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Oliver Bain und die Siegel Merlins: Carter & Bain 2
Oliver Bain und die Siegel Merlins: Carter & Bain 2
Oliver Bain und die Siegel Merlins: Carter & Bain 2
eBook501 Seiten6 Stunden

Oliver Bain und die Siegel Merlins: Carter & Bain 2

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Über dieses E-Book

Oliver dachte immer, er sei ein ganz normaler Junge. Doch wenige Wochen vor seinem sechzehnten Geburtstag geschieht etwas Unglaubliches.
Bei einer Auseinandersetzung mit den Raufbolden vom Brydon-Waisendorf entdeckt er, dass er über magische Fähigkeiten verfügt. Von da an überschlagen sich die Ereignisse. Ein unglaubliches Abenteuer jagt das andere. Er muss gegen gefährliche Bestien und Fabelwesen kämpfen, um zu verhindern, dass Merlins Siegel gebrochen werden. Gelingt ihm das nicht, wird es die Welt, wie er sie kennt, bald nicht mehr geben.

 

Wird es Oliver und seinen Freunden gelingen, die dunkle Macht und ihre dämonischen Kreaturen aufzuhalten?

 

Aus der Carter & Bain-Reihe [überarbeitete Neuauflage 2023]

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum18. Juni 2023
ISBN9783755443902
Oliver Bain und die Siegel Merlins: Carter & Bain 2

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    Buchvorschau

    Oliver Bain und die Siegel Merlins - Kian Talyn

    Die verschollene Prophezeiung

    Der Tag der Tage wird kommen, an dem sich die Pforte zur Anderswelt auftut, um Heerscharen niederträchtiger Kreaturen in eine unwissende Welt zu entlassen.

    Unaussprechliches wird über die Menschen kommen, so schrecklich, dass niemand es sich vorstellen kann. Städte werden brennen, ganze Landstriche dem Erdboden gleichgemacht werden. Armeen und Waffen können diesen Dämonen nichts anhaben.

    Am Morgen des längsten Tages, wenn die sieben Schwestern aufsteigen und das siebente Siegel gebrochen wird, wird die große Drangsal über die Menschheit hereinbrechen.

    Poseidonios (griech. Gelehrter, von 135 v.Chr. - 55 v.Chr.)

    Schatten der Vergangenheit

     Triskele.png

    PROLOG

    Mein Name ist Oliver Bain und ich bin Vollwaise.

    Meine Eltern starben bei einem schrecklichen Autounfall, den ich selbst nur durch ein Wunder knapp überlebt habe.

    Wahrscheinlich habt ihr jetzt Mitleid mit mir. Tut es nicht, denn ich bin schuld an ihrem Tod.

    Alles begann am 21. Dezember 2008.

    Meine Eltern und ich waren an diesem Tag zur Geburtstagsfeier meines besten Freundes Jeremy Foster eingeladen. An die Party selbst erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass meine Mutter irgendwann sagte, wir müssten jetzt gehen. Ich glaube, ich habe gar nicht gemerkt, dass all die anderen Kinder mit ihren Eltern schon weg waren. Das Spielen mit Jeremy hat mich immer alles andere vergessen lassen.

    Wir wollten gerade das Haus verlassen, als mein Freund auf die dumme Idee kam, ich könnte doch bei ihm übernachten. Was mir heute dumm vorkommt, war damals die beste Idee aller Zeiten. Flehend schaute ich meine Eltern mit meinen großen blauen Augen an, wie ich es immer tat, wenn ich etwas unbedingt wollte. Der Trick funktionierte fast jedes Mal, denn sie konnten dem kleinen, süßen Fünfjährigen, der ich damals war, einfach nichts abschlagen. Aber bevor meine Mutter oder mein Vater auch nur die Chance hatten, auf mein Betteln zu reagieren, kam Mrs. Foster, Jeremys Mutter, wie eine wild gewordene Bisamratte aus der Küche gerannt, mit einer tropfnassen Schürze und fuchtelte wild mit ihren Spülhandschuhen herum.

    »Nein! Beim besten Willen nicht. Ihr Sohn kann heute nicht bei uns übernachten. Beim besten Willen nicht. Das geht wirklich nicht. Ich habe noch so viel zu tun und ... nein, an jedem anderen Tag, aber nicht heute«, fuhr sie meine Eltern mit weit aufgerissenen Augen gestresst an.

    Um ehrlich zu sein, kannte ich Frau Foster nicht anders. Sie war immer nervös, unausgeglichen und mit allem gnadenlos überfordert.

    Ich hatte ein wenig gehofft, dass meine Mutter versuchen würde, sie zu überreden, aber stattdessen kniete sie sich vor mich auf den Boden und schaute mir liebevoll in die Augen. Ich hatte das Gefühl, dass es ihr in diesem Moment ein wenig leid tat, mir diesen Wunsch abschlagen zu müssen.

    »Du hast sie gehört, Oli. Ein andermal klappt es bestimmt. Außerdem ist es schon spät, aber vielleicht schaffen wir es noch rechtzeitig nach Hause, damit du vor dem Schlafengehen noch eine Folge Spongebob sehen kannst.«

    Ich wollte mich gerade damit abfinden, als Jeremy plötzlich völlig ausrastete. Er tobte und schrie seine Mutter an, dass er Geburtstag habe und ich bei ihm übernachten solle. Mrs. Foster versuchte es meiner Mutter gleichzutun und kniete sich vor ihren Sohn.

