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Polizeiliche Berufsethik: Ein Studienbuch
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eBook637 Seiten6 Stunden

Polizeiliche Berufsethik: Ein Studienbuch

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Über dieses E-Book

Von Beginn an gehört es zum polizeilichen Berufsalltag, gezielt und systematisch über das eigene berufliche Handeln und die ihm zugrunde liegenden Maßstäbe nachzudenken. Dies erfordert von den Polizeibeamt:innen die Fähig­keit zur Reflexion und eine ausgebildete ethische Kompetenz.
Ausgehend von Fallbeispielen leitet dieses Studienbuch zur ethischen Analyse polizeilicher Alltagspraxis und zur Reflexion des eigenen Berufsverständnisses an.
Folgende Themen werden u.a. behandelt:

Berufsbilder und Berufsmotivation
Diensteid
Achtung und Schutz der Menschenwürde als polizeiliche Aufgabe
Menschenwürde von Polizeibeamt:innen
Legitime und illegitime Gewalt
Lebensbedrohliche Einsatzlagen (Amok, Terror)
Umgang mit gesellschaftlicher und innerpolizeilicher Diversität
Opferschutz und Normverdeutlichung bei häuslicher Gewalt
Überbringen von Todesnachrichten, Umgang mit Hinterbliebenen
Umgang mit Stress und eigener Belastung

Für die dritte Auflage wurde das Kapitel "Polizeiarbeit in einer pluralistischen Gesellschaft" neu aufgenommen, das sich mit den Auswirkungen der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt auf die Polizeiarbeit befasst. Außerdem wurde das Werk um neue Entwicklungen und Erkenntnisse ergänzt.
Das Buch ist konzipiert für die polizeiliche Aus- und Fortbildung; insbesondere richtet es sich an Studierende im Bachelor-Studiengang für den gehobenen Polizeivollzugsdienst. Es vermittelt prüfungsrelevante Kompetenzen ethischen Denkens und Urteilens. Arbeitsaufgaben und Kontrollfragen ermöglichen es, den eigenen Lernfortschritt selbstständig zu überprüfen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Juni 2024
ISBN9783801109462
Polizeiliche Berufsethik: Ein Studienbuch

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    Buchvorschau

    Polizeiliche Berufsethik - Ulrike Wagener

    Kapitel 1

    Kein Beruf wie jeder andere!

    Ein erster Zugang zu ethischen Herausforderungen der polizeilichen Arbeit

    Bearbeiten Sie die folgenden Aufgaben und verwenden Sie dabei die Materialien 1.1–1.7 sowie die weiterführende Literatur.

    1.Analysieren Sie das Leitbild Ihrer eigenen Polizei (oder das Leitbild der Polizei Baden-Württembergs, Abb 6, s. S. 29) mithilfe des Wertevierecks von Wieland (Abb. 3, s. S. 25): Aus welchem Bereichen stammen die im jeweiligen Leitbild vertretenen Werte?

    2.Vergleichen Sie das Leitbild Ihrer eigenen Polizei (oder das Leitbild der Polizei Baden-Württembergs, Abb 6, s. S. 29) mit den Handlungsmustern der Polizistenkultur nach Rafael Behr (Tab. 3, s. S. 31).

    3.Sofern Sie in Ihrer bisherigen Ausbildung schon Praxiserfahrung gesammelt haben: Welche der Handlungsmuster nach Rafael Behr haben Sie in der polizeilichen Praxis wiedergefunden? Werden diese von den Kolleginnen und Kollegen in „Reinform" oder mit Modifikationen vertreten?

    4.Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Eigenschaften eines guten Polizisten oder einer guten Polizistin? Vergleichen Sie Ihre Liste mit der Ihrer Mitstudierenden sowie mit der Liste positiver Eigenschaften in Tab. 4 (s. S. 32).

    5.Mit welchem der in Kap. 1.6 dargestellten Berufsbilder können Sie sich am ehesten identifizieren, mit welchem am wenigsten?

    6.Darf man einen Eid brechen? Diskutieren Sie in Ihrer Studiengruppe Pro und Contra.

    7.Die polizeiliche Berufsausübung kann einzelne Beamtinnen oder Beamte manchmal in einen Gewissenskonflikt führen. Überlegen Sie, in welchen (Einsatz-)Situationen das der Fall sein kann. Was tut die Organisation Polizei dafür, um Gewissenskonflikte bei den Einzelnen möglichst zu vermeiden?

    8.Steht im Fall eines Gewissenskonfliktes das Gewissen über oder unter dem Gesetz? Begründen Sie Ihre Meinung.

    1.1Die Bedeutung von Vertrauen und das Potenzial für Misstrauen im Polizeiberuf

    Die Polizei genießt in der Bundesrepublik Deutschland ein hohes gesellschaftliches Vertrauen. Dies zeigt sich in den regelmäßig durchgeführten Umfragen zum Vertrauen der Bevölkerung in Institutionen. In der letzten Forsa-Befragung vom Jahreswechsel 2022/23 gaben 79 % von 4003 Befragten an, großes Vertrauen in die Polizei zu haben (s. Abb. 1).

    Im Vergleich mit anderen Institutionen belegt die Polizei in den Vertrauensumfragen seit Jahrzehnten einen der vorderen Ränge (oder sogar den Spitzenplatz wie etwa 2018 und 2019).

    Wem vertrauen die Deutschen?

