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Banditen in London: Abenteuerroman
Banditen in London: Abenteuerroman
Banditen in London: Abenteuerroman
eBook441 Seiten5 Stunden

Banditen in London: Abenteuerroman

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Über dieses E-Book

Fünf Jugendliche aus Hamburg beginnen die Ferien 2019 voller Vorfreude auf sechs Wochen Sommer. Matthias, Lennart und Niklas, dazu Alexandra und Leonie, alle zwischen dreizehn und fünfzehn Jahren alt, ahnen noch nicht, dass tief unter dem Waisenhaus, in dem sie wohnen, ein Tunnel liegt, durch den sie mit einem per Druckluft betriebenen Zug zu einem unglaublichen Abenteuer nach London gelangen – jedoch nicht in die heutige englische Hauptstadt, sondern in die von Königin Victoria, genauer: ins London der ersten Weltausstellung von 1851.

Im Zeitalter der Industriellen Revolution treffen sie auf Lord Rosse, den Präsidenten der Royal Society, Mary Schlesinger, eine amerikanische Angestellte der Detektei Pinkerton, und William Robinson, einen Banditen, wie er im Buche steht: gerissen, mit allen Wassern gewaschen und gefährlich.

In der Tradition der Abenteuerromane des neunzehnten Jahrhunderts beschreibt Paul Schaffrath mit Ironie und Spaß für alle Leser von 9 bis 90 die aberwitzige Jagd der fünf Jugendlichen zwischen London und Manchester nach dem Werkzeug, das ihnen die Rückkehr in die eigene Zeit ermöglichen soll.
SpracheDeutsch
Herausgebercmz
Erscheinungsdatum3. Juni 2024
ISBN9783870623708
Banditen in London: Abenteuerroman

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    Buchvorschau

    Banditen in London - Paul Schaffrath

    Bericht über eine zutiefst erstaunliche Reise von Hamburg nach London

    Die alte Zeitung

    Die verborgene Tür im Keller entdeckte ich erst nach drei Wochen. Wie üblich hatte ich hinuntergehen müssen, um eine neue Kiste Apfelsaft zu holen, und wie immer hatte ich erst mein Buch zur Seite gelegt. Und auf den Keller hatte ich nun wirklich keine Lust.

    Mit Hadschi Halef Omar hatte ich die Wüste durchquert, mit Alex Rider gegen Schurken gekämpft und gewonnen, über den Inhalt von Hermiones Handtasche gestaunt, der mir wieder wie so oft aus einer Notlage geholfen hatte, über Reginald Bull gelacht, wenn er sich durch seine Tolpatschigkeit in eine neue brenzlige Situation auf einem weit entfernten Planeten gebracht hatte, Elizabeth Bennet bei der Zurückweisung von Verehrern beobachtet und Old Shatterhand zur Seite gestanden, wenn es wieder gegen die Komantschen ging. Ich hatte die Wüste Gobi durchquert, war über die Kordilleren geritten, hatte Hunderte von Meilen an Bord der Nautilus unter den Meeren zurückgelegt und war knapp dem Tod in District 12 entronnen. Aber alleine in den Keller zu gehen – das bedeutete jedes Mal, meine Angst vor irgendwelchen dunklen Gestalten in noch dunkleren Ecken zu überwinden. Echten dunklen Ecken.

    Wahrscheinlich spielte mir meine Phantasie einen Streich, wenn ich aus dem behaglichen ersten Stock des alten Hauses nach unten geschickt wurde. Die vielen Bücher in der umfangreichen Bibliothek meines Vaters zu verschlingen, seit ich kaum Lesen gelernt hatte, hatte mir zwar das Dasein als Einzelkind erleichtert, meine Furcht vor dem wirklichen Leben aber nur – je nach Wetterlage und Laune – fast ins Unermessliche gesteigert. Da die meisten Bücher meines alten Herrn aus dem neunzehnten Jahrhundert stammten, hatte ich mir viele Hintergrundkenntnisse über diese Epoche verschaffen können. Andererseits war meine Flucht aus der Gegenwart dadurch enorm begünstigt worden – es gab ja immer etwas, vor dem man sich in Sicherheit bringen musste: Stress mit Freundin / Lehrer / Elternteil – Zutreffendes bitte einsetzen –, Alltagsereignisse, die man lieber nicht mitbekommen wollte, Krankheiten, die einem Angst und Bange machen konnten, und und und … Ich war also auf der Flucht vor dem wirklichen Leben und verbrachte jede Minute an freier Zeit mit meinen imaginären Helden, deren oft übermenschliche Fähigkeiten ich mir anzueignen versuchte – was natürlich nicht funktionieren konnte. Aber ich sog alles auf, was ich erfahren konnte; man konnte nie wissen, wozu es gut sein würde. Und ich war zu einem guten Beobachter von Alltagssituationen geworden, das glaubte ich jedenfalls. Allerdings ist die Überheblichkeit auch einer der besser gepflasterten Wege zur Hölle. Na ja, ich war ja noch jung und hatte daher jedes Recht, Fehler zu machen.