    »Hör zu, Jeremy! Oliver kann heute nicht hier schlafen. Mama hat so viel zu tun, und dein Papa hilft mir nicht. Ich kann nicht auch noch auf euch beide aufpassen, dass ihr keinen Blödsinn macht. Aber du kannst ja Spongebob gucken, wenn du willst.«

    Damals konnte ich es nicht verstehen, aber heute weiß ich, dass es ein beispiellos kläglicher Versuch war, ihren Sohn zu beruhigen. Was Jeremy sie sofort spüren ließ - er holte aus und schlug ihr mit der Hand mitten ins Gesicht. Erschrocken stand ich da und konnte nicht glauben, was sich gerade vor meinen Augen abgespielt hatte.

    »Ich will Spongebob nicht sehen, ich hasse Spongebob. Ich will, dass mein Freund bei mir schläft, du blöde Ziege. Ich hasse dich, ich hasse euch alle«, schrie er sie an und rannte die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sein Zimmer war.

    Mrs. Foster saß auf dem Boden, rieb sich die Wange und weinte. Ich wollte Jeremy hinterherlaufen, weil er mir irgendwie leid tat, aber Mama griff nach meinem Arm und hielt mich auf.

    »Was soll das Geschrei? Hast du deinen Jungen wieder nicht im Griff, du blöde Ziege?«, kam ein wütend stampfender Mr. Foster aus dem Nebenzimmer, der sich während der ganzen Feier nicht hatte blicken lassen, nur mit einem fleckigen Unterhemd und einer ausgebleichten Boxershorts bekleidet.

    Zuerst entdeckte er seine wimmernde Frau auf dem Boden, dann bemerkte er, dass da noch jemand war. Verächtlich sah er meine Eltern und mich an.

    »Seid ihr immer noch da?«, fragte er gereizt und nahm mit zusammengekniffenen Augen einen tiefen Zug aus seiner Zigarette.

    »Ich glaube, es ist Zeit für uns zu gehen. Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Foster und Mr. Foster«, sagte meine Mutter und wandte sich, ohne eine Reaktion abzuwarten, von dem nach Alkohol stinkenden Mann ab. Mein Vater öffnete schnell die Haustür und ich wurde am Ärmel nach draußen gezogen. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter uns ins Schloss und Mama zuckte erschrocken zusammen. Ich war erst fünf Jahre alt, aber ich spürte, dass sie große Angst vor Mr. Foster hatte. Sie schloss die Augen, atmete ein paar Mal tief die eisige Luft durch die Nase ein und strich mir dann liebevoll über mein braunes Haar.

    »Ich bin so froh, dass du nicht so bist wie dein Freund Jeremy«, sagte sie lächelnd. »Du bist ein guter Junge, Oli.«

    »Ich mag Jeremy«, erwiderte ich mürrisch. »Und ich schlafe auch gern bei ihm.«

    »Das geht nicht, Schatz«, antwortete sie mir mit ruhiger Stimme.

    »Warum nicht?«, wollte ich trotzig wissen.

    »Weil es so ist«, antwortete sie, was mich überhaupt nicht zufrieden stellte.

    »Unser Auto ist ganz eingeschneit«, warf mein Vater ein und zeigte auf den großen Schneehaufen in der Einfahrt.

    »Toll!«, entgegnete meine Mutter. »Bis wir hier fertig sind, ist es schon dunkel und dann muss ich wieder fahren.«

    Sobald die Dämmerung einsetzte und die Autofahrer ihre Scheinwerfer einschalteten, konnte mein Vater nicht mehr hinterm Steuer sitzen. Das Licht der entgegenkommenden Fahrzeuge verursachte ihm so starke Kopfschmerzen, dass er keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn sich auf das Fahren konzentrieren konnte.

    Meine Mutter hatte Recht. Als das Auto vom Schnee befreit war, war es schon dunkel. Sie saß auf dem Fahrersitz und trommelte nervös auf dem Lenkrad herum.

    »Alles wird gut! Du schaffst das!«, sagte mein Vater und strich ihr liebevoll über den Oberschenkel.

    »Ja«, seufzte sie. Sie schaute erst zu mir und dann zu meinem Vater. »Alle bereit?«

    »Bereit!«, rief ich.

    »Ich bin auch bereit«, antwortete mein Vater und setzte seine stark verdunkelte Brille auf.

    »Dann kann es ja losgehen«, sagte sie und drehte zögernd den Zündschlüssel um.

    »Der Motor ist nicht explodiert, das ist doch schon mal ein gutes Zeichen«, scherzte mein Vater und bekam dafür einen leichten Schlag in die Seite.

    »Mach dich nicht über mich lustig«, fuhr sie ihn halb scherzend an.

    »Das würde ich nie tun«, antwortete er frech.

    Bevor mein Vater diese Probleme hatte, war er der Einzige, der Auto fuhr. Ich weiß nicht einmal, ob Mama vor seiner Krankheit überhaupt einen Führerschein hatte. Schon als ich fünf Jahre alt war, wusste ich, dass sie es hasste, hinterm Steuer zu sitzen. Und zu allem Überfluss schneite es auch noch wie verrückt.

    Auf dem Weg von den Fosters nach Perth, wo wir in einem schicken Häuschen wohnten, mussten wir durch den Kinnoll Hill Woodland Park fahren. Eigentlich keine große Sache, aber bei diesen Wetterkapriolen wurde die dreizehnminütige Fahrt für meine Mutter wahrscheinlich zum Albtraum.

