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Der Preis der Rettung
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eBook298 Seiten4 Stunden

Der Preis der Rettung

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Über dieses E-Book

Was tun, wenn plötzlich alles aus den Fugen gerät? Der Jude Samuel Berkow muss 1938 vor den Nazis fliehen und seine Heimatstadt Hamburg verlassen. Mit dem Schiff geht es nach Puerto Barrios in Guatemala. Doch die Hoffnung, fernab der Heimat sicher vor den Nazis leben zu können, hält nicht lange, und die Schlinge um Samuels Hals scheint sich zusehends enger zu ziehen. An diesem Ort, das lernt er schnell, ist auf niemanden Verlass. Kann es einen Ausweg geben, wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war? Und die Frage, die über dem Roman steht: Was ist der Preis der Flucht?

Mit unnachahmlicher Virtuosität und leichter Hand zeichnet David Unger das Porträt eines jungen, orientierungslosen Mannes und zeigt, wie unsicher der scheinbare Schutz der Zivilisation ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberKommode Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2024
ISBN9783905574302
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    Buchvorschau

    Der Preis der Rettung - David Unger

    PROLOG

    Samuel Berkow hätte einen Angestellten losschicken können, um herauszufinden, warum die »Martin«-Gürtel noch nicht im Laden angeliefert worden waren, aber er hatte Lust, selbst loszugehen. Das Lager befand sich auf St. Pauli, im Hafengebiet in der Nähe der Elbe, nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Trotz der Bordelle und heruntergekommenen Kneipen mochte Samuel diese Gegend. Nur hier konnte man noch so etwas wie Widerstand gegen die Nazis finden; wenigstens die Arbeiter trauten sich, ab und zu den Mund aufzumachen.

    Obwohl es Juni war, ließ sich die Sonne nicht blicken. Tatsächlich fühlte der Tag sich an wie ein Tag im Januar. Zwar regnete es nicht, doch Rauch und Nebel lagen über allem, und es schien, als liefe der von den Frachtern und Fabriken ausgespiene Ruß klebrig an den Hauswänden herunter. Samuel ging schnell an den Fischläden und Restaurants vorbei, den zahlreichen Bierhallen und billigen Hotels, die die düsteren Straßen zum Fluss hinunter säumten. Als er noch ein paar Querstraßen von den Landungsbrücken entfernt war, sah er, dass die Uhr am Turm dort vier Uhr nachmittags anzeigte. Um sieben sollte er seinen Onkel Jacob besuchen.

    Nach Sonnenuntergang war die Hafengegend für jeden gefährlich, der nicht hierher gehörte, voller Seeleute, Spitzel und Gestapo-Agenten, nicht zu reden von den Dieben und Räubern, die es auf Emigranten abgesehen hatten, von denen viele aus Osteuropa stammten und die in den Hotels maßlose Preise zahlten. Oft trugen sie, in ihre Kleidung eingenäht, Gold- und Silberschmuck bei sich, den sie den dubiosen Schmugglern und Menschenhändlern gaben, die sie auf die Fähren nach London oder Rotterdam zu bringen versprachen.

    Die Radionachrichten hatten berichtet, dass sich auf dem Platz vor der Überseebrücke direkt am Fluss etwas zusammenbraue. Es hieß, eine der Munitionsfabriken sei weit unter ihrem Produktionssoll geblieben und einige der Arbeiter – Kommunisten und Anarchisten, wie der Radiosprecher sagte – hätten dagegen protestiert, ohne Pause durcharbeiten zu müssen. Sie hätten sich beschwert, dass sie seit fünf Wochen keinen Lohn bekommen, keinen einzigen freien Tag gehabt hätten und sich ungerechtfertigt hätten aufopfern müssen.

    Als Samuel am Platz ankam, sah er, was los war. Ein Trupp Arbeiter in grünen Overalls hatte sich vor dem Gebäude des Hafen- und Zollamts in der Nähe der Landungsbrücken versammelt und mit Paletten und Sperrholzplatten aus den umliegenden Lagerhäusern eine provisorische Bühne errichtet. Von dort aus wurden Reden geschwungen und die Arbeiter aufgewiegelt.

