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beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge
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eBook1.282 Seiten15 Stunden

beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge

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Über dieses E-Book

Michael Herbst stellt in diesem Buch Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge dar. Sie geschieht »beziehungsweise«, nämlich als Heilung von Beziehungen, die aus dem Lot geraten sind. Das betrifft die Beziehungen zum anderen Menschen und zur Welt, zu sich selbst und zu Gott. Solche Seelsorge, die in spezifi schen Praxisfeldern geschieht, lebt aus der Erwartung des dem Menschen entgegenkommenden Gottes. Sie ist Auftrag der gesamten christlichen Gemeinde und hat eine elementare missionarische Dimension. In der Seelsorge ist es die Aufgabe der christlichen Gemeinde, mit Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen über existentielle Fragen im Horizont des christlichen Glaubens zu sprechen. Sie geschieht »beziehungsweise«: Begleitung und Beistand christlicher Seelsorger helfen zur Heilung von Beziehungen, die »aus dem Lot« geraten sind. Das betrifft das gesamte Ökosystem menschlicher Beziehungen: zum anderen Menschen und zur Welt, zu sich selbst und zu Gott. Solche Seelsorge geschieht in spezifi schen Kontexten, z. B. der Individualisierung und Pluralisierung, aber auch der gleichzeitigen Phänomene der Säkularisierung und religiösen Ausdifferenzierung. Der Verfasser beschäftigt sich in der Zeit nach »dem großen Streit« zwischen kerygmatischer und therapeutischer Seelsorge mit dem Ertrag der jüngeren poimenischen Debatte. Er sucht selbst einen methodenpluralen Ansatz der Seelsorge, der unterschiedliche, auch psychotherapeutische, Perspektiven beachtet und zugleich dezidiert theologisch formatiert ist, indem stets auch von der Erwartung des in der Seelsorge dem Menschen entgegenkommenden Gottes ausgegangen wird. Seelsorge wird schließlich in die »missio Dei« eingezeichnet und als Auftrag der gesamten Gemeinde verstanden. Dieser Ansatz wird für unterschiedliche Praxisfelder seelsorglicher Begleitung ausführlich durchbuchstabiert: z. B. für die Seelsorge mit Ehepaaren, im Kinderkrankenhaus, mit jungen Senioren sowie mit an Demenz erkrankten Menschen, mit Gehörlosen, mit Menschen in depressiven Episoden und mit Menschen, die Vergebung und Versöhnung suchen. Zielgruppe Studierende, PfarrerInnen und in der Seelsorge Aktive.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Juli 2012
ISBN9783788726218
beziehungsweise: Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge
Autor

Michael Herbst

Michael Herbst, Jahrgang 1955, Professor für Praktische Theologie, war Pfarrer in Münster und Bethel (Kinderklinik) und Lehrstuhlinhaber für Praktische Theologie in Greifswald (1996-2021). Er ist Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald, und lebt mit seiner Frau in Viereth-Trunstadt bei Bamberg.

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    Buchvorschau

    beziehungsweise - Michael Herbst

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    Michael Herbst

    beziehungsweise

    Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2012

    Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

    Alle Rechte vorbehalten

    Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Düsseldorf

    Druckvorlage: eScriptum GmbH & Co KG, Berlin

    Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen

    Printed in Germany

    ISBN 978–3–7887–2588–4 Print

    ISBN 978–3–7887–2620–1 eBook-PDF

    ISBN 978–3–7887–2621–8 eBook-ePUB

    www.neukirchener-verlage.de

    Einleitung

    Menschen sind besorgt. Das ist der Anlass zur Seel-Sorge. Die Gemeinde und ihre Seel-Sorger [1] kümmern sich um den be-sorgten Menschen. Sie nehmen seine Sorgen zum Anlass, in besonderer Weise für ihn zu sorgen.

    Seelsorge ist darum eine der zentralen Lebensäußerungen der Gemeinde Jesu. Gemeinde übt Seelsorge. Gemeinde ist Seelsorge. Seelsorge braucht Gemeinde. Petra Bosse-Huber nennt Seelsorge darum die »Muttersprache« der Kirche. [2] Das deute ich so: Wenn Kirche seelsorglich spricht, ist sie in ihrem Eigenen, ist sie ihrem Herkommen treu und ganz mit sich identisch. Sie spricht ihre Muttersprache. [3] Darum hat sich auch der EKD-Reformprozess, wenn auch etwas verspätet, mit der Seelsorge befasst. [4] In Anspielung auf das Impulspapier »Kirche der Freiheit« [5] formulierte die EKD-Konferenz der Seelsorge-Verantwortlichen im April 2009: »Seelsorge ist ein Leuchtfeuer der evangelischen Kirche inmitten der Gesellschaft.« [6]

    Menschen machen sich also Sorgen. Sie sorgen sich, was aus ihnen werden soll. Sie sorgen sich, wenn sie keine Arbeit mehr bekommen, und sie sorgen sich, wenn sie viel zu viel Arbeit aufgebürdet bekommen. Sie sorgen sich wegen ihrer Finanzen. Sie sorgen sich um ihre Gesundheit, um die des Leibes und die der Seele. Sie sind besorgt, weil sie nicht wissen, wie sie dieses oder jenes bewältigen sollen, das ihnen abverlangt wird. Sie sorgen sich um ihre Nächsten, Kinder, Partner und andere, die von besonderer Bedeutung für sie sind. Sie sorgen sich um ihre Bedeutung: Was bedeutet ihr Leben, wem bedeutet es etwas? Was bedeutet es noch, wenn alles schief zu gehen scheint und Brüche im Leben sichtbar werden? Sie sorgen sich, wenn sie Entscheidungen fällen müssen, dass sie ja nicht einen Fehler machen und ihr eines wertvolles Leben verfehlen. Sie sorgen sich um den Frieden und die ungerechten Verhältnisse. Sie sorgen sich, weil sie schmerzhaft mit der Endlichkeit alles Daseins, auch des eigenen, konfrontiert werden.

    1. Eine biblische Meditation: Wie für den besorgten Menschen gesorgt wird [7]

    Die gerade skizzierten Zusammenhänge sind den Betern der Psalmen nicht fremd. Es ist eine gefahrvolle Welt, in der sie leben. Es ist ein bedrohtes Dasein, das sie bestehen sollen. In Ps 120 werden einige besonders unerfreuliche Beziehungs-Umstände aufgezählt: Lügner in der engsten Umgebung, Mitmenschen, die den Frieden hassen, friedlose Verhältnisse. Da wird es der »Seele lang« (Ps 120,6).

    Der Nachbarpsalm 121 steigert die schwierigen Verhältnisse noch. In diesem Zusammenhang ist nicht zu entscheiden, ob es sich z. B. um einen Reisesegen beim Aufbruch zur Wallfahrt [8] oder um einen Reisesegen vor Antritt der gefährlichen Rückreise aus Jerusalem [9] handelt. Es ist am ehesten »ein Selbstgespräch des Beters mit seiner eigenen Seele [10] . In einem gefahrvollen Leben tröstet ein Beter seine Seele mit Blick auf die Hilfe Gottes. Er sagt:

    »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen« (Ps 121,1). [11]

    In der Auslegung wird erwogen, ob die Berge ein Sinnbild für die Gefahren sein sollen, denen sich der Mensch gegenübersieht, etwa die etwas unheimliche Bergwelt östlich von Jerusalem, einem Schlupfort für Banditen (Lk 10,30!) und Raubtiere. [12] Dann stünden Berge durchaus nicht für die schönen und erhebenden Anblicke, die sich dem Auge bieten. Berge sind in dieser Hinsicht Hindernisse, die das Fortkommen erschweren. Probleme können einem ja wie Berge vor Augen stehen. Und Berge sind nur mit Mühe zu überwinden. In der prophetischen Ankündigung einer heilvollen Zukunft werden Berge darum eingeebnet werden:

    »In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserm Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben, soll gerade, und was hügelig, soll eben werden« (Jes 40,3f).

    Oder schaut der Mensch auf die Berge, weil von den Bergen Zions Gottes Hilfe erwartet werden darf? [13] In jedem Fall schaut er nach Hilfe für seine bedrohte und gefährdete Seele aus. Wohin blickt er in seiner Sorge , wenn er sich fragt:

    »Woher kommt mir Hilfe?« (Ps 121,1)

    Seelsorge hat mit der Blickrichtung zu tun, die der besorgte Mensch wählt. Er kann sich nicht aussuchen, welche Berge ihm den Weg verstellen, aber er kann sich durchaus entscheiden, wohin er Hilfe suchend schaut. Darum ist Seelsorge auch eine Seh-Schule, die dem Menschen beisteht, wenn er sich fragt, wohin er sich Hilfe suchend in seiner Sorge wenden kann. Seelsorge hilft dem besorgten Menschen nicht zuletzt dadurch, dass sie ihn ermutigt, mit dem Psalm zu sagen:

    »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2).

    Wir werden noch sehen, wie vielfältig diese Hilfe »vom Herrn« aussieht. An dieser Stelle geschieht die entscheidende Weichenstellung in der Seelsorge. Hier und nirgends anders kommt es auch zu den wirklich wichtigen Auseinandersetzungen. Darum beginnt dieser Entwurf einer evangelischen Seelsorge auch mit der Erinnerung an den Psalm. Der sich sorgende, nach Hilfe ausschauende Mensch findet, was er sucht, indem er auf die Hilfe des Herrn hoffen lernt. Er findet die Hilfe nicht in sich selbst, in den eigenen Ressourcen, und seien es auch die besten, gar spirituellen Ressourcen. Er findet die Hilfe nicht in anderen Menschen, und seien sie auch noch so fürsorglich, bedingungslos annehmend oder therapeutisch kompetent. Er findet Hilfe, in dem er lernt:

    »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2).

    Wir werden noch sehen, dass diese Aussage sehr zugespitzt ist, und wie die Hilfe »vom Herrn« wiederum zusammenhängt mit persönlichem Bemühen unter Einsatz der eigenen Ressourcen und mit dem Beistand und der Begleitung durch andere, die hoffentlich fürsorglich, bedingungslos annehmend und therapeutisch kompetent sind. Hier aber ist die Weichenstellung entscheidend: Wir sind als besorgte Menschen und als solche, die besorgten Menschen seelsorglich beistehen, nicht mit uns allein.

