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Sie predigten Wasser und tranken Wein: Mein Weg aus religiösem Missbrauch in die Freiheit
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Sie predigten Wasser und tranken Wein: Mein Weg aus religiösem Missbrauch in die Freiheit
eBook260 Seiten3 Stunden

Sie predigten Wasser und tranken Wein: Mein Weg aus religiösem Missbrauch in die Freiheit

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Über dieses E-Book

Jana ist auf der Suche nach Hilfe - für die Vergangenheitsbewältigung, für das Überwinden ihrer Sucht. Sie kommt zu einer christlichen Gemeinschaft, deren Leiter sie in ein neues Leben in Freiheit begleiten möchte. Voller Vertrauen lässt sie sich darauf ein. Doch bald gerät sie unter Druck und in eine wachsende Abhängigkeit. Sie verliert auf dem Weg in die vermeintliche Freiheit jegliche Selbstbestimmung und schließlich - ihre Würde und das an einem Ort an dem sie sicher sein sollte. Doch gleichzeitig ahnt sie, dass Gott größer sein muss als das, was Menschen aus ihm gemacht haben. Und sie kämpft für ihren Weg in die Freiheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberSCM Hänssler
Erscheinungsdatum1. Sept. 2023
ISBN9783775176026
Sie predigten Wasser und tranken Wein: Mein Weg aus religiösem Missbrauch in die Freiheit

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    Ein sehr spannendes Buch das aufzeigt wie religiöser Machtmissbrauch funktioniert und wie sehr er das Leben von Betroffenen zerstört. Man wird in die biografische Erzählung der Autorin regelrecht reingesaugt und kann fast nicht mehr aufhören mit dem lesen da man schockiert ist von dem was diese Frau alles durchgemacht hat. Dieses Buch klärt einerseits gut darüber auf was religiöser Missbrauch ist und ist eine Hilfe für Betroffene und deren Familien und Freunde. Sehr lesenswert!

Buchvorschau

Sie predigten Wasser und tranken Wein - Jana Schmidt

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorinnen

JANA SCHMIDT

erzählt ihre Geschichte unter Pseudonym und arbeitet heute erfolgreich für eine Bundesbehörde.

Porträt von Jana Schmidt

DR. (UNISA) MARTINA KESSLER

ist Theologin und psychologische Beraterin. Sie ist in der Leitung der AcF, Studienleiterin bei der Stiftung TS und leitet den EAD-Arbeitskreis Religiöser Machtmissbrauch. Sie ordnet Janas Erlebnisse fachlich ein und hilft, mögliche Ursachen und begünstigende Strukturen für religiösen Missbrauch frühzeitig zu erkennen und ihm vorzubeugen.

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Über das Buch

»Die Freiheit atmet deine Seele wieder groß«

Jana Schmidt ist auf der Suche nach Hilfe – für die Vergangenheitsbewältigung, für das Überwinden ihrer Sucht. Sie kommt zu einer christlichen Gemeinschaft, deren Leiter sie in ein neues Leben in Freiheit begleiten möchten. Voller Vertrauen lässt sie sich darauf ein. Doch bald gerät sie unter Druck und in eine wachsende Abhängigkeit. Sie verliert auf dem Weg in die vermeintliche Freiheit jegliche Selbstbestimmung und schließlich ihre Würde. Und das an einem Ort, an dem sie sicher sein sollte. Doch gleichzeitig ahnt sie, dass Gott größer sein muss als das, was Menschen aus ihm gemacht haben. Und sie kämpft für ihren Weg in die Freiheit.