    Bald schlossen sich den Fabrikarbeitern am anderen Ende des Platzes ein Dutzend Schauerleute aus dem Hafen in ihren Blaumännern an. In seinem Regenmantel, den er über dem Anzug trug, wirkte Samuel hier fehl am Platze, sodass er beschloss, sich unter ein Vordach an der Hafenmole zu stellen und von dort aus weiter zuzuschauen. Rechts von ihm beobachteten noch zwei Männer die Szene. Einer der beiden saß auf dem Trittbrett eines schwarzen Autos, rauchte entspannt eine Zigarette und schaute ab und zu durch ein Fernglas; der andere sprach lebhaft in ein Funkgerät und schien zu berichten, was er da sah. Abgesehen davon wirkte der Platz auf unheilvolle Weise leer.

    Von seinem Standort aus konnte Samuel sehen, dass die Demonstranten Knüppel, Rohre und Latten in den Händen hielten. Einige von ihnen waren mutig genug, Schilder hochzuhalten, auf denen gegen die fehlenden Lohnzahlungen protestiert wurde oder eine geballte Faust zu sehen war.

    Solche Massenansammlungen waren ja längst verboten, die Naziregierung tolerierte solche Provokationen nicht. Das hier konnte nichts Gutes geben.

    Plötzlich frischte der Wind auf, und die Stimmen erstarben. Auf den Werften jenseits des Flusses schlugen und kreischten die Kabel der Kräne, und dann hörte Samuel noch ein oder zwei ferne Nebelhörner. An den Fahnenstangen der umliegenden Gebäude klirrten die Naziflaggen im Wind.

    Samuel spürte sein Herz schneller schlagen, als er hinter sich ein Dröhnen hörte. Das Geräusch wurde immer lauter, bis seine Trommelfelle zu vibrieren begannen. Dann sah er die Stiefel, die im Gleichschritt wie die Hufe stampfender Stiere auf das Kopfsteinpflaster traten. Ein Trupp von Männern mit Hakenkreuzbinden am Arm rannte im Laufschritt an ihm vorbei, in den Händen Gummiknüppel und Gewehre. Wäre er ihnen in die Quere gekommen, sie hätten ihn niedergetrampelt.

    Wie aus dem Nichts tauchte jetzt eine größere Truppe von Polizisten auf und trieb die Protestierenden über den Platz. Sie mussten sich wohl im Elbtunnel versteckt gehalten haben, der die Stadt mit dem Hafengebiet auf der anderen Seite des Flusses verband, wo sie auf das Zeichen zum Einsatz gewartet hatten.

    Die Schauerleute zogen sich plötzlich zurück, holten ihre verborgenen Waffen hervor und begannen, auf die Arbeiter zu schießen. Sie waren jetzt von allen Seiten umzingelt, ohne irgendeine Fluchtmöglichkeit. Kugeln und Gummiknüppel flogen, und den Arbeitern blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihren Stöcken und Schildern zu verteidigen, so gut sie konnten. Ein paar versuchten, über die Mauer des Zollamts zu klettern, wurden jedoch niedergeschossen. Sirenen begannen zu heulen, und fünf oder sechs Mannschaftswagen mit Soldaten kamen auf den Platz gefahren.

    Doch ihr Einsatz war nicht mehr nötig, das Massaker war vorüber. Wegen des blauen Rauchs und des Nebels konnte Samuel alles nur schemenhaft erkennen, aber er schätzte, dass dreißig bis vierzig Männer niedergemäht worden waren.

    Da kam plötzlich ein Mann mit einem Jungen an der Hand auf den Platz gelaufen. Beide trugen dunkle Anzüge, weiße Hemden und schwarze Hüte. Samuel wollte ihnen ein Zeichen geben, dass sie umkehren sollten, doch sie gingen schnell und unterhielten sich dabei. Samuel sah, wie der Nazi mit dem Funkgerät seinem Kollegen zuzwinkerte und dann einen Revolver aus der Manteltasche zog. Ohne zu zögern, feuerte er drei, vier Mal auf die beiden chassidischen Juden, die sofort tot zusammenbrachen.