    Wir würden uns auch hoffnungslos übernehmen. Wir dürfen auch nicht so tun, als kämen wir allein auch schon irgendwie klar. Der Irrtum wäre verhängnisvoll. Es gilt sich einzugestehen, dass wir in den wirklich wichtigen Dingen nicht die Kontrolle haben. Wir können vieles tun; wir werden noch sehen, welche »Kontrollüberzeugung« gesund ist. Aber am Ende des Tages müssen wir uns doch eingestehen: Bei allem, was wir tun können, haben wir nicht die letzte Kontrolle über unser Leben: unsere Gesundheit, die Entscheidungen unserer Kinder, den Lauf der Welt. Es bleibt aber nicht bei diesem Eingeständnis. Bliebe es dabei, so müssten wir jetzt von Schicksal oder Zufall reden. Der Beter redet von Hilfe und von Gott, der als Schöpfer von Himmel und Erde vorgestellt wird.

    Ich bin davon überzeugt, dass es für die Seelsorge eine entscheidende, nochmals: eine Weichen stellende Frage ist, ob wir zuerst von uns, unseren Ressourcen, Kompetenzen und Beziehungen reden. Alternativ: ob wir zuerst von unseren Grenzen, Abhängigkeiten und Gefühlen des Ausgeliefertseins reden. Oder ob wir weder das eine noch das andere zuerst sagen, sondern bekennen:

    »Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat« (Ps 121,2).

    Es gibt so etwas wie einen »christlichen Atheismus«, der mitten in der Kirche, mitten in der Theologie, mitten im Herzen von Menschen, die Christen sind, haust. Der »christliche Atheismus« hat vielleicht ein durchaus orthodoxes Bekenntnis, aber er hat aufgehört, mit Gott als dem »Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat«, zu rechnen. Im wirklichen Leben spielt die Erwartung seiner Gegenwart, seines Redens oder gar Eingreifens keine Rolle mehr. Von einer Hilfe »vom Herrn« zu reden, hat aber nur Sinn, wenn es einen Herrn, »der Himmel und Erde gemacht hat«, gibt, und wenn dieser Herr zugänglich ist, ja wenn er offenbar bereit ist, sich um den besorgten Menschen und die, die für ihn sorgen, zu kümmern. Anders gesagt: wenn Gott selbst ein seelsorglicher Gott ist. Wir werden sehen, dass diese Erwartung in vielen Konzeptionen der Seelsorge abgestorben ist und in einigen auch ausdrücklich verabschiedet wurde.

    Von dieser Hoffnung auf einen seelsorglichen Gott redet aber gerade der Ps 121; der Beter spricht sich angesichts der Berge Mut zu. Es ist der Schöpfer des Himmels und der Erde, der seine Geschöpfe nicht sich selbst überlässt, sondern – im Sinne einer creatio continuata [14] – der Lebenswelt des Beters zugewandt bleibt. Dass er der Schöpfer ist, ist die Grundlage dafür, dass er nun auch der Helfer ist (vgl. Ps 124,8). Dabei wird er nicht übermütig. Er redet nicht von einem problem- und sorgenfreien Dasein, das die Hilfe des Herrn nun herbeizaubern wird. Er hofft nicht, in Kürze keine Berge mehr vor sich zu sehen. Was er aber erhofft, ist ein Behütetsein, das Geborgenheit und Schutz darstellt, auch wenn die Berge geradezu unüberwindlich hoch erscheinen:

    »Der Herr behütet dich« (Ps 121,5).

    Das entscheidende Verb im 121. Psalm lautet rmv (schamar). [15] 6x wird es wiederholt, je 3x in Nominal- und in Verbalkonstruktionen. Das, was von Gott als Hilfe erwartet wird, ist, dass er den Menschen behütet. Im Englischen wird das so übersetzt: »The Lord watches over you« (NIV). Der Herr wacht über dir, wenn er dich behütet. Gottes Seelsorge besteht zuerst darin, dass er über dem Menschen wacht. Und das Vertrauen auf diese Seelsorge Gottes ist für den Beter des Psalms die entscheidende Hilfe gegen das eigene Besorgtsein. Nicht, dass sich die Umstände seines Lebens dadurch sofort und uneingeschränkt zum Besseren wenden müssten. Das kann sein, wird aber oft nicht der Fall sein. Aber er weiß sich unter höherem Schutz. Was geschieht, geschieht nicht ohne Gott. Und Gott ist es, der ihn behütet.

    Auch angesichts der Berge. Und eines Tages über die Berge hinweg. [16]

    Eine entscheidende Bedingung dafür, dass Gott über den Beter wacht, ist, dass er wach ist. Mit feiner Polemik heißt es darum von JHWH, dem Gott Israels, dass er nicht einnickt und sich auch nicht schlafen legt (Ps 121,4). [17] Denn das unterscheidet JHWH nicht nur von menschlichen Hütern, deren Schlafbedürfnis die Grenze ihrer Seelsorge markiert, sondern auch von den Göttern der altorientalischen Welt. [18]

    Sie schlafen, und das heißt: Sie wenden sich damit auch von der Welt ab und sind tendenziell an ihr uninteressiert. [19] So ist JHWH nicht. Er bleibt seinem Geschöpf voller Interesse zugewandt.

    Sie schlafen, und das heißt: Es ist ihr Privileg, einen guten Schlaf zu haben, und man stört diesen Schlaf als Sterblicher lieber nicht. So ist JHWH nicht. Er kann ja weder Israel noch den einzelnen Beter aus den Augen lassen und verzichtet darum auf das Privileg des guten Schlafs.

    Sie schlafen – auch weil sie ruhen müssen, sie haben ein Schlafbedürfnis, sodass ihnen ein Nachtdienst auch nicht zugemutet werden kann. So ist JHWH nicht, er ist ausdauernd, gerade als Hüter und Wächter Israels und des einzelnen Beters.

    Es gehört übrigens zu den seelsorglich wichtigen Zügen dieses Psalms, dass Gott nicht nur Hüter Israels ist, sondern Hüter der Seele auch eines einzelnen Beters: Er behüte deine Seele (Psalm 121,7: vp,n,, näphäsch). [20]

    Das alles wird geltend gemacht für das gesamte Leben: für alle Aufbrüche, alles Losgehen, Beginnen, Hinausgehen. Für alles, was zu Ende geht, alles Heimkommen, Beschließen und Abgeben. Für die Tage wie für die Nächte. In der Gefährdung des Leibes (durch zu viel Hitze) wie der Seele (symbolisiert durch den Mond, der stechen kann). In Zeiten eigenen kräftigen Tuns (als Schatten über der tatkräftigen rechten Hand), in Zeiten, in denen alles Tun ruht und die Kontrolle abgegeben wird (wenn alles schläft und schlummert). Erich Zenger zeigt, wie unterschiedliche Gefährdungen dabei angesprochen werden: solche, die vom Boden her drohen, weil man aus dem Tritt geraten und stolpern kann (V 3f), und solche, die von oben her drohen, von der brennenden Sonne und dem als gefährlich-magischer Kraft gefürchteten Mond (vgl. Mt 4,24; 17,15). [21]

    »Diese ›Behütung‹ Israels durch JHWH schließt alle fürsorgliche und rettende Zuwendung JHWHs ein: Schutz vor Feinden, Führung auf dem Weg, Versorgung mit Nahrung und Wasser, Vermittlung von Kraft bei drohender Schwäche oder Mutlosigkeit.« [22]

    Offenbar macht Gottes Seelsorge den Menschen nicht passiv, ängstlich oder schwach. Er scheint mit seiner rechten Hand zu wirken, er geht aus und ein, er lebt sein Leben tags und nachts. Das ganze gefährliche Leben soll gelebt werden, Tag für Tag, vom Anfang bis zum Ende (Ps 121,8). Gottes Seelsorge stützt den Menschen offenbar, indem sie über ihm wacht:

    »Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen« (Ps 121,3).

    Auch damit wird nicht gemeint sein, dass unser zerbrechliches Leben keiner Gefahr mehr ausgesetzt sein wird. Die Botschaft der Seelsorge Gottes lautet nicht in einem vordergründigen (!) Sinn: »Alles wird gut!«

    Es ist ein ganz bestimmtes Ausgleiten des Fußes, an das hier gedacht sein wird:

    »Ich aber wäre fast gestrauchelt mit meinen Füßen; mein Tritt wäre beinahe geglitten. Denn ich ereiferte mich über die Ruhmredigen, als ich sah, dass es den Gottlosen so gut ging« (Ps 73,2f).

    Wir könnten sagen: Da gerät einer innerlich aus dem Gleichgewicht und verliert die Balance. Er stolpert über seine eigene Verbitterung angesichts der Härten des eigenen Lebens. Neid, Bitterkeit, Ärger und Hoffnungslosigkeit übernehmen das Ruder. Mehr noch: Da gerät einer von seiner Spur, wird dem untreu, was eigentlich die Mitte seines Daseins markiert. Da wird einer irre an Gottes Hilfe und am Leben. Was Gott zusagt, wenn er sich als Hüter und Seelsorger vorstellt, ist aber genau das Gegenteil: Der, der nach Hilfe ausschaut und sie beim Schöpfer des Himmels und der Erde findet, wird nicht so ins Rutschen kommen, dass er Gott verloren ginge. Nichts kann ihn von der Liebe Gottes trennen, nichts seine Geborgenheit bei Gott in Zeit und Ewigkeit zerstören (Röm 8,31–39). Was dies nun wieder bedeutet angesichts schwieriger innerer und äußerer Verhältnisse im Hier und Jetzt, werden wir jetzt genauer in Augenschein nehmen.

    Hier ging es aber um den Ansatz, der in diesem Buch gewählt wird: mit Menschen, die um ihr Leben Sorge tragen, den Blick auf den seelsorglichen Gott einzuüben, der seine Nähe und Hilfe zusagt. Oder negativ formuliert: Es geht mir darum, die Aufgabe der christlichen Gemeinde, für besorgte Menschen Sorge zu tragen, nicht so in Angriff zu nehmen, etsi deus non daretur, als ob es den seelsorglichen Gott nicht gäbe oder wir jedenfalls mit ihm nicht rechnen sollten, weil wir letzten Endes mit unseres Ressourcen und Defiziten allein sind. Gehen wir vom »Hüter Israels« oder von einer Gottheit aus, die immer wieder einnickt und fest schläft?