    Zurück zum Keller. Zuletzt war ich vor drei Tagen unten gewesen, um einen Sack Kartoffeln nach oben zu schleppen. Nicht, dass ich dabei jemals in etwas anderes als einen völlig normalen, leicht zu vollen Raum gelangt wäre. Also, was sollte dieses Mal schon Großes passieren?

    Die Dielen ächzten, als ich die schmale Treppe hinunterging, die nur von einer trüben Funzel erleuchtet wurde. Die Tür, die schräg in den Angeln hing, fiel wie immer ins Schloss, als ich sie passiert hatte, was meine Unternehmung nicht gerade erleichterte. Unten versperrte eine eiserne zweite Tür den Zugang zu einem Geschoss, das nur die Hälfte der Grundfläche des Hauses einzunehmen schien. Ich hatte mich über die geringen Ausmaße gewundert, aber schon auf dem Rückweg den Gedanken an geheimnisvolle, unbekannte Räume wieder vergessen. Wahrscheinlich hatte der Erbauer nur Geld sparen wollen und nicht alles unterkellert.

    Ich schloss auf und erwischte direkt beim ersten Versuch den etwas zu tief angebrachten Schalter. Eine weitere spärliche Glühbirne warf ein wenig Licht auf den rohen Boden. Wie beim letzten Besuch schwor ich auch dieses Mal, beim nächsten Besorgungsgang eine LED-Birne mitzunehmen und einzusetzen. Aber es würde wohl bei dem guten Vorsatz bleiben, da ein Austausch der Lichtquellen eine kurze Dunkelheit zur Folge haben würde, und darauf konnte ich gut verzichten.

    Die leere Apfelsaftkiste setzte ich neben dem alten Holzregal ab, das unseren Trinkvorrat beherbergte. Dann bückte ich mich, um den Behälter mit den neuen Flaschen herauszuziehen, und stutzte.

    Hinter dem Regal war in etwa fünfzig Zentimeter Höhe – und daher von oben nicht zu sehen – ein merkwürdig aussehender Schalter angebracht: Er bestand aus einer kreisrunden, vom Alter matt gewordenen Messingfläche und einem kurzen Kippschalter, der in einer kleinen Kugel auslief. Nach einem zugelassenen TÜV-Schalter sah das nicht aus.

    Neugierig, wie ich nun einmal war, schob ich den kleinen Hebel nach unten.

    Etwas surrte, und fast elegant glitt das Regal zur Seite und offenbarte eine dahinterliegende Tür, Ton in Ton mit der Farbe des Mauerwerks.

    Ich sah mich unwillkürlich um. Aber logischerweise gab es nur mich hier unten, die Tür zum Keller, durch die ich gekommen war, und die »neue«, soeben aufgetauchte Tür. Und etwas Apfelsaft.

    Wie zur Warnung wurde das Licht der Glühbirne dunkler. Aber da ich nun einmal angefangen hatte, wollte ich nicht schon wieder kehrtmachen, den Schalter nach oben schieben, das Zurückfahren des Regals vor die Tür abwarten und unverrichteter Dinge in unsere Wohnräume zurückkehren.

    Ich war neugierig. Sehr sogar.

    Kurz entschlossen drückte ich die ebenfalls aus Messing bestehende Klinke herunter und öffnete die Pforte zur Unterwelt, wie Edgar Allan Poe sie vermutlich bezeichnet hätte.

    Etwas modrige Luft schlug mir entgegen. Offensichtlich war hier unten länger nicht gelüftet worden.

    Unwillkürlich tastete ich nach links. Tatsächlich fühlte ich innen einen ähnlichen Schalter wie den von außen. Ich klappte auch hier den kleinen Hebel herunter, und mit einer leichten Verzögerung erhellte gelbliches Licht eine schmale Treppe. Langsam ging ich die Stufen hinunter. Ein paar Mal flackerte das Licht bedrohlich, als wolle es gleich erlöschen. Beunruhigt tastete ich nach meinem Handy in der Hosentasche und holte es hervor.

    Mist. Nur noch achtundzwanzig Prozent Ladung. Lange würde das Gerät bei eingeschalteter Taschenlampen-App nicht mehr funktionieren.

    Egal.

    »Wat mutt, dat mutt«, hatte mein Vater immer gesagt. »Durchhalten. Es ist schneller vorbei, als du hoffst.«

    Noch hatte ich ja Licht.

    Wo die Treppe wohl hinführte? Wahrscheinlich zu einem älteren Gebäudeteil, oder der Erbauer hatte für dunkle Zwecke einen Geheimkeller angelegt. Meine Phantasie lief wieder auf Hochtouren.

    Ich zählte die Stufen.

    Eigentlich reichten fünfzehn, sechzehn Tritte, um von einem ins nächste Stockwerk zu gelangen; jedenfalls war das beim Treppenhaus unserer Doppelhaushälfte der Fall gewesen.

