Fränkischer Döner (eBook): Kriminalroman
Von Susanne Reiche
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Über dieses E-Book
»Ein mädchenhaft graziler Körper, lang ausgestreckt auf einem Bett aus Laub und regensattem Moos …« Bei einem Morgenspaziergang durch den Nürnberger Volkspark Marienberg stößt Tierschutzpflegehund Calli auf eine notdürftig verscharrte Leiche. Kommissar Kastner und sein Team sind diesmal besonders alarmiert: Meral Özgur, Studentin der Kommunikationswissenschaften und Tochter eines erfolgreichen Imbissmoguls, starb durch einen gezielten Schuss. Eine Hinrichtung? Ein Eifersuchtsdrama? Meral hat via Internet für die Rechte muslimischer Frauen gekämpft und sich erst kürzlich als Lesbe geoutet. Und sie war im dritten Monat schwanger...
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Fränkischer Döner (eBook) - Susanne Reiche
Prolog
Am Dienstagmorgen gegen neun strich der seit Tagen lautlos aus einem zementgrauen Himmel fallende Nieselregen die Segel vor einem Azorenhoch namens Rolf. Ein frischer Westwind riss die Wolken auf und trieb sie vor sich her, die Menschen schüttelten ihre Schirme aus, blinzelten in die Sonne und wagten ein Lächeln.
Es war Anfang September.
Der frühen Stunde zum Trotz machte der Nürnberger Volkspark Marienberg seinem Namen alle Ehre: Auf den Hauptwegen waren Radler, Freizeitsportler und Spaziergänger jeden Alters, Geschlechts und Standes unterwegs, die ganze Stadt schien auf den Beinen, um dem Rest der Sommerferien ein wenig Urlaubsflair abzupressen – die jüngsten Coronamutanten trieben im Ausland die Inzidenzen hoch und im Inland frische Sorgenfalten auf die gelehrten Stirnen der Virologen, die ersten Politiker dachten laut über erneute Ausgangsbeschränkungen nach.
Maike Kovač, mit ihrem Tierschutzpflegehund Calli auf dem Weg in die nördliche Hundezone, hatte von dem Freizeitgetümmel bald genug und schlug den Trampelpfad über das Biotop ein. Der Bund Naturschutz hatte die offenen Sandflächen und den flachen Tümpel für seltene Amphibien angelegt, mit dieser Definition der Zielgruppe aber zu kurz gegriffen: Hoffnungsvolle Nachwuchsingenieur*innen und Naturwissenschaftler*innen standen halb nackt im Wasser, bauten Dämme und fingen Kaulquappen in Plastikeimern, ihre Eltern hielten die Gesichter in die Herbstsonne und ließen die Familienhunde Stöckchen aus dem Wasser apportierten. Das Schild mit der Aufschrift Laichgewässer – Hunde bitte anleinen warf gerade genug Schatten für ihre Picknickkörbe, im Tümpel quakten, von der Zweckentfremdung ihres Habitats scheinbar unbeeindruckt, Frösche und Kröten.
»Calli, bei Fuß!«, befahl Maike, als ihr eine ältere Dame mit violetter Föhnfrisur entgegenkam. Ebenso gut hätte sie den Hund bitten können, eine Gleichung mit drei Unbekannten nach x aufzulösen – er plumpste der Dame vor die Füße und keuchte wie ein Marathonläufer, der das Ziel in persönlicher Bestzeit erreicht hat.
»Ja, so ein Hübscher!« Die Dame klemmte ihre Handtasche zwischen Oberkörper und Ellbogen fest und beugte sich tätschelnd hinunter. »Ja, ganz ein Braver! Ja, wie heißt er denn?«
Maike sagte es ihr.
»Meine Enkelin hat sich neulich auch so einen drolligen Mops gekauft«, verriet die Dame. »Wegen dem Corona und dem Homeoffice … Der heißt Phillipp von der Wachtelburg und hat sogar einen eigenen Instagram-Account.«
»Calli ist eine Französische Bulldogge«, erklärte Maike, der Ordnung halber, und dachte sich ansonsten ihren Teil. Sie studierte im achten Semester Tiermedizin – Fotos von mit Sonnenbrillen und coolen Caps ausstaffierten Möpsen trieben ihren Puls nicht vor Entzücken hoch, und sie hatte so eine Ahnung, was aus den blauäugig angeschafften Lockdown-Wauzis werden würde, wenn Homeoffice endgültig out und Urlaubstrips nach Thailand wieder in wären.