    Samuel fiel gegen die Wand hinter sich. Er hörte Gelächter und Klatschen. Seine Kehle und seine Zunge waren trocken, seine Brust schmerzte. Er konnte nicht fassen, was er da gerade gesehen hatte. Zwei Menschen getötet, einfach so, wie Asche, die von einer Zigarette geschnippt wird.

    Als das schwarze Auto davonfuhr, schlug Samuel den Mantelkragen hoch und lief, so schnell er konnte, zum Laden zurück. In ein paar Stunden würde er seinen Onkel Jacob sehen. Was sollte er ihm erzählen? Dass er um ein Haar getötet worden war oder dass die »Martin«-Gürtel noch nicht aus England gekommen waren?

    »Komm rein, komm rein«, bat Jacob seinen Neffen ein paar Stunden später in seine Wohnung. Die Lesebrille hatte er auf seine zerfurchte Stirn geschoben. Er half Samuel aus seinem Regenmantel, den er an die Metallgarderobe hinter der Eingangstür hängte. »Wie ist es draußen?«

    Samuel war klar, dass sein Onkel nicht das Wetter meinte. »Du weißt ja, ich trage ihn eher gegen die Kälte als gegen den Regen …«

    »Lass das. Du weißt, wovon ich spreche. Von dem, was ich im Radio gehört habe.«

    Samuel holte tief Luft. »Es hat einen Zusammenstoß zwischen Fabrikarbeitern und der Polizei gegeben, unten am Hafen. Dabei sind mehrere Männer getötet worden. Das habe ich wenigstens so gehört.«

    »Letzte Woche hat es eine Nazi-Kundgebung gegeben, da haben sie gesagt, kein Land der Welt wolle die polnischen Juden aufnehmen, die Hitler unbedingt loswerden will. Wenn du Bier mit Dummheit zusammenbringst, sind im Handumdrehen zehn Juden tot.«

    Samuel schüttelte nur den Kopf, erzählte aber nichts von dem, was er gesehen hatte.

    »Die einzige Option, die wir noch haben, ist wegzugehen – und auch die schwindet jetzt immer schneller«, fuhr sein Onkel fort. Er nahm Samuel bei der Hand und führte ihn in sein Studierzimmer, wo Samuel, seine Cousinen und sein Vetter als Kinder nie hatten spielen dürfen. Der Raum hatte sich seither nicht sehr verändert: das alte Pianola, das jetzt nie mehr spielte; die Vitrinen voller Bücher, mit Goldschnitt und in braunem Leder eingebunden; und die beiden Armsessel, in denen sein Vater und sein Onkel Platz zu nehmen pflegten, wenn sie Privates zu besprechen hatten. An der Wand hingen zwei Holzschnitte von Dürer, die eine Druckpresse aus verschiedenen Winkeln zeigten.

    Als sie an der Küche vorbeikamen, rief sein Onkel durch die Tür: »Lottie, bring den Tee ins Arbeitszimmer. Zwei Tassen. Mein Neffe ist gerade gekommen. Und ein paar von den englischen Keksen, wenn noch welche da sind.«

    »Ja, Herr Berkow«, kam es zurück.

    Samuel setzte sich in den blauen Sessel, wo sein Vater früher immer gesessen hatte. Jacob ließ sich ihm gegenüber nieder. Er nahm die Brille ab und legte sie vor sich auf den Tisch. »Samuel, ich habe dich gebeten zu kommen, weil ich dich bitten möchte, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Du kannst jeden Tag verhaftet werden.«

    Die Vorhänge waren aufgezogen und an den Fensterseiten festgemacht worden. Die kühle Juniluft drang ins Zimmer; sein Onkel ließ das Fenster immer leicht geöffnet. Samuel konnte die Reihe der Kastanien sehen, welche die Lutterothstraße unter Onkel Jacobs Wohnung säumten. Auf der anderen Straßenseite lag ein kleiner Park voller Linden. Dort hatte Samuel mit seinem Vetter gespielt, hatte sich an den Eisenstangen festgehalten, gelacht und vor Freude gekreischt, während das rote Karussell sich drehte. Das waren andere Zeiten gewesen.