    Ich hatte beim Zählen schnell fünfundvierzig erreicht, was nach meinen geringen mathematischen Kenntnissen etwa drei Etagen bedeutete. Aber die Stufen hier waren etwas mühsamer zu gehen, da sie höher als in der Villa waren. Das bedeutete …

    Wie immer verlor ich den Faden beim Rechnen, so dass ich beschloss, erst ganz hinunterzugehen und anschließend zu kalkulieren.

    Alle paar Meter erhellte eine weitere Glühbirne die Treppe, und es roch merkwürdig. Wahrscheinlich wurde die Lichtquelle noch von Petroleum angetrieben. Oder von Gas.

    Was fehlte, um die unheimliche Atmosphäre zu vervollständigen, waren das regelmäßige Tropfen von Wasser und ein kalter Luftzug, der einem über den Nacken strich. Aber das hier war ein normaler Keller, jedenfalls sagte ich mir das, und in ein paar Minuten wäre ich ohnehin wieder oben im Tageslicht.

    Schließlich erreichte ich den Boden.

    Exakt zweihundertfünfzig Stufen, falls ich mich nicht verzählt hatte, was ich nicht glaubte. Präzision war mir angeboren.

    Super.

    Ich stand vor einer weiteren Tür.

    Diesmal war sie allerdings aus Stahl oder einem ähnlichen Blech. So tief, wie ich inzwischen unter der Villa sein musste, war das hier bestimmt im Mittelalter gebaut worden. Hatte man damals schon Blech verwendet? Um das zu beantworten, reichten meine literarischen Kenntnisse nicht aus und die aus dem Geschichtsunterricht schon gar nicht. Das letzte halbe Jahr bei Dr. Fausten hatte ich nämlich damit zugebracht, unter dem Tisch zu lesen – von der Zeit des Nationalsozialismus ein drittes Mal zu hören (nach Religion und Deutsch), darauf hatte ich nun wirklich keine Lust.

    Interessant. Eine Klinke, aber kein Schlüsselloch.

    Ich sah mich um. Vielleicht gab es ja irgendwo einen weiteren Schalter, den ich betätigen konnte.

    Nichts.

    Probeweise drückte ich die Klinke hinunter.

    Dann rüttelte ich an der Tür.

    Immer noch nichts.

    Ungeduld hatte noch nie zum Ziel geführt, worauf der Chinese Großer-Tiger seinen deutschen Freund Christian nachdrücklich hingewiesen hatte, als sie in den Wirren des Bürgerkriegs unterwegs waren und nur so schnell wie möglich nach Peking zurückreisen wollten. In meiner Begleitung.

    Manchmal führt angestrengtes Nachdenken zum Ziel.

    Ich betrachtete die Tür genauer. Sie war etwas über zwei Meter hoch, vielleicht halb so breit und mit drei Angeln an der Zarge befestigt. Die Klinke, auch sie aus Messing, war etwas über meiner Hüfthöhe angebracht.

    Plötzlich hatte ich eine Idee.

    Ich umfasste die Klinke mit der rechten Hand und zog sie nach oben.

    Ein leises Geräusch, fast ein Zischen, ertönte, und die Tür fuhr zur Seite.

    Ging doch!

    Was ich aber dann sah, verschlug mir die Sprache.

    Vor mir lag eine U-Bahn-Station, jedenfalls schien es auf den ersten Blick so auszusehen. Zwei Gleise kamen von links aus dem Dunkel und verschwanden nach rechts im Dunkel. Oder?

    Ich sah genauer hin. Nach rechts schien das Tunnelstück nur wenige Meter lang zu sein und dann vor einer Wand zu enden.

    Merkwürdig.

    Wenn Züge von links kamen und auch nach links wieder abfahren mussten, dann war das hier eher eine Art Sackbahnhof, wie der von Altona, der nur ungefähr zweieinhalb Kilometer von der Villa entfernt war.

    Die Wände waren gekachelt, altweiß. Nirgendwo gab es Plakate, die einen in den anderen Hamburger Untergrundbahnhöfen förmlich anschrien. Keine Anzeigetafel war zu sehen, keine elektronischen Fahrpläne, keine kleinen Kioske mit »Reisebedarf«, zu dem in erster Linie Alkohol in kleinen Flaschen und erst dann Süßigkeiten wie auch Zeitungen zu zählen scheinen.

    Schon ziemlich seltsam.

    Vielleicht handelte es sich um eine nicht fertig gebaute Haltestelle, die man irgendwann aufgegeben hatte, statt sie ins örtliche Verkehrsnetz einzubinden.

    Wie groß mochte die Station sein? Von einem Tunnelende bis zum nächsten waren es vielleicht dreißig, fünfunddreißig Meter, mehr nicht. Die Hamburger U-Bahn-Haltestellen waren allesamt länger. Ein hier haltender Zug konnte demnach nicht mehr als ein, zwei Waggons umfassen, plus Lokomotive.

