Mutter immer untergeordnet hat. Bis zur Scheidung.
Was weiß ich noch? Es ist gerade Anfang Mai 2033. Am 17. November werde ich 31. Wenn ich zu viel Beamish Stout getrunken habe, macht mich das sentimental, und dann höre ich schrecklich kitschige Rocksongs aus dem späten 20. Jahrhundert. Ein Großteil von dem, was ich esse, hat sich irgendwann bewegt. Ich arbeite in einem widerlichen Pornoladen als Hardcore-Avatar, und die meisten Menschen gehen mir, wenn ich ehrlich bin, ziemlich am Arsch vorbei. Das, was mir mein AR-System und der Cyberport über die Welt erzählt, reicht mir vollkommen, also muss ich nicht mehr mit anderen Leuten kommunizieren als unbedingt nötig …
Stimmt, ich hab ein Cyberportimplantat im Hals! Und AR-Kontaktlinsen in den Augen. Das System findet gewiss ganz schnell heraus, wo ich mich befinde – vielleicht bekomme ich sogar ein paar Informationen über das, was passiert ist, bevor ich in dieser Höhle gelandet bin.
Das Augmented-Reality-System war anscheinend inaktiv. Andernfalls hätte Ram ein kleines eingeblendetes Stand-by-Kontrolllämpchen am unteren Rand seines Blickfelds gesehen.
Doch er musste ja nur den implantierten Minicomputer über die Sprachsteuerung aktivieren, indem er seinen persönlichen Zugangscode eingab.
Der Zugangscode … Was, zum Teufel, ist der verdammte Zugangscode?
Ram hatte nicht die allergeringste Erinnerung daran, was er sagen musste, um das AR-System in einen funktionsfähigen Zustand zu versetzen, und je vehementer er in seinem Gedächtnis herumwühlte, umso hartnäckiger entzog sich die Zahlen-Buchstaben-Kombination allen Bemühungen.
Schließlich musste er aufgeben. Eine Niederlage, die ihn wirklich ärgerte.
Nichts mehr da. Verfluchte Scheiße.
Moment mal. Ich weiß immerhin, dass heute ein Tag im Mai 2033 ist. Kurz nach Anfang des Monats. Was hab ich in dieser Zeit erlebt?
Plötzlich tauchte eine Bildfolge vor Rams innerem Auge auf.
Er sah sich selbst dabei zu, wie er in seinem Moabiter Wohnzimmer saß und ein Cube-Modul auf den Tisch legte.
Den Speicherwürfel hatte er zuvor originalverpackt in einem Mülleimer gefunden, auf dem Heimweg von seinem ungeliebten Job bei FeelReal Erotix.
Im gesamten Netz gab es keinerlei Informationen über die Herstellerfirma. Das machte Ram noch neugieriger auf das installierte Programm, den Brain Reader.
Er wusste noch, dass er diese App auf den Cyberport übertragen wollte. Dann rissen seine Erinnerungen ab.
Es fühlte sich nicht so an, als sei er in diesem Augenblick von seiner Ledercouch in Berlin in eine sandige Felshöhle teleportiert worden. Ram hatte eher einen Filmriss, eine Amnesie, die alles umfasste, was danach geschehen war – mochten das nun Tage, Wochen oder Monate gewesen sein.
Ein totaler Blackout. Nichts zu machen. Zum Verrücktwerden. Bestimmt erklärt sich mein Aufenthaltsort durch das, was nach der Cube-Geschichte passiert ist … aber ich komme einfach nicht darauf. Nur eine große Leere.
Ram bemerkte, dass er ungewöhnlich stark schwitzte, und fragte sich, warum.
Er setzte sich aufrecht hin und umfasste die Oberschenkel mit den Händen. Dabei richtete er den Blick zum ersten Mal bewusst auf seinen Körper.
Die Kleidung, die er anhatte, überraschte ihn: Über dem Shirt trug er einen Sweater und eine Outdoorjacke. Seine Jeans steckte in Schnürstiefeln.
Das deckte sich kein bisschen mit seinen Erinnerungen an den Tag, an dem er den Cube im Abfall gefunden hatte. Ein strahlend sonniger Spätfrühlingsnachmittag, an dem es warm genug war, um mit T-Shirt und Sneakers herumzulaufen.
Und die Klamotten passten auch nicht zum feuchtheißen Binnenklima der Höhle, in der er gerade hockte.