    Dass die Anfechtung des Menschen darin besteht, genau das zu fürchten und die eigenen Widerfahrnisse so zu deuten, dass Gott abwesend war, vielleicht im Tiefschlaf, als wir ihn am meisten brauchten, wird zu beachten sein. Der Psalmbeter redet ja nicht deshalb so eindringlich mit sich selbst, weil er um diese Anfechtung nicht wüsste. Er übt vielmehr Seelsorge an der eigenen Seele, um sich dieser Anfechtung nicht auszuliefern. Ein »hoffnungsvolles Kontrastbild« [23] malt er seiner besorgten Seele vor Augen. Gott wacht und behütet, er schläft nicht. Das ist der Ansatzpunkt der nun vorzustellenden Überlegungen über die Seelsorge. Es geht um die Beziehung zu Gott angesichts der »Berge« des eigenen Lebens; es geht um die Hilfe, die uns gerade hier zuteilwird.

    2. Was Leserinnen und Leser noch wissen sollten

    Erlangen und Bethel

    Seelsorge gehört wie Gemeindeaufbau zu den Themen, die mein Dasein als Theologe über lange Zeit bestimmt haben. Das ist als Hintergrund dieses Buches für die, die es lesen, vielleicht nicht ganz unbedeutend.

    Prägend war im Blick auf die Seelsorge meine Lehrzeit bei Manfred Seitz in Erlangen (1979–1984). In Erlangen bekam ich erstmals eine klare Vorstellung davon, wie in der Gemeinde Seelsorge geübt werden kann. Dass wir es mit dem Menschen als Seele, also als einem rat- und hilfsbedürftigen Wesen zu tun haben, und dass der Mensch nur als Geschöpf in vielfachen Beziehungen zu verstehen ist, brachte uns Manfred Seitz nachdrücklich bei. Dabei konnte er ebenso selbstverständlich die Einsichten aus Psychologie, Soziologie und Psychotherapie berücksichtigen, wie vom Glaubenswort in der Seelsorge sprechen. Für die damals nicht selbstverständliche Meinung, dass christliche Seelsorge sich nicht ohne Beschädigung von ihren »alten Mitteln« (Gebet, Beichte, Segen, Zuspruch eines Bibelwortes usw.) verabschieden kann, wurde er nicht selten heftig aus der eigenen Zunft kritisiert. Heute ist sein integratives Verständnis Allgemeingut, ohne dass der Praktische Theologe aus Erlangen in der neueren Literatur besonders gewürdigt würde. Dabei lehrte und lebte er Seelsorge – für seine Studierenden, die gesamte Fakultät, manchen Besucher, Ratsuchenden und Zufallsbesucher, für die er einen Blick, etwas konzentrierte Aufmerksamkeit, ein freundliches Wort und manchmal auch nur einen Schnaps hatte. Seine Art, Theologie, insbesondere die Lehre von der Seelsorge, zu treiben, war stets sehr irdisch: bezogen auf das alltägliche Leben, verknüpft mit der Erfahrung, zu der viele seelsorgliche Begegnungen beigetragen hatten. Und zugleich: getragen von einer tief gegründeten heiter-nüchternen Glaubenshaltung. Ihm zuerst ist dieses Buch mit Dank gewidmet. Seine Seelsorge-Vorlesung, die immer große Scharen von Studierenden anzog, erschien angesichts der hohen Dauerbelastung des Vielgefragten nie als Buch. [24] Dieses Buch lebt aber von dem, was sein Verfasser in Erlangen lernte.

    Nahezu ebenso prägend war nach den intensiven Jahren im Pfarramt einer Münsteraner Kirchengemeinde der Wechsel in den Dienst als Seelsorger in der Kinderklinik der von-Bodelschwinghschen Anstalten Bethel (1992–1996). Es war meine zweite Lehrzeit in Sachen Seelsorge. Alles, was ich glaubte und predigte, musste sich hier angesichts häufig schwerkranker Kinder bewähren, z. B. im Gespräch mit Eltern, deren viel zu früh geborenes Kind zu schwach zum Leben war, und das nun auf der Frühgeborenenintensivstation getauft werden sollte. Dass Pflegende und Ärzte in der Kinderklinik nach anfänglicher Skepsis den unerfahrenen Klinikseelsorger so intensiv integrierten, war eine entscheidende Erfahrung. Was hat Seelsorge in einem solchen, nicht kirchengemeindlich geschützten Raum zu bieten? Was kann der, der mit nichts in Händen kommt, beitragen? Was tut er, was nicht andere viel besser können? Neben der »Erdung« der eigenen Theologie durch die Begegnung mit schwerem Leid, Schmerz, Sterben und Trauer war es die »Erdung« der Seelsorge: Der Seelsorger ist der Begleiter, der Zeit hat, der mitgeht, schweigt, hört, nicht wegläuft – und wenn es den »Kairos« gibt, von dem redet, der dennoch wacht und hütet. Wenn es gut geht, gilt er als einer, der dazugehört und doch etwas ganz Eigenes beiträgt. Er ist dann einer, der die Sprache der Klinik versteht und die Sprache des Glaubens für die Menschen in der Klinik dolmetscht. Kinder im Krankenhaus spielen darum in diesem Buch eine große Rolle. Dass manchmal der Pfarrer nicht der Seelsorger ist, sondern nur Zuschauer einer Seelsorge, die sich zwischen Gott und einem Kind geradezu unmittelbar ereignet, ist ebenfalls eine Erfahrung aus diesen Jahren. Den vielen, die sich in der Kinderklinik in Bethel um Leib und Seele kleiner Patienten (und ihrer Familien) mühen, ist dieses Buch ebenfalls dankbar gewidmet.

    Was dieses Buch (nicht) leisten soll

    Es geht nicht um ein weiteres umfassendes Lehrbuch der Seelsorge. In den vergangenen Jahren sind vorzügliche Grundlagenwerke der Seelsorge erschienen, die den Bedarf an dieser Stelle decken. Zu denken ist etwa an die beiden Lehrbücher von Michael Klessmann [25] und Christoph Morgenthaler [26] , aber auch an das von Wilfried Engemann betreute »Handbuch der Seelsorge« [27] . So werden durchaus nicht alle wichtigen Fragen erörtert. Und manches wird nicht wiederholt, was es anderen Ortes ausführlich zu lesen gibt (z. B. zur Geschichte und zu den Konzeptionen der Seelsorge).

    Dieses Buch hat drei Anliegen:

    1) Die in der biblischen Meditation angedeutete theologische Haltung soll für die Seelsorge durchbuchstabiert werden: Was bedeutet es, auf die Anwesenheit und Hilfe Gottes in seelsorglichen Situationen zu hoffen? Damit ist auch eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Ansätzen verbunden, die diese Dimension entweder ausdrücklich oder aber mindestens de facto verabschieden, indem sie ausschließlich »horizontal« reden, auch wenn sie »religiös« reden. Stattdessen geht es um eine Haltung, in der »mit der wirkmächtigen Kraft des in seinem Namen anwesenden Herrn Jesus gerechnet« [28] wird. Diese Erwartung braucht ein geklärtes Verständnis davon, ob und inwiefern sich Gottes Handeln mit unserem menschlichen Tun verbündet, und ob und inwiefern es sich von diesem unterscheidet und somit ein Eigenes darstellt. Freilich ist, wer so von Gottes Anwesenheit und Hilfe zu reden wagt, sofort selbst in Gefahr: z. B. in der Gefahr, die Erfahrung der Abwesenheit Gottes gerade in seelsorglichen Situationen zu übersehen oder doch in ihrer Wirkung als Anfechtung zu unterschätzen. Es darf also nicht vollmundig von Gottes Dasein geredet werden, als sei dieses Dasein einfach so »gegeben« wie das Dasein eines irdischen Gegenübers.

    2) Ein echter »Tabubruch« ist wohl der Ansatz dieses Buches bei der Mission und Beziehungsstärke des dreieinigen Gottes. Ansätze zur Seelsorge, die in der Trinitätstheologie verwurzelt sind, gibt es natürlich schon, und von ihnen habe ich erheblich profitiert. [29] Seelsorge aber auch bei der Mission als einem Wesenszug des dreieinigen Gottes zu verorten , ist mindestens ungewöhnlich und bedarf sorgfältiger Begründung. Findet sich nämlich in der einschlägigen Seelsorge-Literatur überhaupt einmal das Stichwort »Mission«, dann in einem abgrenzenden Sinn: Seelsorge hat mit Mission natürlich nichts im Sinn. [30] In der Tat muss präzise gezeigt werden, in welchem Sinn Seelsorge zur missio dei gehört, und warum dies gerade nicht bedeutet, die absichtslose seelsorgliche Begegnung zu verzwecken und das Gegenüber im seelsorglichen Gespräch zu einem »Missionsobjekt« zu machen. Dass das oben genannte erste Anliegen mit diesem zweiten eng verbunden ist, wird dabei deutlich werden.