    Ich habe von all dem nicht viel mitbekommen. Ich saß brav auf dem Rücksitz und schaute aus dem Seitenfenster. Ich weiß noch, wie ich mir vorstellte, dass all die Schneeflocken, die an der Scheibe vorbeizogen, unzählige Sterne waren und ich der Captain unseres Raumschiffs - wie der glatzköpfige Mann in der Fernsehserie, die mein Vater immer so gerne sah. Aber die bloße Vorstellung hielt mich nicht lange bei Laune. Es war nur ein Gedanke und einfach nicht dasselbe, wie es im Spiel mit meinem besten Freund zu erleben. Wieder kam diese Traurigkeit und Enttäuschung in mir hoch, dass ich nicht bei ihm übernachten durfte.

    »Fahr bitte nicht so schnell, mein Schatz. Da vorne kommt gleich eine ziemlich scharfe Rechtskurve«, unterbrach mein Vater die Stille und riss mich aus meinen Gedanken. Meine Mutter reagierte nur mit einem genervten Brummen.

    »Warum durfte ich nicht bei Jeremy übernachten? Magst du meinen Freund nicht?«, fragte ich.

    »Oh doch, mein Schatz. Aber ... verdammt!«

    Ein heftiger Ruck ging durch das Auto.

    »Lass mich das machen, Eva, konzentrier dich lieber aufs Fahren«, sagte mein Vater und drehte sich zu mir um. Ich weiß noch, dass ich sehr erleichtert war, als er seine Brille abnahm, denn seit Jeremy mir heimlich diesen Film mit den grauen Wesen mit den großen schwarzen Augen gezeigt hatte, machte mir der Anblick meines Vaters mit den schwarzen Brillengläsern Angst.

    »Es liegt nicht an Jeremy. Dein Freund kann nichts dafür, dass er ist, wie er ist. Seine Eltern sind schuld. Findest du nicht auch, dass sein Vater total gruselig ist, mit all den Guacamole-Flecken auf seinem Unterhemd und dem ekelhaften Mundgeruch?«

    Ich musste lachen, aber meiner Mutter gefiel es gar nicht, was mein Vater gerade machte.

    »Und Jeremys Mutter? Die ist so ...«

    »Harry, lass gut sein. Wir machen uns nicht über die Probleme anderer Leute lustig«, unterbrach sie ihn verärgert.

    »Warum nicht?«, fragte er und wandte sich wieder meiner Mutter zu. »Du musst doch zugeben, dass sie sehr eigen sind...« Mitten im Satz brach er ab und schrie aus voller Kehle: »Pass auf, Eva!«

    Verängstigt, aber auch neugierig beugte ich mich zur Seite, um durch die Windschutzscheibe zwischen den Vordersitzen hindurch zu schauen. Mitten auf der schneebedeckten Straße stand eine Frau. Ihr langes schwarzes Kleid bewegte sich seltsam, als wäre sie unter Wasser, genau wie ihr langes dunkles Haar. Es ist merkwürdig, aber wenn ich mich daran erinnere, ist es, als würde dieser eine Moment, in dem ich sie sah, in Zeitlupe ablaufen. Wäre ich ein begabter Maler, hätte ich dir ein Bild von ihr gemalt, so gut erinnere ich mich an sie. Ihre Haut war totenbleich und ihre Augen schwarz unterlaufen.

    Meine Mutter schrie wie am Spieß und versuchte zu bremsen, damit wir nicht in sie hineinrasten. Aber der Schnee auf der Straße ließ uns ins Rutschen kommen. Mein Vater gab keinen Laut von sich - dachte ich zumindest, aber wenn ich mich in der Erinnerung auf ihn konzentriere, höre ich ihn etwas murmeln, ganz leise, in einer Sprache, die ich nicht kannte. Plötzlich schossen gewaltige Schwingen aus Feuer und Rauch aus der dunklen Frau hervor. Der ohrenbetäubende, dämonische Schrei, den sie ausstieß, verfolgt mich noch heute in meinen Träumen.

    Papa tat, wozu Mama nicht mehr fähig war. Er riss das Lenkrad scharf nach rechts und es kam, wie es kommen musste. Unser Volvo geriet ins Schlingern und überschlug sich mehrmals, bevor er mit einem donnernden Krachen auf dem Dach liegend an einem Baum zum Stehen kam.

    Ich hing kopfüber in meinem Sicherheitsgurt. Mir drehte sich der Kopf und ich glaubte, mich jeden Moment übergeben zu müssen. Auch als ich wieder zu mir kam, konnte ich nicht begreifen, was da gerade passiert war. Ich wusste nur, dass alles auf dem Kopf stand und dass ich durch den Gurt, der sich um meine Brust schnürte, kaum Luft bekam. Ich hatte unsagbare Angst.

    Atemlos rief ich nach Mama und Papa, aber sie antworteten nicht, und ich verstand nicht, warum. Tränen perlten von meinen Augenbrauen und meiner Stirn und fielen auf den hellen Stoff des Dachhimmels unter mir.

    Je länger ich dort hing, desto schwummeriger wurde es mir im Kopf. Ich begriff, dass ich den Gurt irgendwie lösen musste, was gar nicht so einfach war. Ich weiß nicht mehr wie, aber ich schaffte es und plumpste nach unten. Überall lagen kleine Glassplitter von den zerbrochenen Fensterscheiben herum, aber es gelang mir, aus dem völlig demolierten Volvo herauszuklettern, ohne mich zu verletzen.

    »Mama? Papa?«, rief ich noch einmal.

    Ich hatte die leise Hoffnung, dass, wenn ich es aus dem Auto schaffte, meine Eltern dort freudestrahlend auf mich warten würden - aber dem war nicht so.

    Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, aber es war noch kälter als zu dem Zeitpunkt, als wir bei den Fosters losgefahren waren. So eisig, dass man die Luft, die aus meinem Mund kam, deutlich sehen konnte. Aber es war nicht nur die Kälte, die mich am ganzen Körper zittern ließ, sondern auch die Angst, dass dieses schreckliche Monster in Frauengestalt immer noch da sein könnte. Im Verborgenen lauernd, nur auf eine Gelegenheit wartend, mich zu schnappen. Das schummrige Mondlicht und die Scheinwerfer unseres Volvos konnten dem angrenzenden Wald nichts von seinem Schrecken nehmen.

    Ich versuchte, die Beifahrertür zu erreichen, wo ich immer noch meinen Vater vermutete, aber der Baum hatte sich geradezu in die Seite gefressen. Ich konnte nicht glauben, dass dieser Schrotthaufen tatsächlich unser Auto war.

    Als mir klar wurde, dass ich keine Chance hatte, an meinen Vater heranzukommen, lief ich um das Wrack herum und beugte mich zum Fenster der Fahrerseite.

    »Mama?«, fragte ich mit ängstlicher Stimme. »Mama, bist du da drin?«

    In meiner Erinnerung war es innen stockdunkel. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war oder ob mein Verstand mich nur vor allzu schrecklichen Bildern bewahrte.

    Ich griff hinein und fühlte eine Hand. Ich wusste, dass es Mamas Hand war. Nur ihre Haut war so weich und zart, aber anders als sonst war sie eiskalt. Aber ich dachte keinen Augenblick daran, sie deshalb nicht fest an mein Gesicht zu drücken. Ich war fünf Jahre alt und verstand nicht im Geringsten, was passiert war - aber tief in mir spürte ich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

    »Mama, bitte! Sag doch was!«, schluchzte ich, während mir heiße Tränen über das Gesicht liefen und ich ihre Hand noch fester an mich drückte. »Bitte, Mama! Es tut mir leid, ich will auch nicht mehr bei Jeremy schlafen. Sei nicht mehr böse auf mich, okay? Ich bin jetzt brav, versprochen. Und Spongebob will ich auch nicht mehr sehen. Bitte, Mama, steh auf. Mir ist kalt, ich will nach Hause. Sag doch was. Bitte!«

    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich vor dem zerbrochenen Fenster saß. Ich weiß nur noch, dass ich mich unzählige Male bei meiner Mutter entschuldigt und sie angefleht habe, nicht mehr böse auf mich zu sein.

    Hier endet meine Erinnerung - beherrscht von der Überzeugung, dass ich am Tod meiner Eltern schuld bin.

    Das erste Siegel

    Triskele.png

    Wer vor nichts Angst hat,

    wird durch die Gefahr überrascht.

    - Konfuzius, chin. Philosoph (551-479 v. Chr.)

    Der fliegende Koloss

    Triskele.png

    OLIVER

    Der Kies des schmalen Weges knirschte unter den Sohlen meiner löchrigen Chucks.  Warum musste ausgerechnet ich den Neuen in die Gruppe bringen? Martine, die Heimleiterin, hatte wieder einmal bewiesen, dass sie mich ganz besonders gern hatte. Nicht, dass ich etwas gegen den Neuen gehabt hätte, aber er sah aus wie ein Affe mit Brille und sein Seitenscheitel ließ mich vermuten, dass er an diesem Morgen von einer Kuh wachgeleckt worden sein musste. Er trug sogar eine Fliege zu seinem kackbraunen Cordanzug - noch offensichtlicherer Streber konnte man wirklich nicht sein.

    Und als wäre das alles nicht schon Strafe genug, quatschte er mich seit dem Verlassen des Hauptgebäudes ununterbrochen voll, obwohl ich ihn seine zwei schweren Koffer absichtlich alleine schleppen ließ.

    »Es ist wirklich toll hier. Kannst du mir etwas über die ganzen Gebäude erzählen? Oder vielleicht sogar über die Entstehung von Brydon? Ich hatte leider keine Zeit, im Internet darüber zu recherchieren. Weißt du, ich liebe Geschichte. Aber noch mehr begeistert mich die Mythologie. Die ganzen Fabelwesen sind einfach der Hammer«, plapperte er großspurig.

    »Nein!«, entgegnete ich ihm. Dieser Neuling konnte nicht älter als zehn Jahre sein und erzählte mir etwas von Recherchen. Lächerlich!

    »Nein zu was? Dass du mir nichts über die Gebäude und über Brydons Geschichte erzählen kannst oder dass du dich nicht für Mythologie interessierst?«

    »Beides«, antwortete ich genervt.

    Ich dachte noch, dass ich verdammtes Glück hatte, dass nach dem Abendessen kaum jemand auf dem Gelände war und die Gefahr, mit dem Affen im Schlepptau gesehen zu werden, äußerst gering war, als plötzlich in der Ferne die Tochter der Heimleitung auftauchte. Ich schickte Stoßgebete zu dem alten Mann da oben, dass sie mich bitte nicht sehen sollte, aber der Mann mit dem Rauschebart schien mich auch nicht besonders zu mögen, denn sie kam schnurstracks auf uns zu gerannt.

    »Scheibenkleister!«, sagte ich und ging einen Schritt schneller, als der Kofferschlepper hinter mir auch schon zu meckern begann.

    »Hey Mann! Ich kann nicht so schnell, die Dinger sind echt schwer.«

    »Nicht mein Problem«, antwortete ich.

    Ich hatte meinen Blick nur kurz vom Weg abgewandt, um nach hinten zu dem Idioten zu schauen, als die Tochter der Heimleiterin, Martine, plötzlich direkt vor mir stand. Hätte ich nicht abrupt gebremst, wäre ich mit ihr zusammengestoßen.