    Ich ging die wenigen Meter bis zur Bahnsteigkante und betrachtete die Schienen näher. Sie bestanden aus blankem Gusseisen, auf dem eine leichte Staubschicht lag. Fast schien es, als würde hier regelmäßig geputzt werden, was aber sicher einen Monat her sein musste.

    In der Mitte zwischen den Schienen verlief eine fast schwarze Röhre im Gleisbett, vielleicht zwanzig Zentimeter im Durchmesser. Das Material sah nach Gummi aus. Oben auf ihr war ein mit hellerem Gummi verschlossener Spalt zu sehen. Alles sehr merkwürdig. Ob das hier eine wofür auch immer vorgesehene Experimentierstation gewesen war? Aber wo fing die Strecke an? Und wer hatte sie gebaut?

    So richtig verbraucht roch die Luft auch nicht mehr. Irgendwo musste es also ein Lüftungssystem geben. Welche Züge hier wohl hatten einfahren sollen? Und welche Maschinen mochten sie gezogen haben? Ich meinte mich zu erinnern, dass die ersten Lokomotiven noch von Holz und Kohle angetrieben worden waren, aber bestimmt nicht unterirdisch. Dann wären die Passagiere ja an Kohlenmonoxyd erstickt. Und um eine elektrifizierte Strecke schien es sich auch nicht zu handeln.

    Wahrscheinlich blieb das eines der vielen Rätsel, mit denen man es im Laufe des Lebens zu tun bekommt, über deren Unlösbarkeit man sich ärgert, die man aber schließlich wieder vergisst. Gar manche Frage im Leben würde unbeantwortet bleiben, so hätte es Alexandra gesagt, die sich manchmal etwas gespreizt ausdrückte.

    Ich drehte mich um, um die vielen Stufen wieder nach oben zu gehen, blickte aber noch einmal zurück. Probeweise streckte ich mich sogar, erreichte aber trotz meines erhobenen Zeigefingers nicht die Decke des niedrigen Tunnels. Na ja, zur Zeit war ich gerade mal eins sechzig groß; da konnte man nicht mehr verlangen.

    Aus dem Augenwinkel nahm ich im Gleisbett eine Bewegung wahr. Ein kleiner Luftzug ließ etwas sanft flattern. Ich bückte mich und hob eine zusammengefaltete und achtlos weggeworfene Zeitung auf.

    Die Blätter waren leicht gelblich, als ob das Druckerzeugnis schon etwas älter war. Ich lag richtig, wie ich beim Auseinanderfalten sah. The Illustrated London News hieß das Blatt. »Meine« Ausgabe stammte vom – ich musste zweimal hinsehen, um es zu glauben – fünften Juli 1851, war also fast einhundertundsiebzig Jahre alt. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen oder in Zahlen betrachten: 170. Die Zeit meines Ur-Ur-Großvaters. Mindestens.

    Und diese wertvolle Zeitung hatte jemand weggeworfen, sich ihrer entledigt, sie einfach durch Fallenlassen entsorgt. Wenn sie diesem Jemand nämlich etwas bedeutet hätte, hätte er sie bestimmt behalten.

    Ich faltete das Dokument – als ein solches musste man es als anständiger Archivar ja einfach ansehen – vorsichtig in den ursprünglichen Knicken wieder zusammen. Tatsächlich hörte ich bei solchen Gelegenheiten die Stimme meiner Mutter: »Willst ein Tischtuch du erhalten, leg es in dieselben Falten.« Nun ja.

    Nachdem ich die Tür vor dem »U-Bahnhof« mittels Kippschalter wieder in die ursprüngliche Position gefahren hatte, stieg ich nach oben.

    Nachdenklich stand ich schließlich erneut vor dem Apfelsaftregal. Was sollte ich tun? Den anderen etwas erzählen, sie neugierig machen, mit ihnen hinuntergehen, nur damit die Heimleitung hinterher wieder etwas zu meckern hatte?

    Oder sollte ich Stillschweigen bewahren, was mir sicher mehr als schwer fallen würde, da ich bisher jeden ungefragt an meinen literarischen Abenteuern hatte teilnehmen lassen, ob sie wollten oder nicht? Zumindest war ich in den vergangenen drei Wochen, seit ich ins Kinderheim gezogen worden war, oft genug angeeckt. Richtig angefreundet hatte ich mich mit den Kindern, besser gesagt: Jugendlichen, die außer mir hier wohnten, noch nicht; dabei waren wir alle fast gleich alt.

    Schließlich fasste ich einen Entschluss.

    Ohne Eltern

    Waisenhäuser liegen immer am Ende der Straße, die einen kleinen Hügel hinaufführt. Sie sind immer mindestens hundert Jahre alt, bestehen aus dunkelbraunem Backstein und besitzen manchmal sogar zwei Säulen rechts und links vom ehrfurchtgebietenden Eingang. An der schweren Holztür ist stets ein Türklopfer befestigt, in der Regel in Form eines messingnen Löwen. Ein Blechschild mit dem Namen der jeweiligen Institution hat schief darüber zu hängen. Oder ein kupfernes ist auf Augenhöhe neben den Eingang genagelt. Und im ersten Stock muss hinter einem halb zurückgezogenen Vorhang an einem Fenster ein verhungert aussehendes Mädchen mit grauem Gesicht und leeren Augen stehen und nach unten schauen.