    Abb. 1: Vertrauen in Institutionen in Deutschland 2022/23

    Dieses hohe Vertrauen lässt sich weiter regional differenzieren. Eine auf die Bundesländer bezogene Umfrage aus dem Jahr 2022 ergab folgendes Bild:

    Abb. 2: Basis: Befragte aus den jeweiligen Bundesländern n=200 pro Bundesland, Saarland und Bremen nur jeweils n=100 (Einfachnennung; hier dargestellt: „sehr hoch, „eher hoch; nicht dargestellt: „eher gering, „nicht vorhanden). Quelle: PwC 2022, S.14

    Bremer Einsatzerfahrungen

    „Ich war erschrocken über die Gewalt, die aus der Menschenmenge hervorging, berichtete am Dienstag ein Polizist, der am Wochenende dabei war. „Nicht linkes Klientel hat den Ärger verursacht, der normale Bürger hat uns attackiert, sagte der Beamte, seit 32 Jahren im Polizeidienst. „Wir wurden von Menschen bespuckt und beschimpft, die eigentlich mein Papa oder mein Opa hätten sein können, zeigte sich eine junge Polizistin noch zwei Tage nach dem Einsatz betroffen. „Es war erschreckend zu sehen, dass uns normale Bürger von 17 bis 60 Jahren gezielt attackiert haben, sagte ein Kollege.

    Gewalt gegen Polizei in Bremen, Hamburger Abendblatt 6.9.2011

    Dieses der Polizei vonseiten der Gesellschaft entgegengebrachte hohe Vertrauen ist für die meisten Polizistinnen und Polizisten ein überraschender Befund. Denn das persönliche Erleben scheint eher für einen Autoritätsverlust der Polizei und für ein immenses gesellschaftliches Misstrauen zu sprechen.

    Doch auch innerhalb der polizeilichen Arbeit findet sich eine vergleichbare Spannung, nämlich die zwischen einem „professionellen Misstrauen im Hinblick auf das „polizeiliche Gegenüber und dem grundsätzlich sehr hohen Vertrauen in das „polizeiliche Miteinander", d.h. in die Kolleg:innen. Eine weitere Vertrauensebene ist schließlich das Selbstvertrauen, das für die persönliche Berufsausübung und Lebensführung wichtig ist.

    Grundsätzlich scheint es ohne Vertrauen unter Menschen nicht zu gehen: „Menschliches Leben ist, wenn es nicht von Vertrauen getragen ist, schwer zu ertragen und kaum zu meistern." (Köhl 2001, S. 115)

    1.1.1Bedeutung von Vertrauen für die Polizeiarbeit

    Vertrauen ist eine Möglichkeit, mit der Unkontrollierbarkeit anderer Menschen, den Bedingungen um uns herum oder einem Zustand in uns selbst umzugehen. Derartige Unsicherheitsfaktoren können z.B. unsichere und/oder unvollständige Informationen sein, Unklarheiten über die Rahmenbedingungen des eigenen Handelns, aber auch Unsicherheiten in Bezug auf das eigene Können. Positiv kann man sagen: „Vertrauen kann ganz allgemein als ein Mittel zum Umgang mit der Freiheit anderer definiert werden." (Gambetta 2001, S. 213) Die Entwicklungspsychologie sieht in der grundlegenden menschlichen Hilfsbedürftigkeit in den ersten Jahren unseres Lebens die Ausgangsbasis unserer Fähigkeit zu vertrauen (vgl. Erikson 1973, S. 62–75; Krampen, Greve 2008, S. 679f.). Die Fähigkeit, anderen und sich selbst zu vertrauen, scheint so tief mit unserem Selbstverständnis verbunden zu sein, dass eine grundlegende Erschütterung dieses Vertrauens traumatisierend sein kann (Janoff-Bulman 1992, S. 18).

    Was bedeutet Vertrauen?

    „Einer Person zu vertrauen bedeutet zu glauben, dass sie sich nicht in einer uns schädlichen Art und Weise verhalten wird, wenn sich ihr die Gelegenheit dazu bietet."

    Gambetta 2001, S. 214

    Vertrauen und Misstrauen haben ihren Platz vorrangig in Interaktionen bzw. in Kooperationsbeziehungen. Die jeweils benötigte Unterstützung kann sich beziehen auf

    1.Leistungen, d.h., mein Gegenüber besitzt ein Wissen und/oder Können, das ich brauche, aber selber nicht besitze (der eingeforderte Wert ist in diesem Fall Unterstützung);

    2.Entgegenkommen, bei konkurrierenden Interessen oder im Falle eines Konflikts (eingeforderter Wert: Wohlwollen);

    3.Abstimmung zur gemeinsamen Handlungskoordination bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele (eingeforderter Wert: Rücksichtnahme).

    Diese drei Aspekte bestimmen auf vielfache Weise die Polizeiarbeit.

    Leistungserwartung

    Die Gesellschaft erwartet Leistungen von der Polizei in den Bereichen Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Prävention, weil weder der oder die Einzelne noch die Gesellschaft als ganze solche Leistungen erbringen können. Nur Angehörige einer Organisation mit entsprechenden Befugnissen, ausreichender Legitimität (gesellschaftlicher Anerkennung), ausgebildetem Personal und genügend materiellen Ressourcen sind in der Lage, solche Leistungen in ausreichendem Umfang sowie mit hoher Verlässlichkeit und Qualität zu erbringen. Hier gibt es dementsprechend ein Vertrauen der Gesellschaft in die Polizei, diese Leistungen von ihr in einem gewünschten Umfang und einer gewünschten Qualität zur Verfügung gestellt zu bekommen.

    Die Polizei erwartet wiederum Leistungen von der Gesellschaft, da die genannten Ressourcen, Legitimität und Befugnisse nicht von der Polizei selbst bereitgestellt werden können, sondern von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden. Hier ist wiederum ein Vertrauen der Polizei in die Gesellschaft unumgänglich.

    Entgegenkommen

    Die Polizei erwartet Entgegenkommen bei der ihr übertragenen Aufgabe der gesellschaftlichen Pazifizierung und Konfliktschlichtung von Seiten der Gesellschaft. Dazu gehört, dass Bürger:innen Informationen an die Polizei geben, dass andere gesellschaftliche Institutionen mit der Polizei kooperieren und ihre Arbeit unterstützen, die Bereitschaft von Bürger:innen, sich als Zeug:innen zur Verfügung zu stellen, oder die generelle Bereitschaft aller gesellschaftlichen Akteur:innen, ihre Konflikte gewaltfrei zu lösen sowie auf polizeiliche Interventionen grundsätzlich nicht mit Gewalt zu reagieren.