    3) Schließlich verstehe ich den Ansatz dieses Entwurfs einer evangelischen Seelsorge als hermeneutische Herausforderung: Seelsorge soll mit einem erheblichen Vertrauensvorschuss in biblisch-theologische Grundaussagen über den Menschen, seine Beziehungen, seine Gaben und Stärken, seine Nöte und Sorgen sowie die verheißene Hilfe Gottes konzipiert werden. Damit ist nicht das naive Unterfangen einer »biblischen Seelsorge« gemeint. Seelsorge, wie wir sie verstehen, ist bestenfalls in Ansätzen in der Bibel vorzufinden, auch wenn wir im Hin und Her zwischen der Bibel und unserer Seelsorge viel Inspirierendes und Orientierendes im Alten und Neuen Testament zu entdecken haben. Und genau darauf setze ich: Mindestens auf das Bestreben, im Horchen auf biblische Texte Wesentliches für die Seelsorge zu entdecken, und auf die Bereitschaft, mich von solchen biblischen Worten nicht nur inspirieren, sondern auch orientieren und im Zweifelsfall korrigieren zu lassen. Es geht darum, »theologische Argumentationsmuster, die sich aus der Bibel und aus der christlichen Lehrbildung ergeben haben«, vor anderem zu würdigen und für die Seelsorge fruchtbar zu machen. [31] Damit unterscheidet sich dieser Ansatz von anderen, die im Zweifelsfall die biblischen Aussagen selbst kritisch bewerten, wenn sie z. B. aus Sicht der Psychoanalyse problematisch erscheinen. [32] Die »anspruchsvollen Denk- und Verhaltensmuster des christlichen Glaubens« [33] zur Geltung zu bringen, und zwar für ganz bestimmte Lagen menschlichen Daseins, die nach Seelsorge rufen lassen, ist mein besonderes Interesse. Damit ist gerade nicht gemeint, auf Erkenntnisse anderer Wissenschaften zu verzichten. Ganz im Gegenteil soll der multiperspektivische Zugang zum seelsorglichen Feld, wie es heute Standard ist, auch hier gesucht werden. [34] Ohne Kooperation mit den Human- und Sozialwissenschaften lässt sich Seelsorge nicht konzipieren. Das aber muss nicht bedeuten, das Eigene, die Perspektive des christlichen Glaubens, nicht mehr kritisch und konstruktiv ins Feld zu führen, gegebenenfalls auch gegenüber den wissenschaftlichen Partnern. Dass dieses dritte Anliegen wiederum unlösbar mit dem zweiten und ersten verbunden ist, liegt auf der Hand.

    Mit diesen drei theologischen Anliegen verbindet sich ein praktisches: Seelsorge in diesem hier skizzierten Sinn soll exemplarisch an einigen Grundsituationen der seelsorglichen Praxis vorgestellt werden. Dabei strebe ich nicht Vollständigkeit an, sondern suche Situationen auf, die geeignet scheinen, den eigenen Ansatz zu verdeutlichen. Außerdem sollten sie nicht schon in vielen anderen Büchern und Aufsätzen erschöpfend behandelt worden sein. Die Beschränkung auf einige Grundsituationen erlaubt dafür eine ausführlichere Darstellung. Das besondere Verhältnis von Theorie und Praxis, die sich wechselseitig befruchten, weiter entwickeln und auch korrigieren, kann damit gleichfalls zur Geltung kommen. Der Erfahrungshintergrund der Kinderklinik spielt eine besondere Rolle in der Auswahl der Themen und Beispiele.

    Wichtig ist es schließlich zu klären, für wen ich geschrieben habe. Ich suche hier ein »mittleres« Niveau, sodass Studierende der Theologie (aber vielleicht auch anderer Fächer wie der Medizin oder der Psychologie) eine gute Einführung in seelsorgliche Fragestellungen bekommen, ohne dass stets allzu viel vorausgesetzt wird. Der starke Bezug zu seelsorglichen Grundsituationen könnte sich wiederum als reizvoll für Praktiker der Seelsorge im Gemeinde- oder Funktionspfarramt erweisen. Da ich davon überzeugt bin, dass eine seelsorgliche Kirche nicht ohne die Ermächtigung und Zurüstung von »Alltagschristen« zur Seelsorge entstehen kann, wende ich mich nicht nur an Theologinnen und Theologen, sondern auch an andere Christen, die ehrenamtlich seelsorgliche Arbeit leisten und sich dazu weitergebildet haben und weiterbilden wollen. Ebenso möchte ich aber auch in einen Diskurs mit den Fachvertretern der Praktischen Theologie über Grundfragen der Seelsorge eintreten.

    Auf einige theologisch grundlegende Kapitel folgen also Beispiele der seelsorglichen Praxis, die Seelsorge als Sorge um den Glauben, als Dienst der Versöhnung, als Geleit an bestimmten Stationen des Lebenslaufes, als Hilfe in Beziehungen, als Beistand in Krisen und als Unterstützung an besonderen Orten beschreiben.

    Dabei habe ich für diese Kapitel einen bestimmten Aufriss für die Darstellung gewählt: Das Thema wird zunächst im gegenwärtigen Erleben aufgesucht, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Danach geht es jeweils um eine möglichst präzise Beschreibung der Lebenssituation, mit der es die Seelsorge hier zu tun bekommt. Es folgt eine Deutung aus Sicht einer biblisch inspirierten Perspektive, verbunden mit der Frage, was Seelsorge hier leisten kann, aber auch, wo ihre Grenzen liegen. Konkrete Aspekte einer seelsorglichen Haltung und Handlungsweise schließen sich an. Was es bedeutet, gerade in dieser Lage auf Gott zu hoffen, bildet jeweils den Abschluss, bevor nach einer Zusammenfassung wenige, konzentrierte Literaturhinweise zu einem vertieften Studium des Themas anregen.

    Hinweise zur Sprache

    Einige sprachliche Besonderheiten sind anzusprechen: Von Christian Möller habe ich gelernt, nicht von seelsorgerlichem, sondern von seelsorglichem Tun zu reden, um mehr den Prozess zu betonen, an dem viele beteiligt sein können, als die Person, wohlmöglich beschränkt auf die Pfarrperson, die Seelsorge übt. [35] Diese Wortwahl scheint sich, wenn man die Literatur heute betrachtet, durchzusetzen. [36]

    Schwerer – und in der Literatur intensiv und etwas ratlos diskutiert – ist es mit der Frage, wie ein Mensch zu nennen ist, der Seelsorge in Anspruch nimmt. Vom Beichtkind redet niemand mehr, und das ist auch gut so. Ein Ratsuchender ist nicht jeder, der Seelsorge sucht. Ein Klient oder gar Patient ist der andere auch nicht; die Gefahr der Verwechslung mit anderen Kontexten der Hilfe ist zu groß. So schließe ich mich hier Michael Klessmann an und verzichte auf einen durchgängigen Begriff: Mit wechselnden Worten wird also benannt werden, wem wir in der Seelsorge begegnen. [37]

    Schließlich ist der Titel zu erläutern. Mit dem Wort »Beziehungsweise« lässt sich spielen. Es geht von der Einsicht aus, die im Weiteren noch zu entfalten ist, dass der Mensch nicht nur Beziehungen hat, sondern in Beziehungen existiert. Er ist ein Beziehungswesen. Die Beziehungsweisen, die er dabei pflegt, mögen gesunder oder gestörter, heilsamer oder zerstörerischer Art sein. Seelsorge dient dem Menschen in jeder Beziehung; sie ist im Grunde Beziehungssorge. Seelsorger und ihre Partner im seelsorglichen Kontakt sind somit Menschen, die Weisheit in Beziehungsdingen erwerben, also Beziehungsweise werden und sein möchten.

    Dank

    In Greifswald wurden viele Vorarbeiten zum Thema vom nimmermüden Lehrstuhlteam geleistet, von Dr. Ulf Harder und Christiane Moldenhauer als wissenschaftlichen Mitarbeitern, von Heike Breitenstein, Christian Brodowski, Felix Eiffler, Melisande Lorke, Ann-Kathrin Maurer, Fabian Mederacke und Christine Schaak als studentischen Hilfskräften. Sie haben recherchiert und Texte zusammengefasst, eine Datenbank bestückt und das Manuskript betreut. Wiebke Herbst und Markus Heide haben entscheidende Hinweise zur Gehörlosenseelsorge gegeben. Die Arbeit am Lehrstuhl fiele aber wohl auseinander ohne die freundlich ordnende Hand von Manuela Kindermann. Ihnen allen bin ich dankbar verbunden.

    Seit Langem hatte ich den Wunsch, eine ausführlichere Darstellung der Seelsorge vorzulegen. Dies wurde möglich durch einen Forschungsaufenthalt in Schweden im Frühjahr und Sommer 2011, den mir die Ernst-Moritz-Arndt-Universität trotz der Pflichten als Prorektor gewährte. Dafür danke ich meiner Alma Mater und ihrem Rektor, Prof. Dr. Rainer Westermann sowie meiner Theologischen Fakultät, die die Zusatzbelastung durch mein Fehlen zu tragen hatten.

    Christine Möhle leitete viele Jahre die Interdisziplinäre Intensivstation am Kinderzentrum Gilead der von-Bodelschwinghschen Anstalten Bethel. Aus der gemeinsamen Arbeit erwuchs eine tiefe Freundschaft mit meiner ganzen Familie. Seit einigen Jahren malt sie Bilder zum seelischen Erleben von Menschen; von ihr stammt das Bild zum Thema »Depression« in Abb.11 Vielen herzlichen Dank!

    Druckkostenzuschüsse sind bei einem doch recht umfangreichen Buch notwendig, um das Werk zu einem bezahlbaren Preis anbieten zu können: Mein Dank gilt der Pommerschen Evangelischen Kirche und der Stiftung »Geistliches Leben« für ihre großzügige Unterstützung durch entsprechende Zuschüsse.

    Mein Dank gilt auch dem Neukirchener Verlag und seinem theologischen Lektor Ekkehard Starke für die verlegerische Betreuung des Buches.

    Und mein Dank gilt meiner Frau Christiane, von deren seelsorglicher Kompetenz und Erfahrung wie von ihrer eigenen Mischung aus freundlicher Ermunterung und mutiger Herausforderung ich seit Langem lerne. Sie hat auch dieses Manuskript gelesen und wertvolle Hinweise gegeben.

    Sjöhagen (Schweden), im Sommer 2011 Michael Herbst

    Weitenhagen, im Frühjahr 2012

    I. Teil: Grundlagen der Seelsorge

    1. Ein Grundmuster der Seelsorge: Begleitung

    1.1 Auf dem Weg nach Emmaus – und zurück

    Auf der Suche nach einer ersten Beschreibung dessen, was in einem seelsorglichen Kontakt geschieht, stoße ich auf das Evangelium vom Ostermontag (Lk 24,13–35): der Geschichte von den beiden Jüngern, die so traurig von Jerusalem nach Emmaus unterwegs sind.