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Stimmen zum Buch

»Erschütternd! Eine junge Frau, die Annahme, Heilung und Freiheit im Glauben in der Begegnung mit Christen erleben sollte, erfährt Manipulation, Unterdrückung und erneute, ganz andersartige Abhängigkeit. Lektüre, die unter die Haut geht.«

EKKEHART VETTER

Ehem. Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Deutschland

»Eine Story zum Gruseln: Der seelisch angeschlagenen Jana wird ›im Namen Gottes‹ ihre Würde genommen. Das ist beim Lesen schwer auszuhalten, doch das Buch ist ein Eye-Opener! Hilfreich zum Einordnen sind die eingestreuten theologischen Kommentare.«

LUITGARDIS PARASIE

Pastorin, Autorin, Familientherapeutin

»Dieses Buch gehört nicht nur, aber auch in die Hand von geistlichen Leitern. Die strikte Betroffenenperspektive regt zum Nachdenken darüber an, wie das eigene ›geistliche‹ Leiten wohl vom Gegenüber wahrgenommen wird. In christlichen Gruppen darf das zwischenmenschliche Beziehungsgeschehen niemals aus dem Blick geraten. Dafür öffnet das Buch die Augen.«

MICHAEL UTSCH

Religionspsychologe, Berlin

JANA SCHMIDT

MIT MARTINA KESSLER

Sie predigten

Wasser und

tranken Wein

Mein Weg aus religiösem Missbrauch in die Freiheit

SCM HänsslerSCM | Stiftung Christliche Medien

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Die Erzählung dieser Lebensgeschichte beruht auf der subjektiven Erinnerung der Autorin, wie sie die Geschehnisse erlebt und wahrgenommen hat, sowie ihren Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit.

Zu ihrem Schutz verwendet die Autorin bei der Erzählung das Pseudonym »Jana Schmidt«.

Alle weiteren Namen (und teilweise Orte) wurden ebenfalls aus Schutzgründen geändert.

ISBN 978-3-7751-7602-6 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6161-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2023 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Titelbild: shutterstock; Anastasiia Pavlyuk

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Inhalt

Über die Autorinnen

Über das Buch

Stimmen zum Buch

Einleitung: Jana Schmidt

Einleitung: Martina Kessler

Prolog

Erste Kontakte

Faszination

Erste Erfahrungen

Jesuserlebnis

Sehnsuchtsort Familie

Rückfall

Bekehrung

Lebensbeichte

Nachwehen

Die Taufe

Festessen für Flüchtlinge

Arbeiten gehen

Besuch meiner Mutter

Die ewige Hilfesuchende

Glaubensgrundlagen für Anfänger

Von Robert erotisiert

Befreiung vom »Geist der Perversion«

Eine neue Welle des Heiligen Geistes

Psychosomatische Reaktionen

Mitarbeiterschaft

Lichtstunde

Große Visionen

Die Band

Der Vollzeitjob

Zurück in den Schoß der Gemeinschaft

Die Schulung

In einem Land Ostafrikas

Wieder daheim

Heilungsveranstaltungen

Prediger und Propheten

Amerika

Zurück in der »alten« Welt

Die Evangelisationsschule

Neue WG und neuer Dienst

Wer ist Gott?

Israel

Der innere Ausstieg

Der physische Ausstieg

Epilog

Nachwort von Martina Kessler

Dank

Anschriftenliste

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einleitung:

Jana Schmidt

Dieses Buch erlebte seine Geburt im schönen Norden Amerikas, bei einem Aufenthalt in dem wirklich beeindruckenden Anwesen meiner ebenso beeindruckenden Freunde. Sie empfahlen mir einfach, meine Erlebnisse zu Papier zu bringen. Vielleicht könne es mir helfen, meine schwere Zeit weiter zu verarbeiten. So ging ich mit ein paar weißen Blättern in den Händen auf die große Terrasse und konnte selbst nicht glauben, in welcher Geschwindigkeit sich Blatt für Blatt zu füllen begann. Dass ein Buch daraus entstehen könnte, hatte ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Sinn. Dennoch, die Sätze purzelten nur so aus mir heraus. Ich schrieb und schrieb. Dabei war ich nicht unkontrolliert, sondern merkte beim Schreiben, dass mein Unterbewusstsein mich schützte und nur in Abständen weitere Erinnerungen freigab. Letztendlich dauerte es zwei bis drei Jahre, weil ich zwischendurch immer wieder Erholungsphasen brauchte. Denn beim Schreiben riss manche längst verheilt geglaubte Wunde schmerzhaft wieder auf. Auch wenn ich ab und zu den Austausch mit engen Freunden suchte, waren es viele einsame Stunden, in denen ich immer wieder vor der Herausforderung stand, das aalglatte Gesicht der Manipulation, mit dem religiöser Missbrauch getarnt ist, als Gewalt sichtbar zu machen.