Ram zog die Jacke aus und entledigte sich seines Sweaters. Selbst für das T-Shirt war es hier eigentlich zu warm. Aber er wollte sich nicht schutzlos fühlen, also behielt er Shirt, Jeans und Stiefel an.
Dann durchsuchte Ram die Taschen seiner Klamotten, um irgendetwas zu finden, das ihm helfen konnte, sich zu erinnern.
Doch er stellte fest, dass sich sein aktueller Besitz auf eine Packung Taschentücher beschränkte.
Ram fluchte. Die Höhlenwände verfeinerten die traditionellen Kraftausdrücke seiner irischen Heimat mit interessanten Halleffekten.
Als er sich beruhigt hatte, beschloss er, die Felshöhle zu verlassen. Ohnehin stieß ihr Unterhaltungswert – Felsen, nasser Sand, Schallverfremdung – an natürliche Grenzen.
Beim Aufrichten musste Ram sich kurz an der Steinwand abstützen, weil ihm schwindelig war, doch das Gefühl verschwand bald wieder.
Im nächsten Moment hatte er den Ausgang erreicht.
Der Anblick, der sich ihm bot, war erstaunlich.
Ein schier endloser Sandstrand. Meereswellen, die an der Küste brachen und Ram in unregelmäßigen Abständen mit salziger Gischt besprühten, sobald der tropisch warme Wind ein paar Tropfen in seine Richtung wehte.
Außer einem beruhigenden vielstimmigen Rauschen war nichts zu hören. Die fast unwirklich schöne Landschaft wurde von einem riesigen Vollmond erhellt, der dicht über dem Meereshorizont stand.
Dazu mehr Sterne, als Ram jemals am Himmel gesehen hatte. Und fremdere.
Das verschwommene Band der Milchstraße war ihm vertraut, doch die Konstellation der unzähligen Himmelskörper am Firmament keineswegs.
Vielleicht werden die lausigen drei oder vier Sternzeichen, die ich kenne, in dieser unglaublich klaren Nacht vom ganzen Rest überstrahlt, dachte er.
Oder ich bin irgendwie südlich des Äquators gelandet. Falls mich nicht irgendein Scotty auf einen fremden Planeten gebeamt hat … Aber das ist ziemlich unwahrscheinlich, weil dieser Planet dann einen Mond haben müsste, der unserem zum Verwechseln ähnlich sieht.
Ram drehte sich um.
Nur die nähere Umgebung der Höhle, die er verlassen hatte, bestand aus Felsgestein, das sich bis zu einer Höhe von vier oder fünf Metern auftürmte. Links und rechts vom Eingang wuchsen Baumfarne, Palmen und andere Gewächse, wie sie in den Gewächshäusern des Botanischen Gartens in Berlin standen, aus dem Boden.
Befand er sich auf einer Insel? Oder auf dem Festland, vielleicht irgendwo in den Tropen auf der Südhalbkugel? Er wusste es nicht.
Jetzt hörte Ram auch ein paar Geräusche, die vom Meeresrauschen überlagert worden waren. Insekten. Quakende Frösche. Undefinierbares Rascheln.
Er bewegte seine Augen langsam von links nach rechts. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Struktur, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Er zuckte heftig zusammen, denn er hatte nicht damit gerechnet, etwas Menschengemachtes zu sehen.
Ein Holzhaus. Neben ihm stand ein Mast mit einem großen Solarzellenmodul.
Ram entfuhr ein »Fuck …«, denn eigentlich hatte er gehofft, an diesem Traumstrand allein zu sein.
Auf der anderen Seite machte sich gerade sein leerer Magen bemerkbar, und er war ziemlich durstig. Bestimmt würde der Bewohner der Hütte die verfügbaren Vorräte mit ihm teilen, wenn Ram seine Notlage schilderte. Und ihm sagen, wo er sich befand.
Kurz darauf klopfte er an die Tür des Holzhäuschens. Erst zaghaft, dann stärker.
Keine Reaktion.
Ob er nicht besser morgen anklopfen sollte und sich stattdessen einen Schlafplatz am Strand suchen? Oder in der Höhle, wo er vor den Wellen geschützt war?
Aber er hatte inzwischen wirklich Durst. Der Besitzer der Hütte – oder die Familie, die darin wohnte – würde ihn schon nicht mit einer Pumpgun begrüßen.