    Der eine Emmaus-Jünger ist Kleopas (Lk 24,18), der eventuell mit Klopas in Joh 19,25 identisch ist, dem Mann der Schwester Marias. Hegesipp zufolge aber ist er ein Bruder des Joseph; in jedem Fall wäre er so ein Onkel von Jesus. [38] Der andere wird gelegentlich mit Petrus oder Lukas selbst identifiziert. Hegesipp aber sieht in seinen Nachrichten zur Familie Jesu in ihm Symeon (Simon), den Sohn des Kleopas, der nach dem Tod des Jakobus im Jahr 62 Leiter der Jerusalemer Gemeinde wurde. Auch die Frau des Klopas, ebenfalls eine Maria, wurde schon als Begleiterin des Kleopas vermutet. [39] Es wäre so gesehen jedenfalls die Ostergeschichte der Familie Jesu , der wir hier begegnen. Die beiden wollen nach Emmaus, zu deutsch »warme Quellen«, wahrscheinlich etwa 11 Kilometer von Jerusalem entfernt. Auch über die genaue Identität und Lokalisierung dieses Ortes gibt es erhebliches Rätselraten. Mehr als dass es ein Ort war, der in etwa zwei Stunden Fußmarsch von Jerusalem aus zu erreichen war, wird man wohl nicht herausfinden. [40]

    Dieser Osterspaziergang zweier Männer aus dem Umfeld von Jesus ist ein trauriger Weg. Bei ihnen ist noch nicht Ostern geworden. Sie sind besorgt, ihre Seelen brauchen Zuwendung. [41] Und sie bekommen diese Zuwendung, als Jesus ihren Weg betritt. Was wir zu sehen bekommen, nennen wir heute Seelsorge. Der Osterspaziergang mit dem Auferstandenen ist geradezu ein Grundmuster guter Seelsorge: [42]

    Seelsorge ist hier zuerst Weggeleit . Sie gilt den verunsicherten Jüngern in ihrer Trauer. Sie ist befristet, aber mit einem Opfer an Zeit und Kraft und seelischer Präsenz verbunden. Dabei geht Jesus zuerst unerkannt und schweigend mit und hört ihnen lange zu.

    Begleitung als Metapher für Seelsorge: Diese oft verwendete Metapher [43] macht deutlich, dass es um Wege geht, die mitzugehen sind, und zwar an der Seite des anderen. Ein Stück des Weges gesellt sich einer zum anderen und teilt den Weg und die Geschichten, die zu erzählen sind, mit ihrer Last und ihrer Hoffnung. Die Metapher zeigt etwas von der Nähe, aber auch von der Partnerschaftlichkeit der Seelsorge. Wer für eines anderen Seele sorgt, geht an seiner Seite mit und steht ihm nicht gegenüber oder beurteilt gar sein Dasein »von höherer Warte«. Wer mitgeht, hält auch mit aus, was gerade so schwer ist. Wer mitgeht, richtet sich nach dem Tempo des anderen; fast unwillkürlich wird er seinen Schritt an den seines Gefährten angleichen, mal schneller, mal langsamer, mit Pausen, mal schleppend, mal beschwingt, mal zögerlich, mal entschlossen, bis zur Wegbiegung, wo sich die Wege trennen.

    Jesus ergreift das Wort nur, um die beiden dazu zu bewegen sich zu äußern. Zuerst muss sich äußern, was in ihnen steckt. Darum offenbart er sich ihnen auch nicht. Sie müssen sich erst aussprechen. Jesus erleichtert ihnen durch sein Fragen das Anfangen und hilft ihnen über die Hürde der ersten Sätze hinweg. Auch das ist wichtig: Im seelsorglichen Begleiten hat der Seelsorger häufig die Aufgabe, über den schwierigen Anfang hinwegzuhelfen.

    Und dann hört Jesus zu, greift nicht ein; er ist für sie ganz Ohr. Im gemeinsamen Gehen erzählt es sich leichter. Er lässt sie ausreden, auch als sie etwas sagen, was längst durch die Osterereignisse überholt ist, was ihr Zuhörer viel besser weiß, ja, was sie selbst vielleicht sogar besser wissen könnten. Im Erzählen der dürren Ereignisse schwingen dann auch die Gefühle mit, die alles so schwer machen: Enttäuschte Hoffnung (»Wir aber hofften «), ein tiefer Schrecken, ja Angst (»Auch hat uns erschreckt …). Seelsorge ist geduldiges, waches, aktives Zuhören. So ist das bis heute. Alles darf laut werden in der Seelsorge. Nichts ist zu schmutzig, zu peinlich, zu schlimm.

    Jesus stellt das Gehörte in das Licht der Bibel. Aber erst jetzt. Das ist nun offenbar der »Kairos«, der richtige Augenblick. Jetzt ist die Stunde da, eine neue Perspektive einzubringen. Damit bricht er das Gespräch nicht ab oder wechselt einfach das Thema, aber er stellt alles in einen neuen Bezugsrahmen. Dem Hören auf die Menschen entspricht nun das Hören auf Gott. Jesus sieht den Menschen, die Welt und Gott so, wie die Schrift sie sieht. Darum kann er auch diese Grundsituation des in die Krise geratenen Glaubens ins Licht der Bibel stellen. Auch die Jünger kannten ihre Bibel, aber sie lasen sie ohne österlichen Glauben. Jetzt öffnet ihnen Jesus die Schrift und es »brennt in ihren Herzen«. Da sind Bibelworte nicht mehr Richtigkeiten, nicht mehr allgemeine Lebensweisheiten, nicht mehr harte Gesetze, sondern Geist und Leben. Als Jesus spricht, wählt er sehr verschiedene seelsorgliche Sprechakte: Er weckt in ihnen wieder die Hoffnung, er konfrontiert sie aber auch und er informiert sie über das, was sie wissen müssen.

    Gerade diese Geschichte eines seelsorglichen Begleitens zeigt, dass auch ein kritisches, konfrontierendes Reden zuweilen in der Seelsorge nötig ist, um festgefahrene Denkmuster aufzubrechen. Die wenig freundliche Ausdrucksweise (»O, ihr Toren, zu trägen Herzens …«) scheint zunächst wenig »seelsorglich« zu sein. Gerade aber dieses konfrontative Element in der Begleitung entkräftet, was Michael Klessmann mit guten Gründen in der Seelsorge fürchtet, was aber in der Metapher der Begleitung gerade nicht notwendigerweise befürchtet werden muss: »So wichtig und unverzichtbar diese Dimension in der Seelsorge ist, wenn sie zur ausschließlichen Leitvorstellung wird, droht Seelsorge zu einem ›lieben‹ und potentiell [sic!] harmlosen Angebot zu werden.« [44] Darum will Klessmann der Begleitung die etwas rauere Begegnung an die Seite stellen. In der Sache ist das nötig, zumal damit auch ein Moment größeren Abstandes in die Seelsorge integriert wird; das alles kann aber nach Lk 24 auch die Metapher »Begleitung« leisten. Immerhin können, die wegen des »trägen Herzens« (24,25) getadelt werden, am Ende von ihren »brennenden Herzen« (24,32) erzählen. [45]

    Jesus bleibt und geht. Er gewährt den Jüngern Mahlgemeinschaft. Und das ist im Orient Lebensgemeinschaft. Dabei wird er, der Geladene, zum Gastgeber, der das Brot bricht. An dieser Stelle erkennen sie ihn. Das Abendmahl, das Schmecken und Riechen und Schlucken wird zum Mittel der Seelsorge. So wird Seelsorge geradezu »handgreiflich«: einem Menschen segnend die Hände auflegen, einen Kranken mit Öl salben, einem Trauernden in seiner Not Brot und Wein reichen.

    Sie erkennen ihn – und in diesem Augenblick verlässt er sie . Das hat etwas zu tun mit der Eigenart der Ostererscheinungen. Die sichtbare Gemeinschaft der Jünger mit Jesus nach Ostern ist eben nur noch punktuell, denn Jesus ist als derselbe nicht mehr derselbe. Aber es hat auch etwas mit der Seelsorge zu tun: Sie ist befristet. Zur Seelsorge gehört das Beenden, Verabschieden und Entlassen. Seelsorge kettet nicht an sich. Sie stellt in die Freiheit. Sie lässt sich übrigens auch selbst nicht anketten. Der Seelsorger steht nicht immer und nicht auf Dauer zur Verfügung.

    Die Jünger wissen am Ende selbst, dass ihr Weg in diese Richtung ein Irrweg war. Noch in derselben Nacht laufen sie zurück und kommen in Jerusalem an, nun als Zeugen des österlichen Herrn. [46] Bei ihnen ist es Ostern geworden. Begleitende Seelsorge kann das mindestens ab und an erleben: Aus enttäuschter Hoffnung und tiefem Schrecken, aus Trauer, aus Überforderung und Ermüdung, aus gefahrvollen Übergängen, aus Verlusten und großen Herausforderungen, aus Minderungen des Leibes und der Seele erwächst neu österliche Zuversicht und mit ihr die Kraft, den eigenen, so und nicht anders bestimmten Weg gehen zu können.

    Die Metapher der Begleitung durch Jesus erlaubt aber noch eine weitere Einsicht: Unerkannt geht er neben den beiden traurigen Männern her, bis sie ihn erkennen, der ihnen die Schrift ausgelegt und mit ihnen das Brot geteilt hat. Diese Geschichte ist nicht nur ein reines Exempel, sie ist auch eine Verheißung. Jesus geht zuweilen unerkannt mit Menschen: verborgen unter der Seelsorge eines Menschen, der einen anderen begleitet. Auch da, wo sich Jesus so »unter die Leute« mischt, wird er durch das mit der akuten Lebenslage verknüpfte Wort und Zeichen, die auf ihn verweisen, wie Brot und Wein, erkannt. Und dann ist es seine Sorge, die letztlich der Seele aufhilft.

    1.2 Seelsorgliche Wegbegleitung als Hilfe zur Lebensgewissheit

    Damit kann eine erste genauere Bestimmung der Seelsorge erfolgen.

    In der Literatur finden sich zahlreiche Definitionen christlicher Seelsorge. Klaus Winkler etwa definiert das Ziel seelsorglicher Begleitung als Hilfe zur Lebensbewältigung:

    »Allgemein ist Seelsorge zu verstehen als Freisetzung eines christlichen Verhaltens zur Lebensbewältigung. Im besonderen ist Seelsorge zu verstehen als die Bearbeitung von Konflikten unter einer spezifischen Voraussetzung.« [47]

    Seelsorge umfasst damit das ganze Leben und nicht nur einen religiösen Sektor. Das ganze Leben »von der Geburt und dem Kindsein über das Erwachsenwerden bis hin zum Tode« soll der Einzelne ja »realistisch zu gestalten versuchen.« [48] Dazu aber soll ein christliches Verhalten wesentlich beitragen, das in der Seelsorge freigesetzt (nicht: erzeugt!) wird – wie die österliche, frohe Umkehr der beiden Männer aus Emmaus. Das ist die spezifische Voraussetzung der Seelsorge: Begleitung geschieht unter der Perspektive des christlichen Glaubens.