Mit diesem Buch möchte ich dazu beitragen, dass Menschen für dieses Thema sensibilisiert und darüber aufgeklärt werden. Mein großer Wunsch ist es, Betroffenen zu vermitteln, dass sie nicht allein sind und dass Hilfe für ihre Situation möglich ist. Ich wünsche mir von Herzen, dass Sie durch meine Geschichte hellwach gegenüber Menschen und Gruppen werden, die Ihnen, Ihren Familienmitgliedern oder Freunden den Käfig als Freiheit verkaufen wollen. Mein höchstes Ziel ist es, diejenigen zu ermutigen, die selbst betroffen sind. Glauben Sie mir: Es gibt ein Leben außerhalb solcher Gruppen. Sie können sich wieder ein selbstbestimmtes Leben aufbauen. Dabei werden Sie vermutlich Hilfe und Unterstützung brauchen. Am Ende des Buches finden Sie dazu einige Anschriften. Ich möchte Ihnen Mut machen. Es ist nie zu spät. Ich bin das beste Beispiel dafür.

Sehr wichtig ist mir auch zu sagen, dass es mir in keinster Weise um ein generelles Anprangern oder Verurteilen von freikirchlichen oder charismatisch geprägten Gruppen und Gemeinden geht. Mir ist bewusst, dass es viele Gemeinschaften mit gesunden Strukturen und guten Führungskonzepten gibt, durch deren Dienst und Engagement vielen Menschen geholfen wird. Dem stehe ich mit großem Respekt gegenüber. Den gleichen Respekt wünsche ich mir auch für meine Geschichte und gegenüber anderen Betroffenen, die Ähnliches durchlitten haben oder noch mittendrin stecken.

Zu helfen bedeutet aber auch, über schwarze Schafe im christlichen Umfeld zu reden, anstatt wegzuschauen, Dinge unter den Teppich zu kehren oder zu bagatellisieren. Denn sonst nehmen wir in Kauf, dass weiterhin Menschen verletzt werden. Ich wünsche mir, dass meine Geschichte dazu beiträgt, religiösen Missbrauch besser zu verstehen, damit er erkannt wird und notwendige Hilfe und Veränderung für Betroffene herbeigeführt werden kann.

In diesem Buch habe ich den Namen der Gruppe, in der ich jahrelang religiösen Missbrauch erlebte, sowie die Namen aller Beteiligten geändert. Damit soll nicht zuletzt verhindert werden, dass die hier beschriebenen Erfahrungen als Einzelfall gewertet und nur auf diese eine spezielle Gemeinschaft bezogen werden. Religiösen Missbrauch gibt es an vielen Stellen. Mir ist es wichtig aufzuklären, damit Menschen, die durch religiösen Missbrauch großen Schaden erleiden oder erlitten haben, gestärkt werden und diese Art von Machtmissbrauch abnimmt.

Leider ist religiöser Missbrauch im christlichen Kontext manchmal ein Treibhaus, in dem Ausbeutung wachsen und gedeihen kann. An vielen, an zu vielen Stellen wird Macht durch Menschen ausgeübt, die andere Menschen im Namen Gottes dafür missbrauchen, sich ihre eigenen Träume und Visionen zu erfüllen.