Also rief er: »Hallo! Entschuldigung! Könnten Sie mir die Tür aufmachen? Ich bräuchte dringend Hilfe!«
Dann wiederholte er seine Bitte auf Englisch, begleitet von energischem Klopfen.
Nichts.
Und obwohl er davon ausging, dass das nicht den geringsten Sinn ergab, übersetzte er sein Anliegen anschließend auch noch ins Spanische.
Keinerlei Reaktion. Nichts kam aus dem Inneren des Häuschens.
Entweder der Besitzer ist stocktaub. Oder er liegt nach einem Schlaganfall im Koma – falls er überhaupt noch lebt. Oder die Hütte ist im Moment nicht bewohnt.
Ram tippte auf die letzte Möglichkeit, doch sein Körper schien auf die erste zu wetten, denn als er nach dem Metallknauf griff und die Holztür nach außen aufging, raste sein Puls.
Alles blieb still. Der Mond war von Palmen verdeckt, sodass Ram nicht von außen in das Häuschen hineingucken konnte.
Doch als er die Innenseite der Eingangstür abtastete, entdeckte er etwas, das an einem Haken hing.
Er griff danach, stellte fest, dass es sich um eine kleine LED-Taschenlampe aus Plastik handelte, und drückte den Powerschalter.
Nichts passierte.
Dann bemerkte er, dass die Leuchte auf einer Seite mit Solarzellen ausgestattet war und auf der anderen mit einer kleinen Handkurbel. Ein Überlebens-Tool.
Als er eine Weile an der Kurbel gedreht hatte, betätigte er den Schalter ein weiteres Mal, und ein weißer, intensiver Lichtstrahl erhellte die Nacht.
Ram blickte sich um. Außer ihm war niemand in der Hütte.
Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag. Er richtete das Lämpchen nach links, fand einen Schalter an der Wand und drückte ihn.
Eine Deckenleuchte erhellte das Innere des Häuschens.
Ram knipste die LED-Leuchte aus. Nachdem er sie wieder an die Tür gehängt hatte, legte er das Sweatshirt und die Outdoorjacke über den Haken. Dann zog er Socken und Stiefel aus.
Der Raum, in dem er stand, wirkte so ordentlich und sauber wie eine kleine Ferienwohnung, die erst vor wenigen Minuten vom Dienstpersonal für den nächsten Gast hergerichtet worden war.
Auf dem Boden lag eine weiße Hartschaummatratze mit mehreren dünnen Decken und zwei Kopfkissen. Jede Zimmerwand hatte zwei unverglaste Fensterlöcher, die mit geschlossenen Fensterläden gesichert waren. Offenbar ließen sie sich nur von außen öffnen.
Auf der rechten Seite standen zwei Stühle an einem kleinen Holztisch, unter dem sich ein dicker, ziemlich großflächiger Bastteppich befand. Irgendjemand hatte die Tischplatte mit einem schwarzen Elektronikgerät, einer altmodischen Kaffeemaschine und einer Plastiktasche, die wie ein Kulturbeutel mit Körperpflegeutensilien aussah, bestückt.
Dieser Teil der Einrichtung beeindruckte Ram nicht sonderlich. Doch die integrierte Küche war überwältigend.
In der Mitte thronte eine riesige Kühlgefrierkombination, die einem ambitionierten Restaurant alle Ehre gemacht hätte und gerade vernehmlich brummte.
Links davon stand ein Induktionsherd mit Arbeitsplatte und Touchscreen. Er passte genauso wenig hierher wie der überdimensionierte Kühlschrank.
Auf der rechten Seite sah Ram ein Holzregal mit Küchenutensilien, Geschirr und Nahrungsmittelvorräten: Reis, Nudeln, Kartoffeln, Zwiebeln, Speiseöle, Gewürze, Kaffee.
Daneben vielleicht ein Dutzend aufgestapelte Getränkekisten. Französisches Mineralwasser – und Beamish Stout.
Rams Lieblingsbier.
Eine Sorte, die eigentlich nur in Irland und Britannien halbwegs bekannt war. Irisches Bier in den Tropen? Und dann noch zufällig das, das er am liebsten mochte?
Unglaublich, dachte Ram. Irgendjemand muss gewusst haben, dass ich hier auftauchen werde …
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, aber sein Durst war stärker.
Ich könnte erst mal ein oder zwei Flaschen Mineralwasser trinken.