    So war das bisher bei allen Waisenhäusern gewesen, die ich gesehen hatte. Zwischen zwei Buchdeckeln. Also auf Buchseiten. Beispielsweise bei der Lowood Institution, in der einer gewissen Jane Eyre von einer Mrs. Reed übel mitgespielt wurde. Und einem Waisenjungen namens Oliver Twist war es in einem anderen Roman genauso ergangen.

    Wir dagegen hatten es viel besser getroffen.

    Unser Waisenhaus war anders. Es hieß schon anders. Außerdem handelte es sich um ein Reihenhaus in Ottensen, einem von Hamburgs »besseren« Stadtteilen, das wenigstens aus dem neunzehnten Jahrhundert stammte, so dass es durchaus etwas Geheimnisvolles an sich hatte.

    Schon von außen sah es heimelig aus: Rote Backsteine, Sprossenfenster mit weißen Rahmen und weißen Simsen, kleine Verzierungen zwischen den Stockwerken, symmetrisch: Eingang in der Mitte, rechts und links jeweils zwei Zimmer nach vorne, drei Stockwerke, das Parterre erreichte man nach fünf Stufen, der obere Teil des Kellers lugte also auf den Gehweg vor dem Haus, ein kleiner Vorgarten, ein schmiedeeiserner Zaun, der fast so hoch wie ich war, und ein letztes, niedrigeres Stockwerk direkt unter dem Dach, wo man allen möglichen Krempel aufbewahren konnte.

    Die anderen Häuser in der Straße besaßen alle ein ähnliches Aussehen – kein Wunder, schienen sie doch aus der gleichen Zeit zu stammen, etwa 1880, als für die sich rasant vergrößernde Hamburger Bevölkerung Häuser benötigt und gebaut wurden. Die Farben der Fassaden unterschieden sich; die Verzierungen waren nie dieselben; mal war die Haustür links zu sehen, mal rechts. Aber immer war das Erdgeschoss nur über ein paar Stufen zu erreichen. Häuser ohne Parterre also. Um den Eindruck einer stehengebliebenen Zeit zu verstärken, spendeten in regelmäßigen Abständen große Bäume Schatten, deren Namen ich nicht wusste. In Biologie war ich immer schlecht gewesen.

    Die Idylle wurde allerdings erheblich durch eine Baustelle des Senats gestört: Die Verwaltung hatte sich anscheinend für eine neue Bushaltestelle entschieden und zu diesem Zweck zuerst einmal die Straße aufgerissen. Das entstandene Loch, das von einem Baustellenzaun gesichert wurde, harrte mindestens schon die drei Wochen, seit ich in der Villa wohnte, der Fertigstellung.

    Ich hoffte nur, dass die Bauarbeiter nicht so tief gebuddelt hatten, dass sie auf »meine« geheime U-Bahnhaltestelle gestoßen waren …

    Innerhalb der Absperrung lagen auf einem Haufen die herausgenommenen Pflastersteine. Ja, unsere Straße besaß tatsächlich noch Kopfsteinpflaster, das noch nicht mit Asphalt übertüncht worden war. Irgendwie sah alles hier nach 1920 aus; es fehlten nur die Damen in langen Kleidern und Pferdedroschken.

    Wir hatten übrigens tatsächlich einen Türklopfer in Form eines Löwen! Also nicht wir, die Haustür des Kinderheims …

    Wir, das waren außer mir noch zwei Mädchen und zwei Jungs, alles Teenager und in der Regel ziemlich nervig, sowohl untereinander, als auch dem Lehrpersonal gegenüber, von dem wir mit bedeutungsschweren Blicken als dem Leer personal sprachen, was wir ziemlich lustig fanden. Meistens handelte es sich nämlich bei den Anweisungen an uns und den gleichzeitig angekündigten Konsequenzen, sollten wir nicht gehorchen, um leere Drohungen. Die anderen lachten, wenn der Spitzname fiel. Ich fand ihn spätestens beim zweiten Mal nur noch albern. Lehrpersonal stimmte ohnehin nicht: Es gab den Hausmeister, Simon Klein, der nur in blauer Arbeitshose und Sicherheitsschuhen anzutreffen war und den ich allein schon aufgrund seines merkwürdigen Backenbartes etwas seltsam fand – die buschigen Koteletten gingen ansatzlos in einen ebenso buschigen Schnurrbart über, walrossgroß, der beide Lippen verdeckte, während das Kinn frei blieb –, die »Vorsteherin« mit grauem Rock und rotem Pullover, deren Anweisungen alle zu folgen hatten, und eine Köchin, die extrem dünn war. Dabei kochte sie gut; uns schmeckte es jedenfalls immer. Wahrscheinlich hatte sie nur die Anzahl an Salattagen in ihrer Diät falsch berechnet.