    Die Gesellschaft wiederum erwartet von der Polizei das Entgegenkommen, die Bereitstellung ihrer Kompetenzen von jedem politischen Interesse frei zu halten (Neutralitätspflicht) und legitimen gesellschaftlichen Vorgaben auch bei fachlichen Einwänden und inneren Widerständen zu folgen (Loyalität).

    Abstimmung

    Die Polizei ist auf die Abstimmung ihrer Arbeit mit weiteren gesellschaftlichen Akteur:innen (Staatsanwaltschaften und Gerichte, Hilfs- und Rettungsdienste, Ambulanzen und Krankenhäuser, soziale Hilfs- und Unterstützungsagenturen, weitere kommunale Einrichtungen und Behörden u.a.) unabdingbar angewiesen. Solche Kooperationen entsprechen der zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität und nur so können nachhaltig wirksame Problemlösungen auf den Weg gebracht werden.

    Die Gesellschaft wiederum ist auf die Abstimmung mit der Polizei angewiesen, um Erwartungssicherheit darüber zu gewinnen, mit welcher Art von Unterstützung von Seiten der Polizei gerechnet werden kann, mit welchen Mitteln die Polizei dabei zu Werke gehen darf und welche Grenzen sie zu respektieren hat. Und das gilt gleichermaßen für die Rahmenbedingungen der polizeilichen Arbeit wie für die Ebene konkreter Begegnungen im Alltag.

    Aus diesen Zusammenhängen ergibt sich für die Polizei und für die polizeiliche Arbeit ein enorm großer Vertrauensbedarf bzw. ein enorm großes Misstrauenspotenzial. Beides ist dadurch bedingt, dass die polizeiliche Arbeit nicht nur ein Kooperationsunternehmen ist, sondern für die Erfüllung ihrer Aufgaben auf eine breite wie inhaltlich vielfältige Kooperation verschiedenster gesellschaftlicher Akteur:innen angewiesen ist und bleibt. Auf die dafür nötige Kooperationsbereitschaft bei ihren Partner:innen kann die Polizei keinen unmittelbaren Einfluss ausüben, sondern muss darauf vertrauen, dass sie ihr von der Gesellschaft immer wieder entgegengebracht wird.

    Weil Vertrauen und Misstrauen so eng miteinander verbunden sind, wird es das Moment des Misstrauens gegenüber der Polizei wie auch innerhalb der Polizei immer geben. Während das Misstrauen innerhalb der Polizei besonders im Bereich der polizeilichen Organisationskultur eine Rolle spielt, soll hier die Bedeutung des Misstrauens gegenüber der Polizei näher betrachtet werden.

    Diese Seite des Misstrauens zeigt sich beispielsweise dann, wenn die Polizei in ihrer Rolle als normdurchsetzende Organisation auftritt. Solche Momente sind prädestiniert für die Erzeugung von Misstrauen beim Gegenüber: Was habe ich falsch gemacht? Was will man von mir? Ist es hier gefährlich? An dieser Stelle wird etwas sehr Grundsätzliches über die Reaktion der Allgemeinheit auf die Polizei deutlich, das sich immer wieder erleben lässt: Man ist froh, dass es die Polizei gibt, aber man möchte möglichst wenig mit ihr zu tun haben. Diese Einstellung findet sich z.B. auch gegenüber Ärzt:innen oder in anderer Hinsicht gegenüber Versicherungen. Aus dieser Konstellation ergeben sich verschiedene Konsequenzen für das Vertrauen, das der Polizei entgegengebracht wird.

    „Die Haltung und das Verhalten jedes individuellen Akteurs ist entscheidend für das Image der ganzen Organisation. Ein negativer Vorfall kann alle positiven Erfahrungen zunichte machen, die ein ‚Kunde‘ vorher gemacht hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen im Zentrum jeder Dienstleistungsorganisation."

    Feltes 2006, S. 128 [Übersetzung U.W.]

    Dieses Vertrauen kann man als eine Form von „Systemvertrauen" verstehen (Luhmann 1989, S. 50–66), in unserem Fall also als ein grundsätzliches Vertrauen in das Leistungserfüllungsversprechen einer Organisation, dessen Enttäuschung stets die Ausnahme bleibt. Werden Ausnahmen bekannt (wie z.B. durch Abdul-Rahman et al. 2023; Feltes & Plank 2021; Loick 2018), müssen sie selbst erst einmal als vertrauenswürdig klassifiziert werden. Ist dies der Fall (ein Zeichen des Vertrauens in das Funktionieren einer kritischen Öffentlichkeit), dann kommt es entscheidend darauf an, ob der daraus entstandene Rechtfertigungs- und Erklärungsbedarf von der Polizei ernst genommen und aufgegriffen wird. Ob dieses Ernstnehmen und die angemessene Reaktion wiederum selbst vertrauenswürdig erscheinen, liegt erneut nicht unmittelbar in den Händen der Polizei, sondern wird von außen, d.h. von der nichtpolizeilichen Öffentlichkeit, beurteilt. Bisher haben die bekannt gewordenen Ausnahmen keine Dimension erreicht, die das Systemvertrauen grundsätzlich in Frage gestellt hätte. Auch darin zeigt sich die erstaunlich große Stabilität des Systemvertrauens, das die Polizei in Deutschland genießt. Es erweist sich, dass das Systemvertrauen „relativ unabhängig von einzelnen Erfahrungen ist und „deshalb nicht leicht enttäuscht wird (Lahno 2002, S. 358). Aber: Die zwar punktuelle, aber stetige und gegebenenfalls unbefriedigende Diskussion von Ausnahmen kann zu einem Kipppunkt im Bereich des Systemvertrauens führen (ein sog. Tipping Point, vgl. Gladwell 2002). Beim Erreichen eines Kipppunktes würde sich der Schwerpunkt zur Seite des Misstrauens hin verschieben. Bisherige Ausnahmen würden damit zur erwarteten bzw. befürchteten Regel, was bisher die Regel ist, würde zur Ausnahme. Wo immer dies weltweit geschieht, wird ein gesellschaftliches Grundvertrauen so massiv gestört, dass das gesellschaftliche Zusammenleben in größte Gefahr gerät. Diesen Fall kann man als eine gesellschaftliche „Großschadenslage" ansehen.