Oder ich gehe gleich zum Bier über.
Das enthält ungefähr 95 Prozent Wasser. Hilft also auch gegen Austrocknung. Und es knallt einfach besser als der blöde Sprudel.
Als er die Kühlschranktür öffnete, um ein paar Flaschen Beamish hineinzustellen, sah Ram, dass er mit frischem Obst, Gemüse, Eiern, Speck und Käse bestückt war.
Drei Biere später ließ er sich beschwipst auf die Matratze fallen.
Alkohol, fand er, war ein hervorragendes Mittel, um nicht allzu viel nachzudenken.
Nach wenigen traumlosen Stunden wurde Ram von Vogelrufen und vom Sonnenlicht geweckt, das durch die angelehnte Tür in das Häuschen schien.
Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass er wirklich an einer tropischen Meeresküste gestrandet war und nicht in einer halluzinatorischen Fantasie festhing.
Ram war immer noch nicht klar, was er während seiner Gedächtnislücke erlebt hatte. Was war passiert in der Zeit zwischen dem Aufenthalt in seinem Moabiter Wohnzimmer und dem Aufwachen in der unbekannten Felshöhle?
Aber wenigstens, sagte er zu sich selbst, schaffe ich es problemlos, mich an das zu erinnern, was danach geschehen ist.
Obwohl er wenig geschlafen und eine ganze Menge Bier getrunken hatte, fühlte sich Ram körperlich relativ fit. Nur der schale Geschmack in seinem Mund störte ihn.
Er erinnerte sich an den Plastikbeutel auf dem Tisch und erhob sich von der Matratze, um ihn zu öffnen.
Zahnputzzeug, ein Elektrorasierer mit Dreipolstecker, mehrere Seifenstücke, Shampoo, Sonnenmilch, Handspiegel und Nagelknipser.
Alles war unbenutzt. Ram fragte sich erneut, ob jemand damit gerechnet hatte, dass er in diesem Häuschen Zuflucht suchen würde.
Doch als er bemerkte, dass er die Frage nicht beantworten konnte, konzentrierte er sich auf das Nächstliegende: die morgendliche Mundpflege.
Wasser, überlegte Ram, wäre diesem Anliegen dienlich. Meerwasser, da war er ziemlich sicher, kam nicht infrage. Fließendes Süßwasser gab es hier nicht.
Und den Sprudel für das Zähneputzen verschwenden wollte er auch nicht. Vielleicht gab es ja in der Umgebung eine Quelle oder einen Bach.
Er griff sich Zahnputzzeug, Seife und Haarwaschmittel und ging ins Freie.
Die Düfte und Geräusche, die er noch intensiver wahrnahm als in der Nacht zuvor, überwältigten ihn.
Rams Umgebung war jetzt ein Farbenmeer.
Fast alle Sträucher und Pflanzen blühten. In den Kronen der Kokospalmen flogen Papageien mit quietschbunten Federn. Der Himmel war tiefblau, und vor Rams Füßen huschte eine rotgrüne Echse durch den Sand. Alles so perfekt wie auf dem Plakat eines Touristikunternehmens.
Während Ram um das Häuschen herumging, unterzog er den Mast auf der linken Seite der Hütte einer kurzen Inspektion.
Er erinnerte sehr an ein fotovoltaisches Minikraftwerk. Solche Geräte gab es auch in Berlin, ausgestattet mit Hochleistungssolarzellen, Stromwandler, Speicherbatterie und einer automatisierten Computersteuerung.
Auf seinem Weg öffnete Ram ein paar Fensterläden, die er mit Metallhaken befestigte.
Als er die Rückwand des Häuschens erreicht hatte, murmelte er »Das ist ja ultracool …«, denn hinter der Hütte befand sich eine Handpumpe. In zwei Meter Höhe war ein Kunststofftank mit einem Absperrhahn befestigt, den man mit der Pumpe befüllen konnte. Wahrscheinlich kam das Wasser aus einer unterirdischen Quelle.
Ein artesischer Brunnen, der gleichzeitig als Flüssigkeitsspender und als Dusche diente. Daneben standen mehrere leere Kanister, eine Plastikwanne, gefüllt mit einer Flasche Waschmittel und ein altertümliches Waschbrett.
Ram fand es nicht sehr attraktiv, seine Klamotten auf einem Metallbrett zu säubern. Doch ihm gefiel, dass an diesem Ort an alles gedacht worden war, was ihm ein autarkes Leben ermöglichte.