    Unterricht gab es keinen im Haus. Den hatten wir nämlich woanders, draußen, je nach Neigung und intellektuellen Fähigkeiten. Alexandra und ich waren auf dem Altonaer Gymnasium in der Nähe. Leonie besuchte die Max-Brauer-Gesamtschule, zu der sie ebenfalls zu Fuß gehen konnte, was der Reduzierung ihres Umfangs nur gut tun konnte. Keine Sahnetorte war schnell genug, um ihr auszuweichen, wenn sie vorbeikam, was ihr den Spitznamen Cream eingetragen hatte. Wie man sieht, waren wir anglophil.

    Lennart ging aufs altsprachliche Christianeum in Othmarschen, was sein verstorbener Onkel noch in die Wege geleitet hatte, der Lehrer für Latein und Griechisch gewesen war.

    Niklas war auf dem Jenisch-Gymnasium gelandet, das in der Nähe der Pflegefamilie lag, bei der er zuerst untergebracht worden war. Außerdem kam die Schule mit ihrem individuellen Förderungskonzept, wie Niklas uns an einem verregneten Nachmittag auseinandergesetzt hatte, seinen Fähigkeiten sehr entgegen. Aus meiner Sicht lag seine besondere Begabung einzig in der Tatsache begründet, dass er keine Aufgabe vernünftig zu Ende führte, weil er in Gedanken längst bei der nächsten Unternehmung, sprich: dem nächsten Streich, angelangt war.

    Den Namen unseres Hauses sollte man übrigens dringend ändern, fand ich: Jugendheim Tut-mir-gut klang einfach uncool und nach einem Förderkonzept des Senats. Um unserem Domizil ein wenig das Flair eines Hauses, in dem wenigstens in der Phantasie wunderbare Schul- und Internatsgeschichten passieren konnten, zu verleihen, hatte ich es in Villa Tunichtgut umgetauft, was sofort von den anderen begeistert übernommen worden war.

    Im zweiten Stock stellte ich die Apfelsaftkiste in der Vorratskammer neben der Küche ab und sah nachdenklich aus dem kleinen Fenster. Wie war ich überhaupt hierhin geraten?

    Eine einfache Frage, aber eine schwierige Antwort. Wie ging man damit um, dass beide Eltern nicht mehr da waren? Meine Mutter war vor zwei Jahren gestorben, einfach so, ohne dass ich etwas mitbekommen hatte. Mein Vater hatte etwas von einer »unheilbaren Krankheit« gemurmelt und dann das Thema gewechselt. Er war – wie ich – am Boden zerstört. Eleanor Darling war seine große Liebe gewesen; sie stammte aus London, wo mein Vater als Angestellter der deutschen Botschaft gearbeitet hatte. Sie ging dann mit ihm zurück nach Deutschland, und irgendwann kam ich dazu. Ich wuchs also zweisprachig auf und hatte die Liebe zur englischen Literatur von meiner Mutter geerbt.

    Mein Vater, Philipp Lüders, stammte aus Bremen; seine Vorfahren waren allesamt Kaufleute gewesen, was ihm auch mehr zu liegen schien als der diplomatische Dienst, so dass er – zurück in Deutschland – bei einem der vielen Unternehmen in der Hamburger Speicherstadt eine Anstellung gesucht und gefunden hatte.

    Und vor etwas weniger als einem Vierteljahr war er plötzlich verschwunden.

    Da wir keine weitere Verwandtschaft besaßen, auch nicht in Großbritannien, geriet ich, wie ich es nannte, »in die Fänge der Fürsorge«, was mir aus unseren Büchern ja nur zu bekannt war.

    Unsere Möbel wurden eingelagert, ich musste unser Haus in Othmarschen verlassen und kam ins »Waisenhaus«. Den Begriff musste ich mich aber hüten zu verwenden; denn dann gab es direkt Ärger mit dem zuständigen Amt. Immerhin hatte ich meinen Teddy und meine Bücher mitnehmen können.

    »Wo kommst du denn her?«

    Ich schrak zusammen.

    Der Hausmeister war wie üblich auf viel zu leisen Sohlen unterwegs und ging seinen undurchsichtigen Geschäften nach. In der Hand hielt er einen Schraubenzieher und musterte mich. Seine Nase sah schief aus; bestimmt hatte er mal Prügel bezogen, mit einer so schiefen Nase kam man nicht auf die Welt.

    »Warst du im Keller?«

    Ich nickte, aber warum interessierte ihn das?

    »Dann hättest du mir auch ein Bier mitbringen können«, sagte er.

    Puh, und ich hatte schon gedacht, er wüsste etwas von meiner Entdeckung.

    »Sorry«, sagte ich rasch, »ich hatte die schwere Apfelsaftkiste und—«

    »Schon gut«, wischte er meine Entgegnung beiseite. »Aber dann beim nächsten Mal.« Sprach’s und entfernte sich grußlos. Na ja, er konnte mich als Bewohner des Hauses ja nicht jedes Mal, wenn er mich sah, beim Namen nennen und freundlich grüßen.