    Eine ähnliche Spur verfolgt Dietrich Rössler, wenn er Seelsorge als Teilaspekt der Diakonie versteht. [49] Menschen werden in ihrer Bedürftigkeit begleitet, und dies mit einer bestimmten Absicht.

    »Seelsorge ist Hilfe zur Lebensgewissheit, sie soll die Lebensgewissheit stärken, fördern, erneuern oder begründen.« [50]

    Lebensgewissheit ist notwendig, um das eigene Dasein bewältigen zu können. Aber sie ist auch verletzlich, kann beschädigt oder gar verloren werden. Ein Mangel an Lebensgewissheit lässt darum nach Seelsorge rufen. Dabei fördert das ärztliche und therapeutische Handeln die Lebensfähigkeit des Menschen, die Seelsorge aber seine Lebensgewissheit. Lebensfähigkeit kann es letztlich nicht ohne Lebensgewissheit geben. Andererseits kann die Lebensgewissheit auch dann tragend und stark sein, wenn die Lebensfähigkeit eingeschränkt ist. Lebensgewissheit braucht der Mensch hinsichtlich dreier Lebensthemen:

    1) »Lebensgewissheit ist die Gewissheit über den Grund meiner Existenz.« [51] D. h.: Ich bin nicht rein zufällig da. Ich könnte nicht ebenso gut auch nicht da sein. Vielmehr besitze ich mein Dasein aus einer bestimmten Absicht heraus. Darum kann ich mich auch als gewollt ansehen und annehmen.

    2) »Lebensgewissheit ist ferner Gewissheit im Blick auf die Orientierung im Leben.« [52] Wir brauchen für unser Leben orientierende Grundsätze und Kriterien. Damit diese ihre Funktion erfüllen können, müssen sie gewiss sein. Dann garantieren sie so etwas wie die Selbstständigkeit im Leben. Freilich entwickelt sich diese Orientierung in der Lebenswelt erst im Laufe der Lebensgeschichte. Obendrein kann sie durch konkrete Widerfahrnisse erschüttert werden.

    3) »Lebensgewissheit ist Gewissheit in Bezug auf die Gemeinschaft des Lebens.« [53] Es geht hier um die Verbundenheit mit anderen Menschen, um die Fähigkeit, Vertrauen zu investieren. Das setzt aber, so Rössler, voraus, ohne Auflagen und Vorbehalte akzeptiert zu sein, ja in dieser Gemeinschaft eine bedeutungsvolle und eigene Rolle spielen zu können. Krisen, Konflikte oder Veränderungen der eigenen Persönlichkeit stellen diese Gewissheit infrage und lassen nach der Seelsorge rufen. Sie wird als Beistand und vorbehaltlos gewährte Gemeinschaft begehrt.

    Michael Klessmann bewegt sich ganz in der Nähe der Formulierung von Dietrich Rössler:

    »Seelsorge bezeichnet ein niedrigschwelliges Angebot der Kirche zur zwischenmenschlichen Begleitung, Begegnung und Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens mit dem Ziel, die Lebens- und Glaubensgewissheit von Menschen zu stärken.« [54]

    Mit Bezug auf 1 Kor 13 kann Michael Klessmann die Zielperspektive auch noch erweitern:

    »Es geht in der Seelsorge um Anregung zum Glauben (Lebensgewissheit), zur Liebe (Beziehungsfähigkeit) und zur Hoffnung (Möglichkeitssinn) (vgl. 1 Kor 13).« [55]

    Wesentliche gemeinsame Elemente dieser Definitionen sind jeweils der Bezug auf das ganze Leben (und nicht etwa nur auf Glaubensthemen), der Aspekt der Begleitung, des Beistands oder der Begegnung (durch die Kirche, Mitglieder der Gemeinde bzw. ihre Seelsorger) und der spezifische Deutehorizont des christlichen Glaubens. Bei Winkler wird stärker die Lebensbewältigung angesichts von Lebenskonflikten in den Blick genommen, bei Rössler eher allgemein die Förderung oder Wiederherstellung von Lebensgewissheit, bei Stollberg allgemeiner die menschliche Hilfsbedürftigkeit.

    Von der Emmaus-Geschichte ausgehend und mit Blick auf die zuvor geäußerten Prämissen der Seelsorge können wir vorerst festhalten:

    Seelsorge ist die befristete Wegbegleitung von Menschen durch Glieder der christlichen Gemeinde, bezogen auf alle offenen Lebensfragen, die nach Beistand und Hilfe rufen lassen, im Horizont des Evangeliums und in der Erwartung, dass Christus selbst sich auf dem Weg einstellt und als Seelsorger erweist, mit dem Ziel, die Glaubens- und Lebensgewissheit zu erneuern.

    2. Seelsorge im Kontext des 21. Jahrhunderts

    Begleitende Seelsorge geschieht nie in einem luftleeren Raum, völlig unabhängig von den sozialen, kulturellen und religiösen Verhältnissen. In der wissenschaftlichen Reflexion der Seelsorge wird dieser Aspekt seit Mitte der 1990er Jahre wieder stärker beachtet: [56] Wir haben es mit einzelnen Menschen zu tun, die aber in bestimmten Kontexten existieren und deren Leben im Austausch mit diesen Kontexten Format gewinnt. Seelsorge ist dann auch kein »zeitloses geistliches Angebot«, bei dem wir die »Auswirkungen der sozialen Umstände … vernachlässigen« könnten. [57] Vielmehr haben wir das Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft gerade in der Seelsorge zu beachten. [58]

    Dabei ist es weder sinnvoll, gesellschaftliche Entwicklungen mit einer »Verfallstheorie« ausschließlich zu bejammern, weil sich so vieles ändert und manches früher Vertraute nicht mehr besteht. Noch ist es ratsam, diese Entwicklungen mit einer »Fortschrittstheorie« uneingeschränkt zu begrüßen, als unhintergehbare und jeder Kritik entzogene Größen. [59] Die Ambivalenz sozialer Umstände wahrzunehmen, auszuhalten und in ihr seelsorglich zu agieren, gehört zu den wesentlichen Herausforderungen der Seelsorge. Dazu muss sie »mit wacher Aufmerksamkeit für die Verhältnisse, in denen das Individuum lebt« [60] verbunden sein.

    Welche Faktoren beeinflussen das Ergehen eines Einzelnen in den Kontexten, in denen wir heute Seelsorge üben? Natürlich kann nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit vorgestellt werden; an ihm wird das kontextbezogene Denken deutlich, das für die Seelsorge unverzichtbar ist. Folgendes Beispiel soll helfen, einige der Kontextfaktoren genauer ins Auge zu fassen.

    Pfarrer Thomas P. ist Gemeindepfarrer und macht einen Besuch im örtlichen Krankenhaus in einer mittelgroßen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern. Er hat gehört, dass Werner S. dort liegt, den er als Kindergartenvater im Elternbeirat kennengelernt hat. Werner S. hatte nach einer längeren Phase der Arbeitslosigkeit als Bauingenieur eine kleine Firma gegründet, die sich auf die Sanierung alter Bauernhäuser spezialisiert hat. Jetzt aber hat er beim Fahrradfahren den Unterschenkel kompliziert gebrochen und liegt nach der Operation noch im Krankenhaus. Pfarrer P. besucht ihn, und Werner S. freut sich offensichtlich über diesen Besuch. Nach dem üblichen Austausch über die medizinischen Diagnosen und Prognosen sowie das Krankenhausessen fragt Thomas P. etwas tiefer nach: Es geht nun um die plötzliche Untätigkeit, die Werner S. auferlegt ist, die Unterbrechung im gewohnten Alltag, das Nichtstun, es geht darum, dass ein angefangenes Projekt in der Arbeit nun brach liegt. Es geht auch um die Sorge, ob Werner S. buchstäblich wieder richtig auf die Beine kommt und seiner Arbeit wie früher nachgehen kann und ob sein Wagnis der Existenzgründung diese Phase überlebt. Pfarrer P. hört zu und fragt nach, zeigt Verständnis und Mitgefühl, gibt keine klugen Ratschläge und wagt keine medizinischen Prognosen. Vielleicht hat er am Ende mit Werner S. gebetet, vielleicht auch nicht, weil er sich unsicher war, ob sein Gesprächspartner das gutheißen oder nur ertragen würde, vielleicht ist die Beziehung noch nicht so gewachsen, dass ein solcher intimer Akt möglich wäre. Familie S. hat zwar (wegen des guten Rufs) einen evangelischen Kindergarten gewählt, aber nur Susanne S., die aus Stuttgart stammt, gehört zur Kirche und beteiligt sich am gemeindlichen Leben. Trotzdem: Auch Werner S. kam gerne, wenn er konnte, zu den Familiengottesdiensten, die vom Kindergarten-Team der Gemeinde angeboten wurden. Am Ende bedankt sich Herr S. für den Besuch, sagt vielleicht sogar, dass ihm das Gespräch gut tat. Sie verabschieden sich herzlich voneinander, nicht ohne Hinweis auf das Fußballspiel, das an diesem Abend übertragen wird. Vielleicht kündigt der Pfarrer an, Werner S. in ein paar Tagen noch einmal zu besuchen. Vielleicht weiß er aber auch, dass dies eine gute Begegnung war, die sich nicht einfach wiederholen lässt, ein Moment der Öffnung, eine besondere Stunde, die für sich stehen bleiben sollte. Ob es eine weitere Etappe der Begleitung geben wird, ist offen.