    Er hätte seinem Onkel gern von dem erzählt, was er heute gesehen hatte, aber er konnte es nicht. »Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, wegzugehen«, sagte er stattdessen.

    Jacob legte Samuel die Hand aufs Knie. »Ich habe Heinrich geschrieben und ihn informiert, dass du bald kommst. Guatemala City ist natürlich nicht Hamburg, doch Heinrich scheint überzeugt zu sein, dass die Stimmung dort gegenüber Juden allgemein freundlich ist. Eins ist sicher: Hier kannst du nicht bleiben. Ich habe dir schon ein Ticket für den Dampfer nach Panama gekauft.«

    »Onkel Jacob, meinst du nicht, dass ich da auch ein Wörtchen mitzureden habe? Ich bin ein erwachsener Mann!«

    »Ich habe deinem Vater versprochen, mich um dich zu kümmern. Eine andere Wahl gibt es nicht.«

    »Ich könnte zu meiner Mutter und meiner Schwester nach Palma gehen. Mallorca ist ruhig, und Franco ignoriert Hitlers Befehle, Juden festnehmen zu lassen.«

    Samuels Onkel schüttelte den Kopf. »Du musst Europa verlassen, Samuel. Sobald Franco seine Macht gefestigt hat, wird auch er beginnen, die Juden zu verfolgen.« Jacob rutschte in seinem Sessel hin und her, suchte nach einer bequemeren Sitzposition. »Außerdem kommt deine Mutter diese Woche nach Hamburg zurück. Ich habe versucht, es ihr auszureden, doch sie und deine Schwester, na ja, sie sind sich so ähnlich, dass sie nicht miteinander auskommen können. Zwei Jahre mit deiner Schwester sind genug. Du weißt sicher, was ich meine«, sagte er und lächelte dabei.

    Samuel nickte. Er verstand seine Mutter nicht. Weshalb hatte sie sich geweigert, zur Beerdigung ihres Mannes zurückzukommen, nachdem sie fünfunddreißig Jahre verheiratet gewesen waren?

    »Du hast hier einfach keine Zukunft«, sagte Jacob jetzt.

    »Und was willst du tun, Onkel?«, fragte Samuel und versuchte, das Thema zu wechseln. »Gehst du zu Erna und Greta nach London?«

    Jacob trug denselben dreiteiligen Anzug mit den Nadelstreifen, den er schon zwei Tage zuvor angehabt hatte. Nur hatte er jetzt schwarze Slipper statt Straßenschuhe an den Füßen.

    »Nein, ich will hierbleiben und auf den Laden aufpassen. Sobald ich weggehe, werden die Nazis alles konfiszieren, so wie sie es auch in Berlin gemacht haben. Und eine Entschädigung kannst du vergessen – all die Zeit und alles Geld, das dein Vater, er ruhe in Frieden, investiert hat, wird für immer umsonst gewesen sein.«

    »Wenn ich weggehen kann, Onkel, dann kannst du das doch auch.«

    »Ich bin ein alter Mann. Was hab ich schon davon, wenn ich nach London gehe? Allein der Umzug würde mich umbringen. Nein, ich bleibe hier. Außerdem muss ich deine Mutter außer Landes bringen.«

    »Darum werde ich mich schon kümmern.«

    »Nein, nein, nein«, antwortete Jacob. »Du erinnerst sie zu sehr an deinen Vater. Ich habe schon begonnen, ihre Reise nach Kuba zu planen, zusammen mit ihrer Schwester. Ich werde sie auf der St. Louis rausbringen, das verspreche ich dir.«

    Lottie kam mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne mit einer Warmhaltehaube, zwei unterschiedliche Tassen und ein kleiner Teller mit Keksen standen. Sie war vor dreißig Jahren aus Leipzig gekommen, damals schon dünn und müde aussehend, und war über die Jahre noch dünner und müder geworden. Als Jacobs Frau Gertie Jahre zuvor starb, war Lottie zum Faktotum der Familie geworden, hatte sich um Jacob, seinen Sohn und die drei Töchter gekümmert. Jetzt, wo alle Kinder aus dem Haus waren, war nur noch Jacob übrig geblieben.