    Das Systemvertrauen ist nur eine Seite des der Polizei entgegengebrachten Vertrauens. Die andere Seite ist der konkrete persönliche Kontakt zwischen Polizei und Bürger:innen (vgl. Liebl 2005). Auch hier steht viel auf dem Spiel, denn wir „nehmen die Vertrauenswürdigkeit einzelner Personen als Signal der Vertrauenswürdigkeit einer Institution, deren komplexen Charakter wir im Einzelnen nicht überblicken können." (Lahno 2002, S. 359) Damit gewinnt das persönliche Auftreten und Handeln von Polizistinnen und Polizisten eine sehr wichtige Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Systemvertrauens in die Polizei als Organisation.

    Ein besonderes Merkmal dieser „Schnittstelle" zwischen Bürger:innen und Polizei besteht darin, dass in vielen Einsatzsituationen die Polizist:innen als Einzelne bzw. als Streifenteam den einzelnen Menschen unmittelbar gegenüber stehen und eine darüber hinausgehende hierarchische Kontrolle ihres Handelns aktuell nicht gegeben ist. Sie entscheiden in der Regel also selbst unmittelbar vor Ort, was und wie etwas zu tun ist. In diesem Setting spiegelt sich etwas von der genannten Unkontrollierbarkeit wider – die von vielen Polizist:innen auch als eine besondere Freiheit ihrer Arbeit empfunden wird.

    Somit zeigt sich die Bedeutung des Vertrauens auf dreifache Weise:

    •Erstens bleibt der Organisation Polizei nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass die Polizist:innen vor Ort das Richtige auf die richtige Weise tun.

    •Zweitens vertrauen die Bürger:innen darauf, dass die Polizist:innen dem ihnen abstrakt entgegengebrachten Systemvertrauen auch konkret vor Ort gerecht werden.

    •Drittens vertrauen die Polizist:innen darauf, dass sie unter Beachtung der genannten Erwartungen beider Seiten ihre Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten so einbringen können, dass kein weiterer Schaden entsteht und sich eine möglichst zufriedenstellende Lösung des anstehenden Problems für alle Beteiligten realisieren lässt.

    Auch hier zeigt sich die Allgegenwart von Vertrauensnotwendigkeiten einerseits, aber auch das permanente Angewiesensein auf Vertrauen, selbst und gerade in Situationen, die eher Misstrauen herausfordern. Doch wie kann man ein solches Vertrauen sichern? Im Hinblick auf Polizist:innen z.B. dadurch, dass versucht wird, „die Guten (so der „sprechende Titel von Rutkowsky 2017) für den Polizeidienst zu gewinnen. Denn wem sollte man vertrauen können, wenn nicht ihnen?

    1.2Ein Versuch moralischer Orientierung: Sieben Gebote für den Polizeibeamten (1945)

    Die folgenden sieben Gebote für Polizeibeamt:innen wurden von der britischen Militärregierung 1945 als Richtschnur für den Wiederaufbau der deutschen Polizei in der britischen Besatzungszone formuliert. Dreißig Jahre später wurden sie in der Zeitschrift „Die Polizei noch einmal abgedruckt und mit dem Hinweis: „Heute so aktuell wie damals! versehen. Kann man das nach weiteren 50 Jahren immer noch sagen? Oder verändert sich der Polizeiberuf so schnell und so grundsätzlich, dass diese Anforderungen heute keine Rolle mehr spielen? Eine kurze Überprüfung scheint sinnvoll.

    Sie können Ihre Einschätzung zu den einzelnen Forderungen auf dem folgenden Fragebogen eintragen:

    Tab. 1: Fragebogen zu den sieben Geboten für Polizeibeamtinnen und -beamte, erstellt von Werner Schiewek, Text entnommen aus: Beese 2018, S. 28–29.

    Die „Sieben Gebote für den Polizeibeamten" zeigen anschaulich den normativen Erwartungshorizont, der für den Polizeiberuf in Deutschland ab 1945 (wieder) als grundlegend angesehen wurde. Das erklärt einerseits, dass sich hinter den sieben Geboten über vierzig Einzelforderungen verbergen, und andererseits die bis heute reichende Popularität solcher Beschreibungen. Sie transformieren die Forderung der Vertrauenswürdigkeit in ein moralisch imprägniertes Anforderungsprofil des Polizeiberufs.

    1.3Moralische Normen und Werte

    Gesellschaftliche Erwartungen an die Polizei, aber auch das polizeiliche Selbstverständnis sind stark von moralischen Vorstellungen durchsetzt und geprägt. Bilder „guter" Polizeiarbeit beinhalten dementsprechend nicht nur Fachkompetenz und Rechtssicherheit, sondern transportieren auch moralische Normen und Werte.

    Unter Normen versteht man die in einer Gesellschaft oder Gruppe gültigen Regeln für menschliches Zusammenleben. Sie haben den Sinn, Wertvorstellungen in Handlungen zu transformieren. Werte hat der Sozialpsychologe Milton Rokeach 1973 wie folgt definiert:

    „Ein Wert ist eine fortdauernde Überzeugung, dass eine bestimmte Handlungsweise oder ein bestimmter zu erreichender Lebenszustand für eine Person oder eine Gemeinschaft gegenüber einer gegenteiligen Handlungsweise oder einem entgegengesetzten Zustand vorzugswürdig ist." (Rokeach 1973, S. 5; Übersetzung U. W.)