    Wie alle Kinder im Heim trug sie die traditionelle dunkelblaue Brydon-Jacke mit dem roten Wappen auf der Brust und der dämlichen feuerhydrantenroten Krawatte um den Hals. Dazu ein schlichtes weißes Hemd. Aber im Gegensatz zu den Jungs, die graue Bundfaltenhosen tragen mussten, trug sie einen knielangen Rock in derselben Farbe. Mit ihren orangeroten, schulterlangen Haaren und ihren 1,59 m Körpergröße wirkte sie wie ein Zwerg, dessen Kopf in Flammen stand.

    Okay, ich muss zugeben, dass sie eigentlich ganz gut aussah, aber sie hatte von ihrer Mutter das seltene Talent geerbt, mir unglaublich auf die Nerven zu gehen.

    »Oh, Oli«, sagte sie und sah mich lächelnd an. »Du glaubst immer noch, dass du mir aus dem Weg gehen kannst, oder? Hättest du dem armen Kerl mit den Koffern geholfen, wäre es vielleicht diesmal gelungen.«

    Sie ging an mir vorbei zu dem Kleinen, der die Pause nutzte, um seine Arme auszuruhen.

    »Hallo. Du bist neu hier, nicht wahr? Ich heiße Zoe«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

    »Ja, das stimmt. Ich heiße Caleb, Caleb Sinclair«, antwortete er etwas zögerlich.

    »Es ist schön, dich kennenzulernen, Caleb. Ich nenne dich einfach Cal, und mach dir keine Sorgen wegen Oliver Bain. Er tut nur immer so abgebrüht, in Wirklichkeit ist er ein richtiger Softie.«

    »Hast du gerade Oliver Bain gesagt? Der Oliver Bain, der als Fünfjähriger mit seinen toten Eltern stundenlang allein in der Eiseskälte im Kinnoll Hill Woodland Park stand? Das glaube ich nicht. In meiner alten Schule ist er eine lebende Legende«, plapperte der schleimige Affe voller Begeisterung über den Autounfall, der mein Leben zerstört hatte.

    »Äh! Ja, das stimmt«, antwortete Zoe und sah mich für einen kurzen Moment mit ihren traurigen, moosgrünen Augen an. »Aber ich glaube nicht, dass Oli dieses Ereignis als legendär bezeichnen würde. Deshalb halte ich deine Begeisterung für etwas unangebracht.«

    »Oh! Ja! Das tut mir leid. Ich wollte nicht ...«, entgegnete er und sah mich verunsichert an. »Also ... manchmal kann ich meine Reaktionen nicht kontrollieren, was gelegentlich dazu führt, dass ich auf andere unsensibel wirke. Das tut mir leid!«

    »Hätte ich nicht gemerkt«, antwortete ich patzig.

    »Wie alt bist du?«, fragte Zoe interessiert. Wahrscheinlich wollte sie die Situation etwas entschärfen, denn eigentlich stellte sie solche banalen Fragen nicht.

    »Äh! Ich bin zwölf«, antwortete Caleb schüchtern, als wäre es ihm unangenehm. »Aber ich gehe in dieselbe Klasse wie Oliver«, fuhr er selbstbewusster fort.

    »Zwölf? Ich hätte dich höchstens auf zehn geschätzt«, sagte ich, und das war nicht einmal gelogen. Caleb machte ein beleidigtes Gesicht und rückte seine Brille zurecht.

    »Ich bin letzte Woche fünfzehn geworden und damit offiziell genauso alt wie Oli«, klärte sie den Neuling auf.

    »Letzte Woche? Dann wünsche ich dir nachträglich alles Gute«, schleimte er sich bei ihr ein.

    »Gut. Jetzt wissen wir alle, wie wir heißen und wie alt wir sind. Wenn du nicht noch eine Runde Flaschendrehen spielen willst, um die tiefsten Abgründe unserer Seelen zu erforschen, würde ich Caleb gerne in der Gruppe abliefern.«

    Zoe schaute mich mit großen Augen an.

    »Du hast noch nie Flaschendrehen gespielt, oder? Sonst wüsstest du, dass man bei diesem Spiel keine dunklen Geheimnisse erfährt. Dafür benutzt man ›Wahrheit oder Pflicht‹«, erwiderte sie und sah mich schnippisch an.

    »Von mir aus. Mir ist kein dümmeres Spiel eingefallen, aber du kennst dich ja besser aus als ich.«

    »Charmant wie immer, der Oli«, sagte sie grinsend, wandte sich von mir ab und griff nach einem Koffer.

    »Oh Mann, Cal. Der ist aber schwer. Was hast du denn da drin? Ziegelsteine?«

    »Fast richtig geraten, Bücher. Ich liebe Bücher, das musst du wissen. Ich habe alle Bände vom Zauberlehrling und unsagbar viele Werke über mythologische Wesen aus aller Welt«, antwortete er freudestrahlend.

    »Freak!«, murmelte ich vor mich hin, was Zoes feinem Gehör allerdings nicht entging.

    »Nicht jeder kann sich für die staubigen Seiten von Fachbüchern begeistern. Fast jeder liest hier ab und zu ein schönes Fantasybuch, außer dir natürlich, Oli. Deshalb darfst du jetzt den Koffer tragen«, sagt sie keck und stellt mir das schwere Ding fast auf den Fuß.

    »Das kannst du vergessen! Ich bin nicht der Butler von diesem Traumtänzer«, sagte ich, als die beiden schon an mir vorbei waren.

    »Bist du sicher? Es würde mich sehr interessieren, was meine Mutter sagen würde, wenn sie mich mit diesem schweren Koffer sehen würde, während du tatenlos neben mir herläufst«.