    Der alte Mann stand auf, um ihr das Tablett abzunehmen. »Du kannst dich jetzt zur Ruhe begeben, Lottie. Es ist schon spät.«

    Das Dienstmädchen sah auf Samuel hinunter und deutete ein Lächeln an, einen knappen Gruß. Er verstand nicht, wie sein Onkel sie all diese Jahre hatte ertragen können, war sie doch immer schlechter Laune. Sie sprach nur wenig, und wenn sie es tat, dann klang es immer unfreundlich.

    »Ihr Abendessen steht auf dem Herd – Corned Beef und Kohl. Wenn Sie es bis acht Uhr nicht gegessen haben, wird es ganz matschig sein.«

    »Vielen Dank«, antwortete Jacob nur, tätschelte ihre Hand und stellte das Tablett auf den Beistelltisch. »Wir sehen uns morgen früh um neun, wie immer.«

    »Wie immer«, wiederholte sie, nahm die Warmhaltehaube von der Teekanne und goss ihnen ein – es war Pfefferminztee, eine Familientradition.

    Der süßliche Duft tat Samuel gut.

    Sobald das Dienstmädchen außer Hörweite war, sagte sein Onkel: »Ich habe für deine Visa für Panama und Guatemala eine Menge Geld bezahlt. Normalerweise würde man das Bestechung nennen. Es könnte einen Monat dauern, vielleicht mehr, bis sie da sind.«

    Samuel wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte gerade gesehen, wie zwei Menschen ermordet wurden. Bis zur »Kristallnacht«, dem Pogrom vom 8. November 1938, hatte er die Bedrohung für die Juden in Deutschland nicht geahnt. Antisemitismus hatte es ja immer gegeben – seltsame Bemerkungen, merkwürdige Andeutungen, auch direktere Äußerungen –, doch dass der Hass und das Töten von Juden staatliche Politik werden könnte, das hatte er nicht für möglich gehalten, jedenfalls nicht in dem Deutschland, für das er im Weltkrieg gekämpft hatte und dabei beinahe umgekommen war.

    »Himmler versucht nur, Hitler zu beeindrucken«, sagte er.

    Jacob hob eine Augenbraue. »Samuel, du hast doch selbst gesehen, wie sie Steine und Kisten in das Schaufenster unseres Ladens in Berlin geworfen haben. Die Frauen unserer Kunden waren alle da mit ihren Pudeln, schauten zu und klatschten und johlten … Himmler ist der Chef der SS und der Gestapo, er steckt hinter dem Ganzen. Hör mir zu: Du musst langsam aufwachen, mein Sohn!«

    »Ich bin längst wach, Onkel«, erwiderte Samuel ungehalten. Er war kurz davor zu erklären, was er gerade am Hafen gesehen hatte, um seine Reaktion verständlich zu machen und zu zeigen, dass er sehr wohl wusste, was los war.

    »Mir ist klar, dass du es im Krieg nicht leicht gehabt hast, in der Gefangenschaft. Und auch deine Beziehung mit Lena muss sehr schmerzhaft für dich gewesen sein. Darf ich offen zu dir sprechen?«

    Samuel zuckte die Achseln.

    »Du bist jetzt Ende dreißig. Als ich so alt war die du, war ich längst verheiratet und hatte Kinder. Du läufst herum, als ob du auf etwas wartetest, das dein Leben verändert und das große Loch in dir füllt. Wir lieben dich alle, doch diese Liebe wird zu Mitleid werden, wenn du nicht etwas aus deinem Leben machst. Ich weiß, wovon ich spreche. Du denkst, deine Geschichte sei zu Ende geschrieben, aber das ist sie längst noch nicht. Du würdest überrascht darüber sein, zu was du fähig wärst, wenn du nur aufhören würdest, so zaghaft zu sein. Ich weiß nicht, vielleicht haben die sechs Monate im Sanatorium nach dem Ende des Kriegs dich so werden lassen.«