Zum besseren Verständnis meiner Geschichte abschließend noch ein paar kurze Erläuterungen:

Die Gemeinschaft, zu der ich viele Jahre gehörte und die ich hier im Buch als »die Gruppe« oder »die Gemeinschaft« bezeichne, wurde von einem Mann geleitet, den ich Paul nenne. Es gab innerhalb der Gemeinschaft auch Wohngruppen. Die WG, in der ich wohnte, heißt im Buch »die Insel«. Die Leiter der »Insel« nenne ich Robert und Christina.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einleitung:

Martina Kessler

Sie halten ein bewegendes Buch in den Händen. Was Jana erlebt hat, ist schrecklich. Sie beschreibt ihre eindrucksvolle Geschichte des religiösen Machtmissbrauchs, den sie in einem christlichen Werk erlebte – einem Ort, an dem verletzte Menschen heilen sollten. Die tiefe Verletzung, die sie gerade dort erfahren hat, zeigt, dass es nicht ausreicht, belasteten Menschen allein mit viel gutem Willen und einer geistlichen Begründung helfen zu wollen. Ein ums andere Mal bin ich beim Lesen traurig oder auch wütend geworden auf ein System, das es ermöglicht, so mit Menschen umzugehen.

Janas Defizite, die schon in jungen Jahren gewachsen waren, führten zu nachvollziehbaren Sehnsüchten nach Liebe, Annahme, Geborgenheit und Anerkennung. In der Gemeinschaft, in der sie lebte, bekam sie durchaus Zuwendung und Nähe, allerdings in Kombination mit extremer Bevormundung und Kälte. Durch das Prinzip von »Zuckerbrot und Peitsche« wurde sie immer verwirrter, ohnmächtiger und schutzloser. Das alles geschah im Namen Gottes. Eine entsetzliche Vorstellung! Gerade da, wo Gnade und Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen sollten (vgl. Psalm 85,11), erlebte sie Erniedrigung, Manipulation, Unterdrückung, Entmündigung und Machtmissbrauch.

Jana erklärt in ihrem Buch aber auch, was ihr beim Ausstieg aus der Gemeinschaft geholfen hat, und beschreibt ihren fortschreitenden Erkenntnisweg.

Häufig wird in Bezug auf solche Erlebnisse von »geistlichem Missbrauch« gesprochen. Wenn Menschen missbraucht werden, ist dies jedoch immer religiös, weil es keinen Missbrauch geben kann, der geistlich ist. Missbrauch entspringt immer einem religiösen, nie einem geistlichen oder geistgeleiteten Verhalten.

Mein Beitrag zu diesem Buch ist es, Janas Erleben theologisch und seelsorglich aus der Perspektive von religiösem Machtmissbrauch zu kommentieren. Hier und da habe ich deshalb Hintergründe und vertiefende Erläuterungen eingefügt. Beim Kommentieren habe ich Janas, möglicherweise subjektive, Perspektive eingenommen.

Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass religiöser Machtmissbrauch in allen Religionen und Gemeinschaften auftreten kann. Immer dann, wenn die Würde eines Menschen, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder die Freiheit eingeschränkt werden, evtl. auch die Glaubens-, Gewissens-, Religionsfreiheit oder die Freiheit in ihrer Weltanschauung (Grundgesetz, Art. 1) kann religiöser Machtmissbrauch naheliegend sein.

Dabei sind Menschen, die in irgendeiner Weise vorbelastet sind, möglicherweise intensiver betroffen. Aber es kann genauso auch Menschen treffen, die keine problematische Vergangenheit haben, weil missbrauchende Menschen oft intuitiv erkennen, wie sie Menschen unter ihre Kontrolle bringen können. Oft geschieht das nicht über die Schwachpunkte, sondern die Stärken von Menschen werden so umgedeutet, dass es zu einer Verunsicherung kommt.

Janas Geschichte kann zu der Erkenntnis führen, dass Sie oder Ihnen nahestehende Personen auch von religiösem Machtmissbrauch betroffen sind. Am Ende des Buches haben wir daher einige Anschriften zusammengetragen, an die Sie sich wenden können.