    Der Ich-bin-die-Tochter-der-Heimleiterin-Joker - hatte ich schon erwähnt, dass ich sie auf den Tod nicht ausstehen konnte? Sie hatte immer dieses Mauerblümchen-Grinsen im Gesicht, war nett zu allen und jedem. Sogar die schlimmsten Lehrer mochten sie, und auch wenn ich es ungern zugebe, lag es nicht daran, dass sie eine Martine war. Sogar mir fiel es manchmal schwer, sie nicht zu mögen, und ich mag eigentlich niemanden, nicht einmal mich selbst. Sie sah in jedem nur das Beste - was ich auch an ihr absolut nervig fand.

    Murrend schnappte ich mir den Koffer und lief den beiden hinterher. Und nur damit ihr es wisst, ich tat es nicht, weil Zoe es sonst ihrer Mama erzählt hätte.

    »Kennst du schon die Geschichte von Brydon?«, wollte Zoe von Caleb wissen.

    Er schüttelte den Kopf.

    »Nein! Oliver hat gesagt, er kennt sie nicht«, antwortete er.

    »Das habe ich nie gesagt«, verteidigte ich mich. »Er hat mich gefragt, ob ich ihm etwas darüber erzählen kann und ich habe Nein gesagt.«

    »Also wirklich, Oli. So wirst du nie Freunde finden.«

    »Wer sagt denn, dass ich welche will?«, murmelte ich vor mich hin.

    »Wir alle tragen die Geschichte von Brydon mit Stolz in uns. Es ist sozusagen die Pflicht eines jeden, sie zu lernen und weiterzugeben. Ich werde dir einen kleinen Vorsprung geben. Das Brydon wurde 1878 von Dorothea Brydon gegründet, einer reichen Witwe, die ein Herz für heimatlose und vagabundierende Jugendliche hatte. Sie kaufte einem armen Bauern ein großes Stück Land ab und ließ darauf die ersten Gebäude errichten, die noch heute Teil der Anlage sind. Durch die vielen Kinder, die auf der Suche nach Schutz und Unterkunft aus dem ganzen Land hierher strömten, wuchs Brydon sehr schnell. Als Dorothea 1932 starb, drohte dem Kinderdorf trotz des großen Erbes die Schließung, da niemand hier arbeiten wollte. Der deutsche Schwesternorden der Franziskanerinnen von der ewigen Anbetung, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, sich um bedürftige Kinder zu kümmern, erfuhr von der Not der fast hundert Waisenkinder. So übernahmen die Franziskanerinnen die Leitung von Brydon und führten es im Sinne der Gründerin weiter. Neben dem Haupthaus, in dem sich auch heute noch die Schule, die Krankenstation und die Verwaltung befinden, entstanden eine Kirche, ein Schwesternheim und zwanzig kleinere Gruppenhäuser, die durch schmale Kieswege wie diesen, auf dem wir gerade unterwegs sind, miteinander verbunden sind. Zur Zeit leben hier etwa 250 Waisenkinder jeden Alters und Geschlechts, dich eingeschlossen«.

    »Das stimmt nicht ganz«, sage ich. »Kinder unter drei Jahren gibt es hier kaum. Wenn sie gesund sind, werden sie sofort adoptiert. Ab sechs Jahren ist das eher selten. Manche haben das unbeschreibliche Glück, fünf Jahre lang von einer zerrütteten Familie zur nächsten gereicht zu werden, bis sie schließlich wieder im Brydon landen, dem Heim für die Ausgestoßenen, die keiner will. Und wenn sich die Türen erst einmal hinter dir geschlossen haben, kommst du so schnell nicht mehr raus. Erst wenn du volljährig bist, darfst du das Dorf durch die großen Eisentore verlassen. Und soll ich dir etwas sagen, Caleb? In etwas mehr als einem Monat werde ich sechzehn, und das bedeutet, dass ich hier schneller raus bin, als du Haggis sagen kannst.«

    »Oh! Ich kann ziemlich schnell Haggis sagen, aber ich bekomme das Zeug nicht runter«, entgegnete der Frischling.

    Jeder andere Dorfbewohner wäre jetzt sauer auf mich gewesen, denn sie liebten das Brydon und das Leben hier - aber nicht Zoe. Sie warf mir nur einen kurzen, skeptischen Blick zu und wandte sich wieder Caleb zu.

    »Die Einstellung von Oli ist eher selten. Du wirst schon sehen. Aber wo du gerade von Haggis sprichst. Ich habe ganz vergessen, dir von unserer Mensa zu erzählen. Sie liegt zwischen dem Hauptgebäude und unserer Kirche. Dort bekommst du das beste Essen des Landes und das, obwohl Oli dort viel Zeit in der Küche verbringt.«

    »Warum macht er das?«, will Caleb wissen.

    »Meine Mutter hat ihn immer zur Küchenarbeit verdonnert, wenn er etwas angestellt hat. Bis ihr eines Tages aufgefallen ist, dass er eigentlich nur Quatsch macht, um in der Küche sein zu können«, erklärte Zoe ihm.

    »Okay, aber warum? Wegen des Essens?«, hakte er nach.

    »Nein. Er verbringt gern Zeit mit unserer Köchin Heriet Collins. Sie ist neben meiner Mutter die einzige weibliche Angestellte, die nicht dem Schwesternorden angehört. Er scheint sie sehr zu mögen, obwohl Oli niemanden mag.«

    »Das geht niemanden etwas an, schon gar nicht diesen Frischling«, sagte ich.

    »Ach, Oli! Du nimmst immer alles viel zu ernst«, erwiderte Zoe und grinste mich an. Ich hasste es, wenn sie das tat.