    Samuel stand auf, ging zum Fenster hinüber und schaute hinaus. Die Straßenlaternen waren eingeschaltet worden, und er konnte sehen, wie die Straßenbahn an der Haltestelle Ecke Lutterothstraße/Hagenbeckstraße hielt. Ein paar Leute stiegen ein, um Richtung Innenstadt zu fahren. Er hatte eine ganze Menge erlebt – als Soldat, als verwundeter Kriegsteilnehmer, als Einkäufer für das Geschäft seines Vaters. Was sein Onkel über ihn sagte, stimmte wohl. Er hatte zu viel unerwartetes Leid gesehen. Was würde es bedeuten, wenn er jetzt wieder fortginge? Sicher würde er dann nie wieder nach Deutschland zurückkehren.

    »Ich weiß, dass deine Mutter böse auf mich ist, weil dein Vater mir das Geschäft hinterlassen hat«, hörte er jetzt seinen Onkel sagen. »Aber immerhin war ich ja sein Teilhaber. Dein Vater wusste, dass ich mich um dich kümmern würde. Berta hätte das ganze Geld deiner Schwester gegeben oder für irgendeine idiotische Sache wie das Retten von Dackeln oder Pudeln.«

    »Ich habe meine Mutter nie verstanden.« Samuel wusste, dass es merkwürdig war, wenn ein Sohn so etwas sagte, doch seine Mutter zeigte nur Gefühle, wenn sie auf dem Klavier wieder und wieder Beethovens »Appassionata« spielte. Sie berührte menschliche Hände nie so zärtlich, wie sie die Klaviertasten berührte. Sie war unfähig, Zuneigung zu zeigen, viel weniger noch Liebe. Sein Vater verdiente hundert Orden dafür, dass er sie so viele Jahre lang ausgehalten hatte.

    Samuel setzte sich wieder und sah, wie sein Onkel nach der Teekanne griff. Dabei verfehlte seine Hand den Henkel. Samuel hatte es schon im Laden bemerkt: Jacobs Augen waren schwach geworden.

    »Kann ich dir einschenken?«

    Jacob machte eine abwehrende Geste. »Ich kann das schon selbst.« Er nahm die Teekanne und schenkte sich ein, seine Hand zitterte, doch er traf die Tasse.

    »Samuel, du hättest mit mehr Schläue auf die Welt kommen sollen.«

    »Was meinst du damit, Onkel?«

    Jacob lächelte. »Du bist zu vertrauensselig. Das bist du immer schon gewesen. Du hast ein gutes Herz, du bist jemand, der glaubt, dass man sich korrekt verhalten muss. Jemand, den manche Menschen fadengerade nennen.«

    Samuel nippte am heißen Tee, nahm dann einen Keks und tauchte ihn in die Tasse. Seine Hand zitterte auch, seine Kopfhaut fühlte sich heiß an, aber er wollte seinem Onkel nicht widersprechen. »Ich nehme das als ein Kompliment«, sagte er.

    Jacob lächelte wieder. »Natürlich ist es das. Nimm dagegen meinen Sohn Heinrich. Der ist überhaupt nicht wie du – der hat nur Schläue und kein Herz.«

    »Das ist ungerecht, Onkel.«

    »Nein, Samuel, das ist es überhaupt nicht. Ich denke, ich kenne meinen Sohn ziemlich gut.«

    Obwohl Samuel seinen Vetter verteidigte, wusste er, dass Jacob recht hatte. Und er dachte jetzt, dass er vielleicht selbst zu Heinrichs argwöhnischem Charakter beigetragen hatte. Er hatte seinen Vetter einmal schlimm hängen lassen und hatte das nie wiedergutgemacht. Um ganz ehrlich zu sein, hatte er seinen Vetter verraten, und er wusste, dass Heinrich keinen Finger für ihn krumm machen würde, bevor er diesen Verrat nicht ausgebügelt hatte – und das wollte er auch tun, wenn sie sich in Guatemala wiedersähen.