    Als Seelsorger stoßen Sie nicht nur auf kontextabhängige Faktoren; vieles ist »allgemeines«, einfach menschliches Erleben: Kinder werden geboren, (nicht nur) Alte sterben, Menschen verlieben sich, Menschen trennen sich, sie werden krank und (nicht) wieder gesund, Erfolge sind zu feiern und Misserfolge zu bewältigen, Gaben werden entdeckt und Kräfte lassen nach. Das alles trifft Menschen unabhängig davon, wann und wo sie leben. Wie es sie aber trifft und wie das alles erlebt und verarbeitet wird, hängt sofort wieder vom jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Kontext ab. Einige Faktoren, die den Kontext im deutschsprachigen Raum zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmen, sollen nun im Blick auf ihre Relevanz für die Seelsorge betrachtet werden:

    2.1 Begleitung in wirtschaftlich und sozial riskanten Zeiten

    Jürgen Ziemer bringt seine Überlegungen zu dieser Frage auf den Begriff »Leben im Ungewissen« [61] . Diese Ungewissheit betrifft zunächst die wirtschaftliche Lage. [62] Das persönliche ökonomische Risiko, mit dem Menschen leben müssen, steigt. Dabei werden Lasten zunehmend auf den Einzelnen umgewälzt, etwa in Form von Arbeitsverhältnissen, in denen der Einzelne freiberuflich oder scheinselbstständig seine Arbeit zur Verfügung stellt und das Risiko einer schlechten Ertragslage allein schultern muss, oder in Zeitarbeitsfirmen, in denen Arbeitnehmern bei vergleichsweise geringerem Lohn eine nahezu unbegrenzte Flexibilität im Blick darauf abverlangt wird, was sie wann und wo als Arbeitsleistung zu erbringen haben. Für viele ist eine dauerhafte Vollbeschäftigung außerhalb der Reichweite. Wer längere Zeit arbeitslos war wie Herr S., fürchtet sich gerade im Krankheitsfall, wie es weitergehen kann. Die neue Freiheit hat er durchaus genossen und sich Hoffnungen gemacht, wie eine erfolgreiche Firma ihm und seiner Familie eine gute Zukunft sichern könnte. Aber wenn er länger ausfällt, Kunden abspringen oder Projekte scheitern? Der Konkurrenzdruck ist groß, die Sicherheiten (z. B. durch Erspartes) klein. Wieder eine Stelle zu finden, wird mühsam. Dies gilt besonders in strukturschwachen Gegenden, in denen die Möglichkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden, oft sehr begrenzt sind. Herr S. malt sich aus, was es bedeutet, wenn seine kleine Firma diese Krankheitszeit nicht übersteht und er dann evtl. wieder lange suchen oder aber fernab von Familie und vertrautem Umfeld eine neue Arbeitsstelle antreten muss – wahrscheinlich obendrein mit einem Berg von Schulden belastet.

    Seelsorge hat es auch mit dem Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse zu tun: Neben großem Wohlstand gibt es zunehmend prekäre Lebensverhältnisse. Dazu gehören auch Familien, in denen das Einkommen schon lange nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt erworben wird. Manche Familien leben – teils unverschuldet, teils mangels erlernter sozialer Kompetenzen – geradezu in »Hartz-IV-Karrieren«, in denen die Kinder von den Eltern »lernen«, dass es normal ist, wenn das Geld vom Staat kommt und nicht selbst verdient wurde.

    Wenn Thomas P. nach dem Krankenbesuch bei Herrn S. durch das Plattenbaugebiet fährt, das einen Teil seiner Gemeinde ausmacht, denkt er daran, was seine Frau Heike, die als Familienhebamme arbeitet, ihm immer wieder berichtet. [63] Sie begegnet im Wesentlichen Familien, die von Hartz IV leben. Sie kommt in Wohnungen, in denen ein großer Flachbildschirm das Wohnzimmer dominiert mit einer Fülle von Spielkonsolen und DVD-Rekordern. Die junge Familie, die sie gestern besucht hat, begleitet sie fast ein Jahr lang. Maik und Jana M. sind beide 23 Jahre alt und haben rasch nacheinander zwei Kinder bekommen. Nach der Geburt des ersten Kindes haben sie geheiratet – und weil Maiks Oma Wert darauf legte, auch kirchlich. Jana besuchte eine Schule für Kinder mit Lernbehinderung, Maik M. hat die Hauptschule ohne Abschluss verlassen und noch nie für Geld gearbeitet. Er ist nicht stolz darauf und versucht es immer wieder mit Kursen von der Arbeitsagentur, aber bis heute hat er keine Stelle gefunden. Die Familienhebamme hilft beim Ausfüllen von Anträgen, z. B. für das Elterngeld. Die jungen Eltern wären damit völlig überfordert. Bis an die Grenze fordert sie das Dasein für ihre Kinder, gerade wenn sie genervt sind, nicht wie früher abends einfach ausgehen zu können. Aber sie geben sich Mühe. Aggressiv wie der junge Vater nebenan wird Maik nicht. Und die Hilfe der Familienhebamme nehmen sie gerne an. Sie wissen, dass sie die Frau vom Pfarrer ist, und die hat sie auch schon einmal zum Familiengottesdienst eingeladen, aber die Hürde war dann doch zu hoch. Kirche kam in ihrem Leben bisher gar nicht vor – bis auf die Trauung, an die sie freilich gerne denken. Aber wie sie das mit der gesunden Ernährung hinkriegen und mit der Frühförderung für das ältere Kind, das etwas entwicklungsverzögert ist, das wissen sie nicht so recht. Unser Pfarrer fragt sich, ob seine Seelsorge auch bei dieser Familie gefragt wäre, wie sie aussehen müsste und was sie bewirken könnte.

    Worin genau besteht die Aufgabe der Seelsorge, die Menschen in so unterschiedlichen Lebenslagen begleitet?

    Es wird schnell deutlich, dass Seelsorge, die sich damit begnügte, »zwischenmenschliche Hilfe mit seelischen Mitteln (Wort, Gebärden, Kontakt etc., aber keine Medikamente, Nahrungsmittel, Kleider, Geld usw.)« [64] zu sein, nicht ausreichend ist. Man kann entweder (eine eher verbale und rituelle) Seelsorge zusätzlich mit Diakonie und Bildungsarbeit unlöslich verpartnern oder den Begriff der Seelsorge selbst um eine diakonische Dimension erweitern als zwischenmenschliche Hilfe mit seelischen und anderen Mitteln. [65] Egal ob man das eine oder das andere tut: Wer Menschen begleiten möchte, wird an ihrer sozialen Lage nicht vorbeisehen und sein Geleit nicht nur auf verbale und rituelle Hilfe beschränken können. Da in diesem Band die Seelsorge selbst als eine Dimension der missio dei interpretiert werden wird, ist es ausreichend, Seelsorge, Diakonie und Bildungsarbeit eng miteinander zu verknüpfen, ohne die einzelnen Begriffe zu überdehnen und inhaltlich zu überladen. Die Leistungsfähigkeit eines reflektierten Verständnisses von missio dei wird sich gerade an dieser Stelle erweisen. Dies findet sich z. B. schon in der Verknüpfung von seelsorglichem Hausbesuch, schulischem Bildungsangebot, diakonischer Strukturbildung und evangelistischer Verkündigung bei Johann Hinrich Wichern. [66] Wesentlich aber bleibt die Forderung von Henning Luther, dass Diakonie und Seelsorge Formen der Kommunikation des Evangeliums seien, dass also Wort und Tat beieinanderbleiben und sich nicht »apart voneinander« lösen. [67]

    Letztlich gerät so auch eine »prophetische« Dimension der Seelsorge in den Blick: Die Begleitung von Menschen in prekären Lebensverhältnissen sensibilisiert für die strukturellen Bedingungsfaktoren seelsorglicher Problemlagen und ruft nach einem entsprechenden kirchlichen Beitrag im politischen Diskurs. [68]

    2.2 Begleitung für das befreite Individuum im Optionsstress

    Die Lebensbedingungen der Menschen, denen wir in der Seelsorge begegnen, werden ebenso mitbestimmt von einem Modernisierungsschub, den die westlichen Gesellschaften seit den 1960er Jahren erleben. Ein wesentliches Merkmal dieses Modernisierungsschubes ist die veränderte (und erheblich erweiterte) Rolle, die dem Individuum zugewiesen wird. Die Bezeichnungen für diese Vorgänge variieren, je nachdem welcher Theorie man folgt. Uta Pohl-Patalong sieht im Individualisierungstheorem [69] »immer noch die größte Erklärungskraft für die Entwicklungen der Gegenwart.« [70] Dabei geht es vor allem um die »Freisetzung der Menschen aus festgelegten Bindungen und Traditionen« [71] .

    »Seit den 70er Jahren hat sich in den Sozialwissenschaften allmählich die Auffassung durchgesetzt, dass die schnelle Vermehrung von Wohlstand, Bildung, sozialer Sicherheit sowie die Abschwächung gesellschaftlicher Normen, die in den 50er und besonders in den 60er Jahren zu beobachten waren, die individuellen Freiheitsgrade für die meisten Menschen bedeutend vermehrt habe. Die neuen Optionen würden von den Einzelnen auch in zunehmendem Maße ausgelebt. Das Streben nach Eigenständigkeit zeige sich unter anderem in immer unterschiedlicheren Lebensstilen, Lebensführungen und Lebensformen.« [72]

    Weder Werner und Susanne S. noch Maik und Jana M. können und müssen sich in ihren Entscheidungen auf Vorgaben verlassen, die sie ererbt und selbstverständlich fortgeführt hätten. Da sich die Bindungen immer mehr lockern, bleibt Werner nicht im Beruf des Vaters, verlässt Susanne ihre schwäbische Heimat in Richtung Ostsee, wählen Maik und Jana die Option (!) Ehe auch erst, als sich Nachwuchs anmeldet, ist Susanne ebenso selbstverständlich erwerbstätig, wie es ihre Mutter nicht war, bekommt Werner trotz ererbter Distanz zum Glauben Kontakt zur Kirche und bekommt Maik ihn trotz einer gläubigen Großmutter nur noch sehr punktuell. Freilich: Auch wenn sie in einer Stadt wohnen, werden sie sich kaum treffen. Werner und Susanne meiden gerade die Orte, die Maik und Jana aufsuchen und umgekehrt. Sie hören andere Radiosender, gehen in anderen Läden einkaufen und verbringen ihre Freizeit an anderen Orten.