Dann bemerkte er, dass sich hinter den Palmen, ein paar Meter entfernt, ein Holzschuppen versteckte.
Er öffnete die Tür.
Der Raum beherbergte eine große Mülltonne und ein ausgesprochen sauberes Plumpsklo. Und neben dem Abortloch stand nicht nur ein Eimer zum Nachspülen, sondern auch zahlreiche Toilettenpapierrollen, die in Plastikfolie eingeschweißt waren.
Krass, dachte Ram. Dieser Urlaub ist wirklich all inclusive.
Nur mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass er sich nicht daran erinnern konnte, eine Urlaubsreise gebucht zu haben.
Unter der Dusche gelang es ihm ein weiteres Mal, die Frage, wie er an diesen Ort gekommen war, erfolgreich aus dem Bewusstsein zu verdrängen.
Als er sich rundum sauber fühlte, drehte Ram den Hahn zu und sonnte sich, um sich zu trocknen. Dann putzte er seine Zähne, pinkelte und ging zurück in die Hütte, um aus Eiern, Tomaten, Zwiebeln und Speck ein herzhaftes Frühstück zuzubereiten.
Während er den Kühlschrank etwas intensiver durchforstete, stellte er erfreut fest, dass das Tiefkühlfach randvoll war mit Fleischwaren aller Art: Hähnchenbrust, Schweinekotelett, Lammfilet … Ram entdeckte sogar einige Wildspezialitäten wie Hirsch und Fasan.
Er überlegte kurz, ob er sich anstelle des geplanten Rühreis gleich an den Hirschsteaks vergreifen sollte. Doch dann dachte er an die unvermeidliche Auftauzeit, legte zwei Wildfleischpackungen auf die Arbeitsplatte neben dem Herd und verschob das Vergnügen auf später.
Denn Zeit hatte er im Überfluss.
Nach einer halben Stunde setzte sich Ram an den Tisch. Eine dampfende Kaffeetasse stand neben einer Portion Rührei, die selbst für einen Mann mit seiner Statur recht üppig war. Die antiquierte Kaffeemaschine hatte auf Anhieb funktioniert. Ram fragte sich, wofür das schwarze Elektronikgerät gut sein mochte. Ebenso wie die Kaffeemaschine war es über einen amerikanischen Dreipolstecker mit einer Steckdose an der Wand des Häuschens verbunden.
Der Apparat besaß offenbar nur ein einziges Bedienelement, einen Drehknopf. Kein Display, keine Anzeigen, kein sichtbares Mikrofon für eine Sprachsteuerung.
Er drehte den Knopf im Uhrzeigersinn. Erst ertönte ein mechanisches Knacken, dann erklang Musik.
»Short People«, ein Hit von Randy Newman aus den 1970er-Jahren, der kurzgewachsenen Menschen auf sarkastische Weise das Existenzrecht absprach.
Ram dachte an seine Körperlänge von 191 Zentimetern, grinste und begann zu essen.
Offenbar hatte er den Lautstärkeregler entdeckt.
Vielleicht finde ich ja einen Sender, der meine alten Lieblingssongs spielt …
Womöglich senden sie sogar in einer Sprache, die ich verstehe. Und ab und zu Nachrichten zu hören wäre auch nicht schlecht.
Obwohl es schon ein bisschen seltsam ist, dass sich die Frequenz nicht wechseln lässt. Anscheinend gibt es bloß diesen Lautstärkedrehknopf.
Er beschloss, die Radiofrage auf die Liste der ungelösten Geheimnisse zu setzen, die mit diesem Ort verbunden waren, und die Bearbeitung der Liste auf später zu verschieben.
Ram wollte sich auf die angenehmen Aspekte seines Lebens konzentrieren. Im Moment gehörten dazu Musik, Kaffee, Rühreier, Tomaten, Zwiebeln und Speck.
Und draußen warteten bereits Sonne, Sand und Meer auf ihn.
Als Ram aß, bemerkte er, dass der Sender, den er empfing, auf Nachrichten oder Moderationsansagen verzichtete. Ein Song reihte sich an den anderen, ohne längere Unterbrechungen.
Möglicherweise, überlegte er, ist es ein automatisiertes Programm, mit dem sie sich einen Großteil der Produktionskosten sparen. Oder eine Satellitenübertragung aus dem Netz.