    Ein Wert kann sich also auf die Handlungsweise einer Person (z.B. Ehrlichkeit, hilfsbereites Handeln) oder einen Zustand in der Welt beziehen (z.B. Wohlstand, gute Bildungschancen, hohes Maß an persönlicher Freiheit).

    Zur Orientierung ihres Handelns verfügen Menschen über ein ganzes Bündel von Werten, die je nach Situation genutzt werden. Allerdings sind nicht alle Werte automatisch moralische Werte, vielmehr lassen sich (im Anschluss an den Wirtschaftsethiker Josef Wieland) vier verschiedene Bereiche von Werten unterscheiden:

    Abb. 3: Werteviereck. Quelle: Wieland 2004, S. 23 ff.

    Diese vier Bereiche können unterschieden werden, auch wenn sie alle durch Werte gesteuert werden. So geht es im Bereich der Leistungswerte um Werte, die sich z.B. auf die Beherrschung eines Handwerks, auf ein Wissen oder Können sowie auf Leistungsmotivation beziehen. Die Präferenzen dieses Bereichs werden zwar durch Werte ausgedrückt, aber diese haben keine unmittelbar moralisch-ethische Qualität. So erfüllt die Erzielung eines Weltrekords im 100-Meter-Lauf zweifellos einen Leistungswert, der sich aber unter moralisch-ethischen Aspekten gerade neutral verhält. Ein:e 100-Meter-Weltrekordhalter:in wird durch diese Leistung weder ein moralischerer Mensch noch ist die Leistung selbst eine im engeren Sinn moralisch zu würdigende. So korreliert ein hoher Grad der Erfüllung von Leistungswerten nicht automatisch auch mit einem hohen Grad der Erfüllung moralischer Werte – und umgekehrt.

    Dieses Beispiel macht deutlich, dass es sinnvoll ist, die vier Wertebereiche zu unterscheiden. Gleichzeitig gilt, dass für eine Organisation eine Auswahl von Werten aus allen vier Bereichen nötig ist, um kooperatives Handeln stabil und nachhaltig zu organisieren. Wäre eins der Quadrate leer, hätte dies schwerwiegende negative Folgen.

    Zwischen den Werten der verschiedenen Quadrate gibt es wichtige Wechselwirkungen. Die moralischen Werte können zur ethischen Kontrolle der Werte in den nichtmoralischen Feldern dienen; durch sie kommt die moralische Komponente in die anderen Wertbereiche hinein. So kann z.B. hinsichtlich des Weltrekords im 100-Meter-Lauf gefragt werden, ob die gezeigte Leistung aufgrund des Einsatzes von Doping erzielt wurde. Damit werden die moralischen Werte von Fairness und Ehrlichkeit auf den Leistungsbereich angewandt. Es gibt aber auch folgenreiche Wirkungen in entgegengesetzter Richtung: Nicht selten erhöht z.B. ein Defizit bei den Leistungswerten die Wahrscheinlichkeit, dass Leistungsmängel durch moralisch fragwürdige Handlungen kompensiert werden – wie umgekehrt eine hohe Leistungsfähigkeit dazu führen kann, moralisch-ethische Handlungsspielräume zu vergrößern.

    Nicht jeder Wert, der in einer Gesellschaft oder Gruppe Geltung hat, ist automatisch ein moralischer Wert. Nichtmoralische Werte sind zunächst moralisch neutral. Um ihre Qualität in einer konkreten Situation moralisch zu beurteilen, muss (und kann) ein moralischer Wert auf sie angewandt werden.

    Viele Werte, die zunächst wie moralische Werte aussehen, sind in Wirklichkeit Kommunikations- oder Kooperationswerte. Dies gilt z.B. für den schon angesprochenen Wert des Vertrauens. Es kann nämlich nicht gesagt werden, Vertrauen sei grundsätzlich in moralischer Hinsicht „gut (und Misstrauen damit in moralischer Hinsicht „schlecht).

    Innerhalb der Polizei haben vor allem drei moralische Werte eine besonders hohe Bedeutung: Ehrlichkeit, das Halten von Versprechen und Gerechtigkeit. Dies sind Klassiker ethisch-moralischen Nachdenkens. In der Polizei sind sie so etwas wie die „moralische Alltagswährung", auch wenn explizit wenig über sie gesprochen wird. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen vielmehr Werte wie Vertrauen oder Menschenwürde. Bei ihnen handelt es sich um recht komplexe Wertkonzepte, die weniger Ausgangspunkte als vielmehr Ergebnisse einer erlebten und gelebten moralischen Praxis in der Polizei darstellen. Der Zugang zum „Komplizierteren läuft also über das „Einfachere: Ob die Würde des Menschen geachtet, ob jemand als vertrauenswürdig angesehen wird, zeigt sich in dieser Sichtweise am konkreten Umgang mit drei moralischen Werten Ehrlichkeit, Halten von Versprechen und Gerechtigkeit. Werden sie im Alltag nur nachrangig beachtet, beschädigt diese Entwertung die beiden zentralen Werte Vertrauen und Würde (vgl. Abb. 4).

    Abb. 4: Zusammenhänge zwischen Menschenwürde und Vertrauen. Darstellung W. S.

    Durch diesen Zusammenhang wird auch deutlich, dass das Vertrauen (als Kommunikations- oder Kooperationswert) auf moralischen Werten basiert, damit man „dem Vertrauen vertrauen" kann.

    Das Werteviereck ist darüber hinaus ein hilfreiches Instrument für ein persönliches oder organisationsbezogenes Wertescreening. Auch die in den „Sieben Geboten für den Polizeibeamten" enthaltenen Forderungen lassen sich damit sortieren, ebenso Leitbilder, Einstellungs- und Stellenprofile, Prüfungsordnungen und Fallbeispiele.