Hinweis:

Die Anmerkungen der Co-Autorin Martina Kessler sind in diesem Buch immer als eingerückter serifenloser Text gesetzt.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Prolog

Meine Mutter entband bei meiner Geburt nicht nur mich, sondern zugleich auch ihre Fürsorgepflicht dem neuen Leben gegenüber. Geboren wurde ich als jüngstes von drei Kindern. Unsere Mutter war nicht länger als ein paar Monate Teil unseres Lebens. Mein Vater war und blieb unbekannt. Aufgrund offensichtlicher Vernachlässigung schaltete sich das Jugendamt ein und übergab uns in die Obhut eines Kinderheims, wo ich und mein nächstältester Bruder fast vier Jahre zusammen lebten. Was mit unserem ältesten Bruder geschah, konnte ich nie in Erfahrung bringen.

Schon bald gab unsere Mutter uns Kinder zur Adoption frei. Mit vier Jahren wurde ich von einer Frau adoptiert, allerdings ohne meinen Bruder. Ich erinnere mich noch an den Tag des Abschieds. Mein Bruder, damals fünf Jahre alt, stand oben an einer mir riesig erscheinenden Treppe und schrie:

»Das ist meine Schwester! Sie gehört zu mir! Sie gehört zu mir!«

Mit meinen vier Jahren konnte ich noch nicht wirklich begreifen, was an diesem Tag geschah, aber ich spürte eine Traurigkeit, die mich nicht mehr loslassen wollte.

Meine Adoptivmutter war alleinstehend, und so blieb ich weiterhin ohne Vater. Zwischen meiner neuen Mutter und mir entstand keine positive emotionale Bindung. Oft war ich mir selbst überlassen. Das Gefühl, beschützt und geborgen zu sein, vermisste ich schmerzlich.

In meinem Verhalten glich ich eher einem Jungen als einem Mädchen. Gerne zog ich Lederhosen an und kletterte auf die höchsten Bäume. Dorthin konnte mir meine Adoptivmutter nicht folgen, was ich innerlich feierte. Sie war streng katholisch, und so musste ich jeden Sonntag mit ihr in die Kirche gehen und deswegen ein Kleid tragen. Ich behielt meine Lederhose bis zum Pfarrhaus an und zog das verhasste Kleid erst in der Toilette vor Ort an. Der schönste Moment war für mich, wenn ich am Ende des Gottesdienstes endlich wieder meine geliebte Hose überstreifen konnte.

Weil ich eher wie ein Junge unterwegs war, spürte ich später auch Unsicherheit bezüglich meiner sexuellen Orientierung. Meine Gefühle waren wie ein undurchdringlicher Nebel, und ich wartete darauf, dass er sich eines Tages auflösen würde. Klarheit zu haben, wäre für mich wie ein Geschenk gewesen.

Die Sehnsucht danach, in einer richtigen Familie willkommen zu sein, pochte unermüdlich in meinem Herzen, und ich vermisste es intensiv, keinen Vater zu haben. Die Differenzen mit meiner Adoptivmutter wurden über die Jahre immer größer und unüberbrückbarer.

So verlor ich mich regelrecht in Tagträumereien. Ich erschuf mir in meiner Fantasie einen Papa und eine Mama. In diesen großen und knallbunten Welten lebte ich auf und verschaffte mir damit etwas Erleichterung. Doch jedes Mal erwachte ich aus diesen Träumereien mit einer leeren Seele. Meine Kindheit und Jugend waren geprägt von dem Versuch, einen – meinen – Platz im Leben zu finden. Das permanente Erleben kindlicher Ohnmacht förderte eine unbändige Lawine der Wut nach oben. Wenn der Druck zu groß wurde, verletzte ich mich selbst. Dann schlug ich meine Hände so lange gegen Steinpfosten, bis sie bluteten. Beim Arzt konnte ich die wahren Gründe jeweils gut verbergen.