Die Musik war nach wie vor angenehm – eine Mischung aus Classic Rock, Folk und Progrock –, und als Ram ein bisschen darüber nachdachte, stellte er fest, dass er die üblichen Schreckensmeldungen aus aller Welt nicht vermisste.
Nach dem Frühstück holte er eine Spülmittelflasche aus der Küche und wusch das Geschirr unter der Wasserpumpe.
Als er fertig war, erinnerte sich Ram an die Sonnenmilch in dem Kulturbeutel auf dem Tisch. Er ging zur Hütte zurück, zog T-Shirt, Jeans und Boxershorts aus und cremte sich von Kopf bis Fuß ein.
Eigentlich schade, dachte er, dass ich keine Sonnenbrille und keinen Hut dabeihabe … Wenn schon ein unverhoffter Strandurlaub, dann mit allem Drum und Dran.
Sein Blick streifte die Tür. Ram zuckte zusammen.
Neben der kleinen Not-LED-Lampe hing ein weißer Strohhut an einem Haken, und am Hutband steckte eine schicke Sonnenbrille mit eckigen Gläsern.
Da stimmt was nicht. Diese Sachen waren doch vorhin nicht da – oder hab ich die ganze Zeit an ihnen vorbeigeguckt?
Unwahrscheinlich … aber bis gestern Nacht konnte ich mir auch nicht vorstellen, dass ich irgendwann in einer tropischen Felshöhle aufwachen würde, ohne mich zu erinnern, was vorher passiert ist.
Er ging zur Tür, nahm Hut und Brille vom Haken und verließ die Hütte. Am Strand ließ er sich von den Meereswellen umspülen, patschte mit den Armen ins Wasser und kreischte dabei wie ein zwölfjähriger Junge im Freibad.
Nachdem er dreimal ausgiebig schwimmen gegangen war und den Rest des Vormittags dösend im Sand verbracht hatte, beschloss Ram, dass es jetzt genug war mit Baden, Sonnen und Pauschalurlaub.
Schließlich gab es hier eine Menge zu entdecken.
Zeit für eine kleine Wanderung. Ach was: eine Expedition …
Wenn er sich an der Küstenlinie orientierte und darauf achtete, immer genug Energiereserven für den Rückweg zu haben, konnte Ram eigentlich nichts zustoßen.
Vielleicht finde ich ja eine zweite Strandhütte – oder gleich ein ganzes Dorf. Wieso sollte mein Häuschen hier die einzige menschliche Behausung sein …
Er bemerkte, dass er eben mein Häuschen gedacht hatte, und lächelte.
Mein Haus, mein Strand, mein Grundstück mit Blick aufs Meer – da fehlt nur noch mein Boot.
Das ist übrigens eine gute Idee, sagte sich Ram im Stillen. Nach einem Bootssteg würde er ebenfalls Ausschau halten.
In der Hütte zog er T-Shirt und Boxershorts an. Dann krempelte er sich die Socken über die Füße, zog die Jeans über die Boxershorts und stieg in seine Schnürstiefel.
Sicher ist sicher. Außerdem bekomme ich sonst einen Sonnenbrand. Keine Sonnenmilch schützt einen dauerhaft vor der UV-Strahlung.
Er nahm Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Als er im Vorratsregal herumkramte, fand er sogar eine weiße Umhängetasche aus Leinen, in der er die Flasche transportieren konnte.
Nachdem er den Strohhut und die Sonnenbrille aufgesetzt hatte, verließ er das Häuschen.
Gehe ich jetzt besser links oder rechts den Strand entlang? Eigentlich egal. Gut, dann nach links.
Es dauerte nicht allzu lange, bis er wieder am Hüttentisch saß. Erschöpft und desillusioniert.
Seine durchgeschwitzten Socken hatte er ebenso wie die Jeans hinter dem Häuschen in den Wäschezuber gelegt. Zum Saubermachen fehlte ihm im Moment die Energie.
Auch das Nachmittagsbier aus dem Kühlschrank, das geöffnet vor ihm auf dem Holztisch stand, half nicht.
Da er keine Uhr besaß, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er das Häuschen mit dem Solarmast auf der linken Seite des Strands erspäht hatte. Doch mehr als ein oder zwei Stunden konnten es nicht gewesen sein.
Ram nahm die Flasche vom Tisch und trank einen großen Schluck.