    »Das Individuum wird zunehmend zur entscheidenden Instanz für die großen und kleinen Entscheidungen des Lebens, ob diese den Lebensstil, die Partnerwahl, den Wohnort, den Beruf, die Religiosität betreffen oder schlicht den Einkauf bestimmen.« [73]

    Die Lebensformen werden also pluraler, weil sie zum Gegenstand individueller Wahl werden. Vielfalt nimmt zu, Verbindlichkeit und Klarheit von Vorgaben (wie Geschlecht, Alter, regionale oder soziale Herkunft) nehmen ab. Ulrich Beck spricht davon, dass die »entscheidungsverschlossenen« gegenüber den »entscheidungsoffenen« Lebensmöglichkeiten auf dem Rückzug sind. [74]

    Darum kann sich auch die persönliche Lebenslage mehrfach im Laufe eines Lebens ändern: Werner S. war angestellter Bauingenieur, dann Arbeitsloser und ist nun Unternehmer im Sanierungsgewerbe. Maik lebte bei den Eltern und Jana mit ihrem ersten Freund Steffen zusammen, dann zogen sie in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft zusammen und sind nun verheiratet. Feste Identitäten, die sich an klaren und dauerhaften Merkmalen der Lebensführung festmachen, wandeln sich in Lebensabschnitts-Identitäten. Etwas kritischer zugespitzt spricht Zygmunt Baumann von einer »Landstreichermoral«, die mal hierhin und mal dorthin driftet, aber nie auf einen dauerhaften Aufenthalt aus ist. [75]

    Auf den Begriff gebracht werden diese Phänomene zunehmender Individualisierung durch die Rede vom Wandel der Normalbiografie, die nach vorgestanzten Mustern abläuft, zur Wahlbiografie, die dem Individuum wesentliche Spielräume zur eigenen Entscheidung erlaubt. [76]

    Der Einzelne steht freilich zugleich unter ganz neuen Zwängen. Angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften (Niklas Luhmann) muss er sich tagtäglich in verschiedenen Teilsystemen bewegen, die verschiedene Anforderungen an ihn stellen, ohne dass es noch eine alles verbindende Logik gäbe. »Das Individuum ist unterschiedlichen und teilweise sogar widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzt, die es in seiner eigenen Person zusammenbringen muss, da die gesellschaftlichen Strukturen keine Rücksicht darauf nehmen.« [77]

    Werner S. ist eben nicht nur Familienvater, er ist auch selbstständiger Unternehmer, er ist ehrenamtliches Mitglied des Kindergartenbeirats, er ist Sohn eines pflegebedürftigen Vaters, er ist Mitglied eines Radsportvereins. So lebt er u. U. am selben Tag in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen. Was bleibt ihm anderes übrig als selbst »plural« zu werden? [78] Damit aber sind erhebliche Konflikte verbunden: Schon jetzt ist der Beruf kaum mit der Familie zu vereinbaren. Der Konkurrenzkampf fordert andere Verhaltensmuster als die vermittelnde Tätigkeit im Kindergartenbeirat oder die Besuche beim Vater. Müsste er sich wieder eine Stelle suchen, könnte dies von ihm fordern, mobil und flexibel zu sein. Franz-Xaver Kaufmann spricht von der »strukturellen Rücksichtslosigkeit« [79] der Gesellschaft gegenüber Familien; hier zeigt sie sich.

    Um diesen verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden und auch die Wechsel in der eigenen Biografie zu verkraften, scheint eine feste und dauerhafte Identität nicht angesagt und auch nicht möglich; allenfalls eine »multiple Identität« [80] ist erschwinglich:

    »Adäquater erscheint das Modell der Patchwork-Identität, das Identität plural und flexibel versteht. Patchwork-Identität bedeutet, unterschiedliche Anteile in sich vereinbaren zu können und zwischen ihnen wechseln zu können, ohne sich als gespaltene Persönlichkeit zu erleben.« [81]

    Damit ist schon angedeutet, dass Individualisierung ein ambivalentes Phänomen darstellt, das dem einzelnen Menschen vieles ermöglicht, aber ebenso vieles auch zumutet. Die Individuen als »Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung« (Rüdiger Peuckert) [82] sind nicht nur freigesetzt, sie sind gezwungen, ohne verbindlichen Orientierungsrahmen zu wählen und die Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidung selbst zu tragen und sich selbst auch zuzurechnen. Individualisierung »stellt Selbstverständlichkeiten in Frage und zerstört Eindeutigkeiten« [83] . Der Kohärenzsinn, der für die gesunde Bewältigung der Herausforderungen des Lebens entscheidend ist, wird beeinträchtigt: Er muss immer wieder neu gefunden werden. Er vermittelt ja das Empfinden, dass es so etwas wie Zusammenhang und Sinn im eigenen Leben gibt. [84] Daraus entsteht ein Bedarf an Orientierung , zuweilen aber auch ein erhebliches Maß an Überforderung . [85] Der Einzelne kann nun wählen, wie er sein Leben gestalten möchte, aber er muss auch wählen. Er ist frei von den Traditionen, die frühere Generationen leiteten, aber er hat zugleich den stützenden Rahmen solcher Traditionen verloren. Er kann selbst die Verantwortung für sich übernehmen, aber er trägt auch die Last, dass es gut gehen muss; falls es nicht gut geht, kann er es nur sich selbst zuschreiben. Das Risiko des Scheiterns ist groß, seine Folgen hat der Einzelne vielfach selbst zu tragen. Aus der Wahl- und Bastelbiografie kann dann eben auch die »Bruchbiografie« werden. [86] Und ganz ohne Brüche, Verletzungen und Narben geht es wohl selten zu.

    Hinzu kommt, dass das Individualisierungstheorem von recht optimistischen Vorgaben ausgeht: Grundlage der Individualisierung ist eine wachsende Wirtschaft, also zunehmender Wohlstand für weite Teile der Bevölkerung. Wenn dieses Wachstum ausbleibt oder seine Früchte nur noch Teilen der Bevölkerung zugutekommen, bleibt dem Individuum die Pflicht, das eigene Leben als Projekt guten Lebens zu gestalten, aber die hochgelobte Freiheit erweist sich unter Umständen als illusionär. Wer im Plattenbau aufwächst, wenig Zugang zu Bildung hatte und das Leben mit Hartz IV als Normalfall »erlernt«, hat wahrscheinlich nur sehr eingeschränkte Optionen, wie er das Projekt seines Lebens »selbstbestimmt« gestaltet.

    Mit guten Gründen wird darüber hinaus darauf hingewiesen, dass die Freiheit der Wahl nicht unbegrenzt ist. Pluralisierung bedeutet eine gewisse, aber keine unbegrenzte Vervielfachung der Optionen. Pluralisierung bedeutet auch nicht, dass frühere »Standardlösungen« (wie z. B. die Ehe) ihren Rang verlieren. Sie werden zu einem (durchaus häufigen) Gegenstand der Wahl. Und in manchen Lebensbereichen kehrt sich die Vervielfachung der Optionen geradezu in ihr Gegenteil um und bildet neue Formen der »Standardisierung« [87] heraus: Dass wir heute eine Fülle von Fernsehprogrammen haben, aus der wir wählen können, hat sicher nicht primär dazu geführt, dass es tatsächlich mehr zu wählen gäbe; vielmehr konkurrieren viele Sender mit sehr ähnlichen Angeboten um die Gunst der Zuschauer.

    Die neue Freiheit des Individuums ist also ambivalent. Sie bietet Chancen und Risiken zugleich, wobei Chancen und Risiken in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft nicht gleichmäßig verteilt sind.

    Was kann Seelsorge als Begleitung von Menschen in diesem Zusammenhang leisten?

    Sie braucht zunächst eine nüchterne Wahrnehmung dessen, was ist: Die Lebensumstände wählt sich der Einzelne nicht; er findet sich in diesem und keinem anderen sozialen und kulturellen Setting vor. Seelsorge hat darin ihr Proprium, das, was ist, realistisch wahrzunehmen und als Ausgangslage anzunehmen. [88] Dieses Proprium ist sicher anspruchsvoll: Es ist nicht einfach, fremde Lebenswelten mit Offenheit wahrzunehmen. Zu diesem Realismus gehört es auch, den Zugewinn an Freiheit nicht zu unterschlagen und einseitig auf die Kosten dieser Freiheit abzuheben; ebenso wenig dürfen die Kosten zugunsten der Chancen verschwiegen werden.

    Menschen wie Werner S. wissen um diese Ambivalenz: Nach der Erfahrung mit manchen Restriktionen in der DDR schätzen sie die Freiheit, spüren aber auch besonders das Risiko, das nicht mehr von einer umfassend fürsorglich-autoritären Gesellschaftsstruktur abgefedert wird. Sie sind vom »strengen Vater« befreit, haben aber auch die »fürsorgliche Mutter« verloren. [89]

    Seelsorger werden daraus zunächst die Konsequenz ziehen, den Einzelnen in seiner Freiheit und Pflicht zu stärken, sodass er für seine Lage gute und förderliche Entscheidungen treffen kann. [90] Sinnvolles Wählen schließt die Fähigkeit ein, zu diesem dezidiert »ja« und zu jenem ebenso klar »nein« zu sagen. Anders formuliert: Um in der Fülle der Möglichkeiten nicht zu ertrinken, ist es notwendig, weniges zu wählen und im Blick auf das allzu viele freiwillige Askese zu üben. Diese Askese steht im Dienst eines »ja«, das nur so wirklich ein »ja« sein kann. Ansonsten überfordert die »Last des Möglichen« den Einzelnen hoffnungslos – und kränkt seine Seele. [91] Rolf Schieder spricht mit Recht davon, der Einzelne sei heute »ständig mit inneren und äußeren Möglichkeitsüberschüssen konfrontiert.« [92] Seelsorge habe stattdessen auch »die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung und Selbstverendlichung« [93] zu fördern, die unbedingt zum Selbst-Sein-Können des Einzelnen gehöre. Das wiederum bedeutet, dass Seelsorge nicht nur Hilfe bei Problemen oder Begleitung in Konflikten sein kann, sondern auch Stärkung des Einzelnen für sein »Leben im Ungewissen« (Jürgen Ziemer).

    Hier ist vielleicht die cura animarum generalis [94] zuerst zu nennen: eine gemeindliche

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