Als ich älter wurde, kam es auch zu Konflikten mit der Polizei. Mit siebzehn Jahren kam ich sogar für drei Monate ins Gefängnis wegen staatsfeindlicher Äußerungen. Ich hatte, deutlich alkoholisiert, einem Polizisten Witze über Polizisten erzählt. Das führte zum Ausbildungsabbruch. Denn nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis gab es keinen Weg zurück. Mein Leben war nun sichtbar aus den Fugen geraten. Weil ich in der engen Dorfgemeinschaft, in der ich aufgewachsen war, sowieso für ein missratenes Heimkind gehalten wurde, zog ich schließlich in eine andere Stadt.

Auf einmal stand mir eine neue Welt offen. Ich dachte: Ich bin jung und ich kann noch eine Menge in meinem Leben erreichen!

Dann allerdings wurde ich eines Nachts zum Opfer einer Vergewaltigung. Wieder erlebte ich die starken Gefühle von Entwertung. Da ich die Tat noch in derselben Nacht anzeigte, konnte ich auch Details zum Täter mitteilen. Er war der Kopf einer Gang, die sich meistens am Bahnhof aufhielt. Irgendwie muss er von der Anzeige erfahren haben, denn die Gang begann, mich zu verfolgen. Selbst wenn ich bei Freunden übernachtete, wussten sie am nächsten Tag davon. In der Stadt zu sein und bei Freunden unterzukommen, war also für mich und meine Freunde gefährlich.

Da der Alkohol schon länger mein Freund war, half er mir, die Erinnerungen an die Vergewaltigung unscharf zu machen und die schmerzhaften Gefühle zu hemmen. Aber ich fühlte mich permanent in Gefahr. Es setzte mir immer mehr zu, je länger es dauerte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Erste Kontakte

Eines Nachts streifte ich durch die dunklen Straßen meiner Stadt und begegnete einem Mann, den ich ab und zu in der Innenstadt gesehen hatte. Dort hatte er mit seiner Gruppe öfter evangelisiert. Ich wusste, dass er Pastor einer christlichen Gemeinschaft war. Da ich Alkohol getrunken hatte, war meine Zunge locker und ich erwähnte ihm gegenüber einige schwierige Situationen aus meiner Vergangenheit. Er erzählte mir von seinen Kontakten zu einer christlichen Gemeinschaft. Dort könne man mir helfen, meinte er. Die Gruppe nehme Menschen mit allen möglichen Nöten bei sich auf, für Alkohol- und Drogenabhängige gebe es dort auch Therapieangebote. Damit seien sie sehr erfolgreich.

Innerhalb kurzer Zeit arrangierte er für mich einen Termin in dieser Einrichtung, und in meinen dauerbewölkten Geist fielen ein paar Sonnenstrahlen der Hoffnung. Während ich dorthin reiste, sprangen meine Gedanken wie auf einem Trampolin hin und her. Was erwartet mich dort wohl? Welche Menschen werden mir begegnen?

Endlich angekommen wurde ich freundlich von einer Mitarbeiterin empfangen und in einen Aufenthaltsraum geführt. Er gehörte zu einem Haus, in dem Mitarbeitende und Hilfesuchende zusammenwohnen konnten. In dieser »Insel« kümmerte man sich um »gestrandete« Menschen wie mich – so jedenfalls war es mir angekündigt worden.

Nach einer Tasse Kaffee erläuterte mir jemand die Hausordnung mit allen Regeln, zeigte mir einen Plan mit dem üblichen Tagesablauf und eine Wochenübersicht.

Ich staunte über die Strukturiertheit. Da ich seit etwa einem Jahr arbeitssuchend war und meistens ohne Sinn und Ziel in den Tag hineinlebte, bekam ich Zweifel, ob ich das schaffen würde. Auch irritierten mich manche Regeln. Ich

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