Auch wenn ihm das Beamish Stout gerade nicht besonders zusagte – wirken würde es auf jeden Fall. Zumindest, wenn er weitere Biere nachschob, und genau das hatte er vor.
Es führte kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass er auf einer kleinen Insel gestrandet war. Einer schönen, aber einsamen, unberührten Insel. Unbewohnt vom Strand bis zum Zentrum, das er auf kleinen Fußmärschen erkundet hatte.
Es gab kein weiteres Häuschen, und erst recht kein Dorf. Nicht einmal einen alten verrotteten Bootssteg.
Dafür war Ram drei Kolibris begegnet, die in allen Regenbogenfarben schillerten und Nektar aus Orchideen schlürften.
Während er weitertrank, dachte Ram an die unansehnlichen Tauben in Berlin.
Für diese dreckige Stadt mit all ihren Bewohnern, tierischen und menschlichen, hätte er seine Tropeninsel eingetauscht, ohne mit der Wimper zu zucken.
Nicht weil er gerade unbedingt Gesellschaft brauchte. Ram war die meiste Zeit seines Lebens allein gewesen.
Sondern weil er wahrscheinlich keine Chance hatte, dieses Kolibriparadies zu verlassen. Und die Vorstellung, nie wieder einem anderen Menschen zu begegnen, bis er irgendwann sterben würde, war auch für Ram unerträglich.
Die beiden Hirschsteaks mit Kartoffeln und Preiselbeeren aus dem Gläschen hatte er eher mechanisch in sich reingeschaufelt, als das Essen wirklich zu genießen. Immerhin war Ram nach vier Beamish Stout betäubt genug, um die Frustration nicht mehr zu spüren.
Ich sollte endlich ernsthaft darüber nachdenken, wer mich an diesen gottverlassenen Ort gebracht hat.
Ram erhob sich von seinem Stuhl. Er holte ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich wieder an den Holztisch und trank weiter.
Vielleicht bin ich von Verbrechern entführt worden, die Kohle erpressen wollen.
Doch wenn er ehrlich zu sich war, gab es nicht allzu viele Menschen, die für ihn gezahlt hätten. Höchstens seine Mutter, aber die badete nicht unbedingt in einem Geldspeicher.
Außerdem ist ein Teil meiner Erinnerungen verschwunden. Das schafft kein Krimineller und auch keine Gang. Oder?
Einen bestimmten Zeitraum im Gedächtnis zu löschen, traute Ram eigentlich eher einem Geheimdienst oder einer Gruppe von skrupellosen Wissenschaftlern zu.
Für jeden Menschen, der nicht paranoid ist, hört sich das alles vollkommen absurd an. Aber normalere Erklärungen fallen mir nicht ein.
Geheimdienste … In einigen Thrillern löscht ein Dienst Erinnerungen eines Special Agents, um sensible Informationen zu schützen. Oder um die wahre Identität des Betroffenen zu verschleiern. Manchmal fand der Agent sogar heraus, dass er diese Löschung selbst in Auftrag gegeben hatte.
Aber ich bin kein Jason Bourne. Oder bin ich doch so ein Typ, ohne es zu wissen? Weil ich es vor mir verberge? Verdammter Mist …
Allerdings deutete nichts darauf hin, dass Ram als Agent ausgebildet worden war.
Und wieso sollte mich ein Nachrichtendienst, der meine Erinnerungen vernichtet, mit meinem Lieblingsbier versorgen? Und mit Hirschsteaks? Oder würde ich mich selbst so verhalten, wenn ich für die Löschung verantwortlich wäre? Erst mein Gedächtnis zerstören und dann einen Haufen Lebensmittelvorräte anlegen, die mich an mein früheres Leben und an meine Vorlieben erinnern …
Diese Theorie ergab keinen Sinn.
Ram dachte über die andere Alternative nach, die ihm eingefallen war: Eine Gruppe skrupelloser Wissenschaftler, die an ihm herumforschten.
Das hörte sich schon plausibler an.