    Im großen Garten unserer Villa saßen die beiden Mädchen in der Sonne, beide in ihre Handys vertieft. Wahrscheinlich guckten sie wieder Schönheitstipps auf TikTok. Plötzlich lachte Leonie und hielt ihr Telefon Alexandra vor die Nase, woraufhin auch sie zu lachen begann.

    Ich besaß zwar ebenfalls ein Mobiltelefon, das ich aber hauptsächlich als Nachschlagewerk benutzte. Bei Wikipedia fand sich ja heutzutage alles, was man fürs Leben benötigte. Stimmt, ich wollte mich ja noch über den Bau der Hamburger U-Bahnen informieren; vielleicht entdeckte ich dort etwas über die merkwürdige Station unter unserem Haus.

    Interessanterweise fehlte die Grundstücksmauer links zum Nachbarn, so dass fast ein kleiner Park mit alten Bäumen, Rhododendronbüschen und kleineren Rasenstücken die beiden Häuser verband. Weiter hinten im Garten von Nummer 25 nebenan stand ein alter Schuppen, zwei Wände mit Ziegelsteinen, die beiden anderen aus Holz errichtet. Aus der linken hinteren Ecke wuchs ein langer Schornstein in den Himmel, der bestimmt mehr als zehn Meter hoch war. Ob dort jemand früher eine Art kleine Fabrik gehabt hatte? Und wofür?

    Ich beschloss, beim nächsten Besuch nebenan Herrn Schelling danach zu fragen. Der war nämlich Erfinder und schien davon gut leben zu können. Einmal war ich bisher drüben gewesen. Im Erdgeschoss, das ähnlich geräumig wie das unsere war, hatte er anstelle unseres nach hinten gelegenen Wohnzimmers einen großen Raum für allerlei Gerätschaften eingerichtet: Maschinen mit Tausenden von Zahnrädern, auseinandergenommenen Computern und einem alten Röhrenradio, auf dem – etwas verzerrt – den gesamten Tag über Rock Antenne Hamburg lief. Herr Schelling war anscheinend in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts steckengeblieben. Außerdem gab es Schraubenzieher in allen Größen mit bunten Griffen, Kabel, Drähte, Steckdosen – aber was er gerade erfand, erschloss sich mir nicht. Na ja, Hamburger waren schweigsam; möglicherweise würde er aber nach und nach auftauen und mir etwas mehr berichten als beim ersten Mal.

    »Zeig mal, was du da hast.«

    Ich erschrak und drehte mich langsam um.

    Lennart stand in der Tür und sah mich von oben herab an. Er war etwas älter als ich und für sein Alter schon ziemlich groß. Und er hatte Pickel. Einige. Sichtbare. Glücklicherweise war ich davon bisher verschont geblieben. Dafür verfügte ich über eine Stimme, die sich noch unsicher war, welche Tonhöhe sie endgültig einnehmen wollte, und daher häufiger zwecks Ausprobierens kiekste.

    »Apfelsaft«, sagte ich.

    Lennart kam näher. »Nee, das da.« Er deutete auf die Zeitung, die ich im Gleisbett gefunden hatte.

    »Ach das. Das ist nur eine alte Zeitung.«

    »Du musst wohl immer was lesen, oder?«

    Ich nickte zögernd. Worauf wollte mein Zimmernachbar hinaus?

    »Hast du keine Lust, dich mit an meine Playstation zu setzen und FIFA 19 zu spielen?«

    Lennart besaß zwei Controller und war mächtig stolz darauf. Außerdem stand ihm aus irgendwelchen dunklen Quellen immer die neueste Software zur Verfügung.

    Ich dagegen hatte null Interesse an Computerspielen und las lieber. Andererseits … Vielleicht war das ja eine erste freundliche Kontaktaufnahme, der man nachkommen sollte.

    »Gerne«, sagte ich daher. »Ich muss nur rasch die Zeitung wegbringen. Ganz durchgelesen habe ich sie nämlich noch nicht.«

    Es war also an der Zeit, mein Außenseiterdasein, hier wie auch in der Schule, etwas einzudämmen. Mein aktuelle Lektüre, ein holländischer Krimi mit dem auch in Deutschland verwendeten englischen Titel Outsider in Amsterdam war da eher hinderlich; ich beschloss, ihn nur noch in meinem aktuellen Zuhause zu lesen.

    Mein Zimmer befand sich im zweiten Stock nach vorne heraus, so dass ich rasch die Treppe mit ihren knarrenden Stufen nach oben lief und The Illustrated London News in der Schublade meines großen Nachttisches verstaute.