    ERSTES KAPITEL

    Als das Motorboot neben dem kleinen Frachter längsseits gegangen war, tauchten zwei dunkelhäutige Seeleute in zerlumpten Kleidern an der Reling auf. Sie hielten Samuel Berkows Lederkoffer, seinen grauen Homburg und seinen Regenschirm, während er die Eisenleiter empor ans Oberdeck der Chicacao kletterte.

    »Thank you, thank you very much«, sagte er nervös auf Englisch zu ihnen. Dabei streckte er seine rechte Hand aus, doch sie starrten nur verständnislos darauf und gingen davon. Als er ihnen hinterherrief, stiegen sie schon eine andere Leiter auf ein tiefer liegendes Deck hinunter.

    Es war Abend, und Samuel war unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Er legte seinen Regenschirm und seinen Hut auf den Koffer und wartete darauf, dass der Kapitän ihn begrüßen kam. Lose Taue, Ketten, Drahtrollen, rostende Zahnräder, Schraubenschlüssel und ein halbes Dutzend gelber Rettungswesten stapelten sich an Deck um den Schornstein des Schiffes herum. Der Dampfer war nicht alt, nur ziemlich ungepflegt. Er brauchte eine ordentliche Reinigung und einen neuen Anstrich, im Gegensatz zu dem Linienschiff, auf dem er den Ozean überquert hatte. Aber der Dampfer fuhr nach Puerto Barrios, Guatemala.

    Die gut neuntausend Kilometer lange Reise nach Panama auf der Bremen mit ihren Kristalllüstern, Schubertwalzern, luxuriös ausgestatteten Speisesälen und eleganten Kabinen hatte zehn Tage gedauert, nicht lange genug, um Europa wirklich hinter sich zu lassen. Der Ocean Liner hatte es Samuel erlaubt, Hamburg in bester Erinnerung zu behalten: seine breiten Straßen, den Alsterpavillon mit seinem Teehaus, wo an den Nachmittagen Linzer Torte und Rote Grütze auf handbemaltem Porzellan gereicht wurden, eine Bootsfahrt auf der Elbe, Hagenbecks Tierpark.

    Sein Wollanzug erstickte ihn fast. Er lockerte die Krawatte, knöpfte seine Jacke auf und legte sie gefaltet über den Arm. Mit dem Taschentuch aus seiner Jackentasche wischte er sich den Schweiß trocken, der ihm von der Stirn und über seine Wangen lief. Wo zum Teufel war er?

    Plötzlich tauchte ein kleiner, schmieriger Mann vor ihm auf. »Ich hatte keine Begleitung auf dieser Fahrt erwartet«, begann er und grinste breit, »aber als mein erster Offizier über Funk mitbekam, dass einer der Passagiere auf dem Liner möglichst schnell nach Guatemala weiterreisen wollte, sagte ich mir, warum nicht? Ich fahre ja die Küste hinauf. Wir ankern ein Stück weiter nördlich für die Nacht. Sagen Sie, sprechen Sie Englisch?«

    Dem Akzent nach zu urteilen musste der Mann aus den USA stammen. »Ich habe als Kriegsgefangener in England die Sprache gelernt, während des Weltkriegs«, antwortete Samuel und hob dabei den Zeigefinger. Er fragte sich, wie der Mann darauf reagieren würde, dass Samuel auf deutscher Seite gegen Amerika gekämpft hatte.

    »Das war wohl vor meiner Zeit«, kicherte der Mann. Er hatte kleine, glasige Augen, und seine Wangen hingen an seinem Gesicht herunter wie kleine Euter. Die kurzen Ärmel seines Hemds spannten sich um seine Oberarme. Er sah aus wie einer der typischen SA-Männer, die in Hamburg auf der Suche nach Streit betrunken über die Piers torkelten.

    »Ich heiße Alfred Lewis, aber meine Freunde nennen mich Alf. Sie sind ja ziemlich extravagant gekleidet, Mister – waren Sie gerade unterwegs in die Oper?« Er kicherte wieder und streckte die Hand aus.

    »Samuel Berkow, sehr erfreut.« Samuel schüttelte die Hand. Normalerweise hätte er mit jemandem wie Lewis überhaupt

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