    Ich war erleichtert, als ich hinter der Kurve das alte Backsteinhaus sah. Normalerweise kam mir der Weg vom Hauptgebäude bis hierher nicht so weit vor, aber an diesem Tag zog er sich wie Kaugummi. Zoe begleitete uns bis vor die Tür.

    »Hier sind wir, Cal. Das ist dein neues Zuhause, das Haus Modred. Ich würde dich gerne hineinführen, aber leider dürfen Mädchen nicht in die Jungenhäuser und umgekehrt. Eine Regel der Franziskanerinnen.

    »Eine blöde Regel, wenn du mich fragst. Aber was kann man von diesen Pinguinen auch anderes erwarten«, murmelte ich leise vor mich hin.

    »Sagt der Möchtegern-Schürzenjäger. Wären alle Jungs so brav wie Oli, gäbe es diese Regel wahrscheinlich gar nicht«, erwiderte Zoe lachend.

    »Ach übrigens, Oli«, fährt sie fort. »Dein Zimmergenosse, dieser Rugbyspieler, ist ins Lanzelothaus umgezogen. Vor dir steht dein neuer Stubenkamerad, das hat meine Mutter vergessen, dir zu sagen. Ich wünsche euch beiden viel Spaß«.

    Ich verspürte den unbändigen Drang, Calebs Koffer nach ihr zu werfen. Aber wahrscheinlich hätte ich mir dabei nur die Schulter ausgekugelt, also verzichtete ich darauf und warf ihr stattdessen einen bitterbösen Blick hinterher.

    Wortlos bedeutete ich dem Frischling, mir zu folgen.

    Als ich die Haustür öffnete, stieg der Geräuschpegel schlagartig von null auf hundert. Im Hause Modred war immer etwas los. Die Jüngeren kannten keine bessere Beschäftigung, als den ganzen Tag durch die Zimmer zu rennen und beim Fangen spielen alles und jeden umzurennen. Im offenen Gemeinschaftsraum saßen die Streber und diskutierten lautstark, wer in ihrem bescheuerten Fantasy-Rollenspiel die mächtigere Figur sei, der Elfenkönig oder der schwarze Troll, während sich die Sportler grölend eine Schlacht am Kicker lieferten. Für mich war das ein alltägliches Bild, aber Caleb schien davon fasziniert zu sein. Seine Aufmerksamkeit galt vor allem der kleinen Gruppe von Fantasy-Rollenspiel-Freaks.

    »Komm schon. Ich will endlich deinen Koffer loswerden«, forderte ich ihn auf und stieg die knarrenden Stufen der Holztreppe hinauf.

    Auf halbem Weg nach oben kamen uns die Hall-Zwillinge entgegen.

    Eines vorweg: Obwohl die eineiigen Brüder mit ihren blonden Haaren und blauen Augen unverschämt gut aussahen, gaben sie mir immer wieder Anlass zu der Vermutung, dass sie sich ein Gehirn teilen müssten.

    »Ey, guck mal, Hunter. Bain arbeitet jetzt als Kofferträger«, sagt Aidan lachend zu seinem Bruder. Früher hätte ich die beiden nie auseinanderhalten können, aber vor ein paar Wochen hat Hunter einen Basketball voll ins Gesicht bekommen. Seit diesem Tag ziert eine eineinhalb Zentimeter lange Narbe seine rechte Augenbraue. Dass ich es war, der den Ball geworfen hat, wusste er bis heute nicht.

    »Der voll krasse Packesel«, entgegnete sein Bruder. Ich blieb stehen und sah ihnen nach, wie sie lachend die Treppe hinuntergingen, und wieder verspürte ich den Drang, Calebs Koffer als Wurfgeschoss zu benutzen. Stattdessen grinste ich nur, voller Vorfreude auf den Spruch, der mir durch den Kopf schoss.

    »Hey, ihr beiden Pappnasen«, rief ich ihnen hinterher, woraufhin sie stehen blieben und zu mir aufblickten.

    »Wenn ihr euch den Körper eines Esels teilen würdet, sähe das verdammt komisch aus.«

    »Warum?«, wollte Hunter wissen.

    »Weil ihr dann das einzige Maultier in Schottland wärt, das zwei Ärsche hätte, darum!«, antwortete ich.

    Die Hall-Zwillinge sahen sich verdutzt um, denn plötzlich standen alle Hausbewohner, die in der Nähe waren, um sie herum. Für einen kurzen Moment herrschte Totenstille, bis einer der Streber laut auflachte, und keine zwei Sekunden vergingen, da lachten plötzlich alle. Wirklich jeder zeigte mit dem Finger auf die Zwillinge und sie riefen im Chor immer wieder ›ein Maultier mit zwei Hintern‹.

    Aidans Gesicht verzerrte sich. Kaum hatte ich die Frage in meinem Kopf zu Ende formuliert, was dieser seltsame Geschichtsausdruck zu bedeuten hatte, fing er auch schon an, laut los zu flennen. Und als Aidans Reaktion die Gemüter noch mehr erhitzte, stürmte der mobile Feueralarm aus dem Haus. Hunter blieb wie angewurzelt stehen. Im Gegensatz zu seinem fünf Minuten jüngeren Bruder stand ihm die Wut ins Gesicht geschrieben.

    »Das wirst du noch bereuen, Oliver Bain!«, sagte er mit rachsüchtiger Stimme und folgte seinem Bruder.

    Einer der Sportler zeigte mit dem Finger auf mich, zwinkerte mir zu, lächelte und drehte sich mit den anderen kommentarlos von mir weg. Das sollte so viel heißen wie: ›Bist 'ne coole Socke, Bain‹, und einer der Streber sagte zu seinen Streberfreunden: »Ein Maultier mit zwei Hintern! Das ist echt cool, das muss ich in meinen Blog schreiben«.