Vielleicht bin ich Teil eines Experiments. »Was geschieht mit einem Menschen, der längere Zeit auf sich allein gestellt ist?« Versorgt mit allem, was er zum Überleben braucht, aber ohne soziale Kontakte, ohne Computer, Telefon oder ein funktionsfähiges AR-System – und ohne jede Erinnerung an das, was ihn an den Ort der Einsamkeit gebracht hat …
Könnte sein. Aber wenn das stimmt, habe ich mich wahrscheinlich freiwillig für diesen Versuch gemeldet. Bestimmt aus finanziellen Gründen. Und die Forscher müssten mich von der Insel retten, wenn das Experiment vorbei ist. Hm … Seit ich hier angekommen bin, steht ein zweiter Stuhl am Tisch. Das könnte bedeuten, dass irgendwann jemand auftaucht und sich draufsetzt.
Dieser Gedanke tröstete Ram ein bisschen, und er fand ihn recht realistisch. Paranoid, aber Teil einer Wirklichkeit, die er kannte.
Ich darf auf keinen Fall durchdrehen. Und ich sollte mich auch nicht daran gewöhnen, schon am Nachmittag besoffen zu sein.
Er trank die Flasche aus und beschloss, dass es für heute reichte.
Dann machte er das Radio an. Gerade lief ein alter Song von Colosseum: »Theme for an Imaginary Western.«
Zu pathetisch, zu melancholisch. Ram schaltete das Gerät wieder aus.
Was, fragte er sich, kann ich in der nächsten Zeit tun? Abgesehen natürlich von Fressen, Saufen und Musikhören.
Nicht allzu viel.
Im Meer schwimmen. In der Sonne brutzeln. Jeden verfluchten Quadratmeter dieser Scheißinsel erkunden. Nachdenken.
Und darauf hoffen, dass es sich nicht endlos hinzieht, bis »Freitag« zu Besuch kommt und mich hier rausholt.
Noch besser wäre natürlich eine Freya …
Ach, egal. Hauptsache, irgendjemand. Und zwar bald.
Den Sonnenuntergang verbrachte Ram am Strand.
Während der Feuerball langsam im Meer versank, sah er am Horizont einen Vogelschwarm, der von links kam und ein großes Victoryzeichen bildete, bevor er ins Abendrot verschwand.
Vielleicht ist das ein gutes Omen, dachte er.
Bullshit. Meine Lage muss wirklich ganz schön verzweifelt sein, wenn ich die Natur nach irgendwelchen Zeichen und Wundern absuche.
Bloß nicht durchdrehen
Am dritten Tag seines unfreiwilligen Inselurlaubs ging Ram zweimal in Ufernähe schwimmen, um nicht in gefährliche Meeresströmungen zu geraten. Dieses Mal verzichtete er darauf, mit den Händen auf die Wellen zu schlagen oder zu kreischen wie ein Zwölfjähriger im Freibad.
Lustlos verzehrte er drei Lammfilets aus der Tiefkühltruhe, die er mit Zucchini- und Paprikascheiben in der Pfanne gebraten hatte. Das war schnell gegangen, und es hatte nicht allzu viel Aufmerksamkeit von ihm verlangt.
Beim Essen nervte ihn die Radiomusik, weil sie ihn emotional berührte. Also schaltete er das Gerät aus und hörte sich stattdessen beim Kauen zu.
Als er nach dem Abwasch wieder in der Hütte war, spürte Ram, wie sein Körper alle Kraft verlor. Er legte sich auf die Matratze, wälzte sich eine Weile hin und her und schlief schließlich ein. Ohne Alkohol, aber mit einem dumpfen Gefühl im Schädel.
Irgendwann, es mussten ein paar Stunden vergangen sein, erwachte er. Die Dumpfheit hatte sich in stechende Kopfschmerzen verwandelt.
Ram stöhnte.
Ich darf auf keinen Fall so weitermachen, dachte er. Wenn ich mich kaum bewege und jeden Nachmittag im Bett liege, ist das Kopfweh irgendwann mein geringstes Problem. Denn dann kommt eine ausgewachsene Depression auf mich zu, und das ist nicht spaßig.
Er beschloss, in Zukunft jeden Tag mehrere Stunden zu wandern. Ob den Strand entlang oder querfeldein, spielte keine Rolle, denn die Insel war so klein, dass er problemlos zu seinem Häuschen zurückfinden konnte.
Außerdem musste er auf Musik verzichten. Musik erhöhte das Risiko, dass er sich in sentimentale Stimmungen hineinsteigerte und dadurch seine emotionale Stabilität gefährdete.
Alles zu tun, um nicht durchzudrehen, hatte Priorität für den Zeitraum, bis man ihn von