    1.4Polizeiliche Organisationskulturen als Wertsysteme

    Das ethische Thema der Werte erhält von Sozialwissenschaftler:innen, die im Feld Polizei forschen, seit einigen Jahrzehnten vermehrt Aufmerksamkeit. Werte und Normen werden als zentrale Bestandteile der Kultur einer Organisation verstanden. Was ist damit gemeint?

    Edgar H. Schein definiert Kultur wie folgt:

    „Die Kultur einer Gruppe kann als die Ansammlung gemeinsamen Lernens dieser Gruppe definiert werden, die Probleme der externen Anpassung und der internen Integration; das, was gut funktioniert hat, um gültig zu sein, wird neuen Gruppenmitgliedern gelehrt, was richtig ist, und was sie in Bezug auf solche Probleme wahrnehmen, denken und fühlen sollen. Diese Summe von Gelerntem stellt ein Muster oder System von Überzeugungen dar, von Werten und Verhaltensregeln, die als so grundlegend empfunden werden, dass sie schließlich aus der Bewusstheit verschwinden." (Schein & Schein 2018, S. 5)

    Innerhalb dieses weiten Kulturbegriffs hat sich ein engerer, auf Organisationen bezogener Kulturbegriff etabliert. Organisationskulturen bestehen demnach aus den gemeinsam geteilten

    •Grundannahmen,

    •Werthaltungen,

    •Normen und

    •Orientierungsmustern,

    die sich innerhalb einer Organisation zur Bewältigung der Probleme bewährt haben und die als Erwartungen an neue Mitglieder der Organisation weitergegeben werden, damit sie „in der richtigen Weise wahrnehmen, denken, fühlen und handeln." (Neubauer 2003, S. 22) Wer dazugehören will, muss sich im Rahmen dieser grundlegenden Orientierungsmuster bewegen.

    Dabei können drei Ebenen von Organisationskultur unterschieden werden:

    Abb. 5: Drei Ebenen von Organisationskultur. Quelle: nach Schein 2003, S. 31

    Den unbewussten, für selbstverständlich gehaltenen grundlegenden Annahmen kommt in diesem Modell eine besonders hohe Bedeutung zu, denn sie sind der „wirkliche Motor der Kultur (…), auf die sich das alltägliche Verhalten stützt." (Schein 2003, S. 39) Inhaltlich handelt es sich dabei z.B. um grundlegende Annahmen über

    •die Beziehung des Menschen zur Natur,

    •über das Wesen des Menschen,

    •über menschliche Beziehungen,

    •über das Wesen der Wirklichkeit,

    •über das Wesen der Wahrheit,

    •über Zeit und Raum (vgl. Schein 2003, S. 60–68).

    Wie jede Organisation bildet auch die Polizei eine spezifische Organisationskultur aus. Der ehemalige Polizist und heutige Polizeiwissenschaftler Rafael Behr schlägt folgende Definition von Polizeikultur vor:

    „Polizeikultur ist ein Bündel von Wertbezügen, die als transzendentaler Rahmen das Alltagshandeln von Polizeibeamten ermöglichen, begrenzen und anleiten. Wertbezüge geben darüber Auskunft, in welchen Situationen welche Werte und Tugenden in welchem Ausmaß Geltung erlangen (z.B. Selbstdisziplin, Tapferkeit, Loyalität, Zivilcourage) und auch darüber, wann und in welchem Ausmaß Gewalt angewendet werden muss, soll oder darf." (Behr 2006, S. 48, vgl. ebd., S. 181)

    Leitbild der Polizei in Baden-Württemberg

    Diese Leitbilder sind das Ergebnis intensiver Diskussionen über unsere Werthaltung und Selbstverständlichkeit.

    I. Für uns steht der Mensch im Mittelpunkt.

    •Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind unser Ziel.

    •Das Menschenbild des Grundgesetzes ist für uns verbindlich.

    •Wir achten die Würde jedes Menschen.

    II. Recht und Gesetz bestimmen unser Handeln.

    •Wir sind Garant für die Innere Sicherheit.

    •Wir wahren die Grundrechte und gehen mit unseren Eingriffsbefugnissen verantwortungsbewußt um.

    •Wir sind unbestechlich und schreiten - so weit geboten - konsequent ein.

    •Unsere Aufgabenerfüllung berücksichtigt gesellschaftliche Entwicklungen; der Schutz von Menschen steht dabei im Vordergrund.

    III. Nur gemeinsam erreichen wir unsere Ziele.

    •In diesem Klima gedeihen Offenheit und Kreativität.

    •Vertrauen und Partnerschaft prägen unseren Umgang miteinander.

    •Kritikfähigkeit und Zivilcourage gehören untrennbar dazu.

    •Kooperatives Führen ist Voraussetzung und verpflichtet uns zu vorbildlichem Verhalten.

    IV. Bürgernähe führt uns zum Erfolg.

    •Konflikte handhaben wir einfühlsam und kompetent.

    •Wir treten freundlich, korrekt und hilfsbereit auf.

    •Mit Dienstleistungen rund um die Uhr gewinnen wir das Vertrauen der Bürger.

    •Zuverlässigkeit und Offenheit bilden die Grundlage für diese Sicherheitspartnerschaft.

    V. Unser Dienst erfordert den ganzen Menschen.

    •Wir sind leistungsbereit und übernehmen Verantwortung.

    •Wir streben nach Professionalität und lernen aus unseren Fehlern.

    •Wir fördern Kreativität und Selbstverwirklichung des Einzelnen im Rahmen unserer gemeinsamen Ziele.

    VI. Die Zukunft mitgestalten – Unser Weg.

    •Unsere Ressourcen setzten wir verantwortungsbewusst ein.

    •Professionelles Handeln und Leistung bestimmen unser Selbstbewusstsein und unseren Stellenwert in der Gesellschaft.

    •Wir begreifen den gesellschaftlichen Wandel als Herausforderung – Innovation ist unsere Stärke.