    Ja, hin und wieder erfreute ich mich großer Beliebtheit, was ich meiner großen Klappe zu verdanken hatte, wie Madame Martine zu sagen pflegte. Trotzdem fühlte ich mich zu keiner Gruppe zugehörig. Der ständige Wettkampf der Sportler, höher, besser, weiter, war mir zu anstrengend. Die Freaks waren zwar nett, aber viel zu abgedreht mit ihrem Fantasiekram. Ich konnte kein Instrument spielen, also passte ich auch nicht zu den Musikern, und die fehlende Begeisterung für das Theater trennte mich von den Theaterfreaks. Dann waren da noch die Skateboarder, bei denen es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht auf den Brettern mit Rollen schliefen. Dann waren da die Jesuskinder, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts anderes taten, als über Gott zu reden, und dann waren da noch die traurigen Gestalten mit den schwarz geschminkten Augen, die keine Freude am Leben zu haben schienen. Wie auch immer man Normalität definiert, ich war nichts von alledem - ich war nicht wie die anderen und die anderen waren nicht wie ich.

    »Da schläfst du!«, sagte ich und donnerte den Koffer in die kahle Zimmerhälfte, dass er gegen das unbezogene Bett knallte und schließlich krachend umfiel. Der Rugbyspieler war wirklich weg. Nicht, dass ich seine stinkenden Füße und die Socken, die an der Wand kleben blieben, wenn man sie gegen sie warf, vermissen würde. Aber wir hatten etwas gemeinsam: Wir waren beide nicht besonders gesprächig. Und jetzt hatte ich diese zwölfjährige Trantüte an der Backe.

    »Hey, Vorsicht! In dem Koffer sind sehr wertvolle und alte Bücher, die schon zu Großvaters Zeiten im Familienbesitz waren«, beschwerte sich Caleb und stellte ihn vorsichtig auf sein Bett, als wäre es chinesisches Porzellan.

    »Ich brauche Zeit für mich«, sagte ich und ging zur Zimmertür.

    »Wann kommst du wieder?«, wollte Caleb wissen, woraufhin ich ihn genervt ansah.

    »Hör zu! Ich bin weder dein Kindermädchen noch dein Freund, also gewöhn dich besser an den Gedanken, dass wir nicht mehr viel miteinander zu tun haben werden. Hast du verstanden?«

    Der Kleine sah mich an, als würde er gleich anfangen zu weinen.

    »Aber Madame Martine hat gesagt, du sollst mich herumführen und mir alles zeigen.«

    »Unten ist die Küche. Frühstück und Abendessen gibt es immer in den Gruppen und das Mittagessen in der großen Mensa, an der wir vorhin vorbeigekommen sind. Den Gemeinschaftsraum hast du auch schon gesehen. Hier im ersten Stock sind die Schlafräume der Mittel- und Oberstufenschüler, und ein Stockwerk höher sind die Zimmer der Betreuer und die von ein paar Jungs, die schon über 16 sind, aber noch nicht den Mut hatten, in die reale Welt zu flüchten. Auf jeder Etage gibt es einen Waschraum. Da du auf dieser Etage wohnst, benutzt du auch nur dieses Gemeinschaftsbad. Und eine Regel solltest du dir gut einprägen: Geh niemals in ein fremdes Zimmer, es sei denn, du willst jung sterben. Ansonsten wünsche ich dir viel Spaß bei deiner Erkundungstour, ich bin dann mal weg.«

    Mit diesen Worten verließ ich meinen neuen Zimmergenossen und das Haus Modred. Ich musste so schnell wie möglich in die Küche der Mensa, zu meiner einzigen Vertrauten, Heriet Collins.

    Die Küche war riesig und Heriet war die Chefin dieses Reiches. Aber jeden Mittag für 250 Kinder zu kochen, war keine Aufgabe für eine Frau. Ihr zur Seite standen fünf Ordensschwestern, die jeden Tag schnippelten, hobelten und alles andere taten, damit Heriet das Essen fast im Alleingang zubereiten konnte. Sie hießen Deotilla, Basina, Aloysia, Gilda und die älteste der Franziskanerinnen, Schwester Rosaria. Ich hatte allerdings nie viel mit ihnen zu tun, da sie meist nur wie kleine singende Pinguin-Drohnen ihre Arbeit verrichteten und dann wieder verschwanden. Bei Festen oder größeren Veranstaltungen wurden zusätzlich Kinder als Küchenhilfe eingesetzt, was für Heriet und ihr eingespieltes Küchenteam meist eine nervliche Zerreißprobe war.

    Aus der hintersten Ecke der auf Hochglanz polierten Edelstahlküche war ein tumultartiges Klappern zu hören. Es klang, als würde jemand mit Kochtöpfen die Schlacht von Gettysburg nachspielen. Doch Heriet war nirgends zu sehen.

    »Wo steckst du?«, rief ich und folgte dem Geräusch, bis ich neben einem der vielen Küchenschränke stand, aus dem nur ein nicht gerade kleiner Hintern herausragte.

    »Was machst du da?«, fragte ich, woraufhin ein dröhnendes Rumpeln ertönte.

    Heriet kam aus dem Schrank gekrochen und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Hinterkopf.

    »Alles in Ordnung?«, wollte ich wissen.

    Überrascht blickte sie zu mir auf.

    »Oh, Oliver! Du bist es! Ich dachte schon, ein Brownie hätte sich wieder einen Scherz mit mir erlaubt.«

    Das sagte sie immer, wenn in der Küche etwas schief ging, was nicht selten vorkam. Und wenn du jetzt denkst, dass ein Brownie

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