    Im Zimmer nebenan lag Niklas auf dem Bett und lauschte mit geschlossenen Augen den Geräuschen der Kopfhörer. Wie sonst auch, war nur der Bass zu hören. Niklas war zwar erst zwölf, aber schon Rap-Experte, vorzugsweise von Texten, die entweder unterhalb der Gürtellinie lagen oder so frauenfeindlich daherkamen, dass sie eigentlich auf den Index gehörten. Ich sage nur: Kollegah … Dabei habe ich dergleichen »Musik« noch nie gehört; ich bevorzuge Melodischeres. Alexandra hatte mir die lyrics eines von Niklas’ »Gedichten« mal empört auseinandergesetzt, wütend, dass die Musikindustrie damit Geld scheffelte. Ich musste ihr Recht geben, was sie mit einem erstaunten Hochziehen der Augenbrauen und einem leichten Nicken zur Kenntnis nahm. Anscheinend hatte sie bisher ihre drei männlichen Mitbewohner über einen Kamm geschoren. Ich fand, dass Alexandra viel zu hübsch war, um sich mit hässlichen Sachen abzugeben. Wahrscheinlich war ich ein bisschen in sie verschossen; mit gerade fünfzehn darf man das ja schon.

    »Wo bleibst du denn?« Lennart wurde anscheinend ungeduldig.

    »On my way«, rief ich zurück und rannte wieder hinunter.

    Lennart saß vor der Playstation, die an einen für das Zimmer viel zu großen 42-Zoll-Monitor angeschlossen war. Die Zuschauer auf dem Bildschirm lärmten; es schien ihnen wohl zu lange bis zum Anpfiff zu dauern.

    Wider Erwarten fand ich Gefallen an dem Geschehen auf dem virtuellen grünen Rasen. Dabei hätte es genau so gut Schach oder Die Siedler sein können: Die Spannung rührte vom Verlauf des Spiels und nicht unbedingt von seinem Inhalt her.

    Nachdem ich drei zu eins gewonnen hatte, was ich unter Anfängerglück verbuchte, fragte Lennart: »Und was ist jetzt mit deiner Zeitung?«

    »Wieso?«, tat ich unschuldig. »Was soll damit sein?«

    »Die ist doch älter als eine normale Ausgabe von heute, oder?«

    »Wie kommst du darauf?«

    »Na ja, Zeichnungen in schwarzweiß und irgendeine Schrifttype, die weder nach dem Hamburger Abendblatt noch nach der Bild-Zeitung aussieht.«

    Lennart beschäftigte sich in seiner Freizeit mit Grafik und beherrschte, glaube ich, Photoshop ganz gut; so viel hatte ich in den ersten drei Wochen schon mitbekommen.

    »Also gut«, sagte ich. »In Kürze. Versprochen. Solange musst du dich noch gedulden.«

    Mein Entschluss, alles für mich zu behalten, hatte nicht einmal eine Stunde angehalten.

    Reparaturen allgemeiner und spezieller Art

    Wider Erwarten hatte es gestern Abend noch eine »Team-Runde« nach dem Abendessen gegeben, bei der es ein weiteres Mal um Disziplin, Geschirrabräumen und dergleichen ging. Wir machten unbeteiligte Gesichter, lauschten andächtig den Ausführungen von Frau Schultheiß, der Leiterin unseres Hauses, und vergaßen hinterher sofort alles wieder.

    Eine Tea-Runde nur zu fünft wäre mir lieber gewesen. Gut, musste ich mich eben gedulden, denn natürlich platzte ich vor Neugier, was Lennart zu meinem Fund sagen würde.

    Und die anderen.

    Ich wollte die Gelegenheit nämlich nutzen, um meine Position in der Gruppe zu verbessern. Immerhin war ich als bislang Letzter in die Villa gekommen. Nur ein Zimmer war jetzt noch frei, aber das zuständige Amt würde bestimmt warten, bis sich jemand fand, der altersgemäß zu uns passte. Und des Proporzes wegen würde es bestimmt ein Mädchen sein.

    Da wir Sommerferien hatten, lungerte ich den Vormittag über am Altonaer Balkon herum, von dem aus man einen tollen Blick auf die Elbe mit den gegenüberliegenden Kaianlagen hat. Die langen Kräne ragten in den Himmel, und am Burchardkai wurde ein großes Containerschiff mit dem Schriftzug MÆRSK an der Seite entladen. Aus Dänemark, wie immer. Dort residierte nämlich die größte Reederei der Welt für Containerschiffe.

    Unnützes Wissen. Wie gesagt: Steht alles im Internet.

    Nachmittags fasste ich mir ein Herz und klingelte nebenan bei Herrn Schelling, der mich ohne viel Aufhebens in seine Werkstatt führte.

    »Einen Kakao?«

    Das waren exakt hundert Prozent mehr an Worten als beim letzten Mal. Da hatte er nämlich nur »Tach« gesagt.

    Ich nickte. Ich war etwas aufgeregt, weil ich dem Erfinder von meiner Zeitung berichten wollte. Er würde sich bestimmt dafür interessieren, auch wenn es sich um etwas Ge- und nicht um etwas Erfundenes handelte. Er musste einfach neugierig sein, denn wie sonst sollte er sich ständig etwas Neues ausdenken, das etwas Vorhandenes verbesserte?

    Herr Schelling verschwand über den kleinen Flur

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