    •Berufszufriedenheit, Wirtschaftlichkeit und Qualität sichern wir durch qualifizierte Aus- und Fortbildung, lebenslanges Lernen, berufliche Perspektiven und zeitgemäße Arbeitsbedingungen.

    Abb. 6: Leitbild der Polizei Baden-Württemberg. Quelle: https://www.polizei-bw.de/leitbild/ [Die Reihenfolge der Einzelaussagen auf der Website wurde gegenüber früheren Fassungen verändert.]

    Zwei Organisationskulturen innerhalb der Polizei sind in der internationalen Polizeiforschung immer wieder nachgewiesen worden. Dabei handelt es sich um die Polizeikultur und die Polizistenkultur (Behr 2006, 2008). In der englischsprachigen Forschung wird diese Unterscheidung durch die Begriffe „management cop culture vs. „street cop culture (vgl. Reuss-Ianni & Ianni 2005) markiert; für deutsche Polizeien hat Anja Mensching die Begriffe „Aktenpraxis und „Aktionspraxis (Mensching 2008) in die Diskussion eingeführt. Beide Kulturen unterscheiden sich nachhaltig voneinander. Während im Bereich der Polizistenkultur eine Logik zielführender Polizeiarbeit „auf der Straße" vorherrscht, wird der Bereich der Polizeikultur durch eine bürokratische Logik dominiert. Zum Kerninhalt der bürokratischen Logik gehört, dass jede Führungskraft dafür verantwortlich ist, dass in ihrem Verantwortungsbereich die rechtlich vorgeschriebenen Regeln und Verfahren eingehalten werden (Christe-Zeyse 2006a, S. 194, vgl. ebd., S. 192–195). Die Polizistenkultur orientiert sich demgegenüber an erfolgreicher Lagebewältigung im Einsatz bzw. effektiver Sachbearbeitung (Christe-Zeyse 2006a, S. 185–191). Daraus ergibt sich auch, dass die Polizeikultur einen offiziellen Charakter trägt und nach außen darstellbar ist, während die Polizistenkultur einen informellen Status besitzt und im Wesentlichen ein geteiltes Wissen der sog. street cops darstellt, das nach außen nicht darstellbar ist.

    Die Werte und Normen der Polizeikultur werden in Leitbildern festgehalten und nach innen wie außen kommuniziert (Ebene der offiziell propagierten Werte nach Schein 2003, S. 31; vgl. das Leitbild der Polizei Baden-Württemberg, S. 29).

    Im Gegensatz zu den Werten und Normen der Polizeikultur finden sich die Normen der Polizistenkultur nicht auf Papier. Sie sind dem alltäglichen Handeln von Polizist:innen auf der Straße zu entnehmen.

    Tab. 2: Gegenüberstellung von Polizeikultur und Polizistenkultur. Zusammenstellung U. W.

    Rafael Behr hat in seinem Buch „Cop Culture" auf der Grundlage von Interviews und teilnehmender Beobachtung zehn zentrale handlungsleitende Normen formuliert, die seines Erachtens die Polizistenkultur prägen.

    Tab. 3: Handlungsmuster der Polizistenkultur. Quelle: Behr 2008, S. 238

    1.5Was ist eine gute Polizistin, ein guter Polizist?

    Wenn Werte als Merkmale eines moralisch guten Charakters verstanden werden, spricht man von Tugenden. Unter Tugend versteht man die charakterliche Disposition einer Person zum moralischen Handeln, die nicht angeboren ist, sondern durch fortgesetzte Übung erworben wird (Höffe 2023, S. 341 f.). Entsprechend wird von Polizist:innen ein moralisch guter Charakter erwartet.

    Tugendhafte Polizistinnen und Polizisten?

    Vieles spricht dafür, „daß Vorstellungen, die ‚den Polizisten‘ als besonders ‚tugendhaften‘ Menschen charakterisieren, am Anfang der Ausbildung sehr viel häufiger anzutreffen sind als später, ja, es scheint sogar so zu sein, als ob sich derartige Vorstellungen sehr bald nach der Aufnahme des Studiums abbauten."

    Löbbecke 2004, S. 212

    Eine empirische Erhebung zur Frage des „idealen Polizisten" findet sich bei Peter Löbbecke (Löbbecke 2004, S. 206–231). Das Ergebnis sieht tabellarisch wie folgt aus:

    Tab. 4: Eigenschaften eines „idealen Polizisten". Quelle: Behr 2006, S. 184

    Rafael Behr hat einen stark tugendethisch ausgerichteten Vorschlag zur Entwicklung einer wertegebundenen Polizeikultur vorgelegt. Innerhalb dieser erweiterten Tugendlehre für die Polizei stellt er einen Tugendkatalog des:der idealtypischen Polizist:in vor (Behr 2006, S. 184). Seine Leitidee für die Einbettung dieser Tugenden ist die Entwicklung bzw. Förderung eines institutionellen Patriotismus in der Polizei.

    Behr greift hier den Begriff des Patriotismus auf, bezieht ihn aber nicht auf Nationalität, sondern auf die Identifikation mit einer nationenübergreifend vorhandenen Institution: dem Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats. Er will damit drei für die Polizeiarbeit wichtige Komponenten verbinden, nämlich

    •erstens die Leidenschaft für den gewählten Beruf mit den

    •zweitens vorhandenen kulturellen Verschiedenheiten und

    •drittens mit einer diesen Beruf prägenden universalen Berufsethik (vgl. Behr 2006, S. 188, vgl. ebd., S. 14 f.).

    Behr hält persönliche Tugend für eine unverzichtbare Voraussetzung des Polizeiberufs, denn „Tapferkeit, Mut und Zivilcourage kann nicht bürokratisch angeordnet werden." (Behr 2006, S. 96) Polizist:innen benötigen

    „neben den kognitiven und rationalen Grundlagen auch ein intuitives Verhältnis zu ihrem Beruf: es muss sich lohnen, sich in Gefahr zu begeben, Risiken in Kauf zu nehmen, seine Gesundheit zu beschädigen. Das tun die allermeisten Polizisten nicht aus reiner Großmannssucht oder aus machistischem Imponiergehabe, sondern aus einem Gefühl der Verantwortung gegenüber den eigenen Idealen, den Kollegen, den ‚signifikanten Anderen‘, besonders den Angehörigen etc." (Behr 2006, S. 99)

    Dreh- und Angelpunkt einer solchen Sichtweise ist für Behr „die Wertschätzung gegenüber der Institution des Gewaltmonopols, und zwar insoweit, als sie demokratisch legitimiert und völkerrechtlich akzeptiert ist. (Behr 2006, S. 188) Institutionspatriotismus stellt damit eine Haltung dar, die „sich mit einem gewissen Maß an Leidenschaft einem Wertesystem verschreibt, das von definierten gesellschaftlichen Institutionen vertreten wird. (Behr 2006, S. 185) In dieser Haltung liegt „ein Bekenntnis zu etwas, es geht ausdrücklich um Überzeugung, nicht um Rationalität." (Behr 2006, S. 185) Behr geht es um ein bestimmtes Selbstverständnis, das von dem grundsätzlichen Bewusstsein geprägt wird, „eine Lizenz zur Gewaltausübung zu besitzen, und zwar nach vergleichbaren juristischen und ethischen Maßstäben (…) insoweit, als sie demokratisch legitimiert und völkerrechtlich akzeptiert sind." (Behr 2006, S. 187 f.).

    Was sind Kardinaltugenden?

    Zu den Kardinaltugenden werden seit der Antike folgende vier Tugenden gezählt:

    1.Klugheit

    2.Gerechtigkeit

    3.Tapferkeit (Mut)

    4.Besonnenheit (Maß)

    Während die sogenannten ethischen Tugenden im engeren Sinn (Nr. 2–4) sich dadurch auszeichnen, dass sie jeweils die Mitte zwischen zwei Extremen bilden, so gilt für Klugheit als Verstandestugend die Regel: Je mehr, desto besser.

    Vgl. Höffe 2023, S. 342

    Welche Tugenden entsprechen einer solchen Haltung des institutionellen Patriotismus? Behr greift auf die (klassischen) Kardinaltugenden zurück, die er als zentral und im polizeilichen Bereich als besonders förderungswürdig ansieht (Behr 2006, S. 182–184). Diese Kern- oder Primärtugenden seien allerdings für bürokratische Organisationen häufig „geradezu suspekt" (Behr 2006, S. 183). In Organisationen werden in der Regel sog. Sekundärtugenden wie Gewissenhaftigkeit oder Leistungsbereitschaft mehr geschätzt, weil sie das Funktionieren der Mitarbeiter:innen gewährleisten und damit zum Erfolg der Organisation beitragen. Sekundärtugenden müssen aber durch Orientierung an den Primär- oder Kardinaltugenden begrenzt und kontrolliert werden.

    Zur Konkretisierung seiner Idee einer polizeilichen Tugendlehre auf der Basis der Kardinaltugenden formuliert Behr eine umfangreiche Liste von 44 „Leitsätzen einer neuen Polizeikultur" (Behr 2006, S. 188).

    Prinzipien des institutionellen Patriotismus

    •Wir sind stolz darauf, Polizisten zu sein. Wir definieren uns als Spezialisten

    •für die Anerkennung und Durchsetzung des Gesetzes

    •für die Bewältigung und Abwehr von Gefahrensituationen

    •für den Umgang mit Menschen in schwierigen Situationen

    •für Grenzsituationen aller Art

    •für die Pazifizierung der Gesellschaft

    Allgemeine Prinzipien

    •Wir sind rund um die Uhr ansprechbar

    •Wir schaffen Vertrauen und Akzeptanz durch kompetentes Handeln

    •Wir unterstützen uns gegenseitig

    •Aus Fehlern lernen wir – und wir besprechen sie gemeinsam, wenn es irgendwie geht, und mit denen, die Abhilfe schaffen können

    •Wir schaffen Vertrauen, weil wir die Gesetze achten

    •Wir achten auf unser Erscheinungsbild

    •Wir helfen, wenn Menschen in Not sind und wenn Hilfe erforderlich ist

    •Wir erklären, was wir tun, wenn dazu Zeit ist – wenn nicht, dann nach der Maßnahme

    •Wir entwickeln unser polizeiliches Handeln weiter und sprechen im Kollegenkreis und mit Fachleuten darüber

    Unser Berufsethos

    •Wir handeln auch in unübersichtlichen Situationen mit kühlem Kopf

    •Wir sind da, wenn andere noch nach ihrer Zuständigkeit suchen

    •Wir ziehen uns zurück, wenn andere Institutionen ihre Zuständigkeit erklären

    •Unsere Maßnahmen passen wir flexibel der Situation an

    •Wir sind nicht dogmatisch – eine Maßnahme muss nicht a priori durchgezogen werden

    •Wir erledigen unsere Aufgaben rechtlich und moralisch korrekt

    •Unsere Kollegen betrachten wir als wichtige Unterstützung – aber nicht als das Maß aller Dinge

    •Wir folgen den Idealen einer Polizei, die für verfassungskonforme Freiheit sorgt, nicht für die Dominanz einer Partei

    •Im Dienst sind wir immer bereit, Verdacht zu schöpfen

    •Unseren Eifer orientieren wir an den Rechtsgütern, nicht an der Zufriedenheit der Verwaltung oder der Vorgesetzten

    •Wir lassen uns empathisch auf unsere Klienten ein, verbünden uns aber nicht mit ihnen

    •Wir stehen denjenigen bei, die unseren Schutz benötigen, weil sie sich selbst nicht helfen können

    •Wir respektieren die physische

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