Die Dame kramte in ihrer Handtasche. »Darf er ein Leckerli, der Calli? Ich hab für den Phillipp immer Hundekekse mit Kängurugeschmack dabei …«
Calli warf sich auf den Rücken wie eine Hafendirne beim Anblick eines Fünfzigeuroscheins und schielte unter rotgeränderten Hängelidern hoffend nach oben.
»Danke, besser nicht«, bat Maike. »Calli hat einen BMI von über 40, das ist für einen Hund mit seinen Vorerkrankungen lebensbedrohlich.«
Die Dame richtete sich auf und sah Maike zum ersten Mal an. »Ach! Ist er krank, der Calli? Ja, was hat er denn?«
»Das können Sie sich aussuchen. Extrem kurzschädelige Hunde leiden zeit ihres Lebens unter Herz- und Kreislaufproblemen, chronischer Atemnot und Schluckbeschwerden … Manchen Möpsen fallen buchstäblich die Augäpfel aus dem Schädel, weil sie dort schlicht nicht genug Platz haben.«
Die Dame starrte sie an. Und was stimmt mit dir nicht, fragte ihr Blick. Hattest du eine schwere Kindheit? Bist du sexuell frustriert? Oder macht es dir einfach Spaß, anderen den Tag zu versauen?
Sie strich ihr lila Haar zurecht, wünschte einen schönen Tag und ging ihrer Wege.
Calli sah ihr traurig nach.
*
Auf der Hundewiese tummelten sich die üblichen Verdächtigen – Mali-Herrchen, Foxy-Frauchen, Pauli-Herrchen … nur das Frauchen von JJ und Josie hatte einen eigenen Namen, sie hieß Ute. Die Vierbeiner genossen den Freilauf, die Zweibeiner führten, en passant, Gespräche über biologisch artgerechte Rohfleischfütterung, Agility-Training und Zahnpasta mit Leberwurstgeschmack.
»Und, wie leffts nacherd mibm Calli?« Alf-Herrchen kannte sich mit behinderten Hunden aus, sein hüftlahmer Schäferhund bewältigte die Hunderunde nur noch dank eines eigens angefertigten Rollstuhls.
»Er betrachtet jedes noch so niederschwellige Fitness- und Diätangebot als Tierquälerei«, gestand Maike.
Calli röchelte zustimmend. Alf-Herrchen steckte ihm diskret ein Stück Hausmacher Stadtwurst zu.
»Mer kanns ned derzwinger«, stellte er philosophisch fest.
Ein Feldgehölz markierte das östliche Ende der Hundezone, Patrouillen sicherten den Grenzverlauf: Eltern, deren Kleinkinder jeden Grashalm ableckten, um das Wesen der Dinge zu begreifen, schossen Blicke wie Mörsergranaten herüber, Rentner wiesen in militärischem Ton auf die ab hier geltende Anleinpflicht hin und Radfahrer riskierten lieber einen offenen Schienbeinbruch als zu bremsen, wenn ein übermütiger Vierbeiner Republikflucht beging … Städtisches Grün war eine umkämpfte Ressource, bei deren Verteilung Hundehalter ganz hinten anstanden.
Maike schlug einen Bogen um das Wäldchen. Es war Zeit für den Heimweg, zu Hause wartete ihre Semesterarbeit: Brachyzephalie – erblich bedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen durch eine Überinterpretation von Rassestandards bei Hunden. Ihr Studienobjekt hob am Saum des Wäldchens ein Bein, scharrte, schnüffelte und verschwand im Zwielicht. Maike spähte verblüfft unter die tief hängenden Zweige – eigenmächtige Ausflüge in die Wildnis zählten nicht zu Callis bevorzugten Hobbys.
»Calli?«, rief sie.
Die Bulldogge setzte ihren Weg unbeirrt fort. Mit der Wendigkeit eines leckgeschlagenen Kreuzfahrtschiffes kämpfte sie sich durch Gestrüpp und Gesträuch, umkreiste ein Brombeerdickicht und begann zu bellen.
»Calli, was soll der Scheiß? Komm raus da!« Sie verspürte wenig Lust, durch das tropfend nasse Gehölz zu kriechen, aber nach einer Weile machte sie sich Sorgen – brachyzephale Hunde konnten einen Herzstillstand erleiden, wenn sie sich allzu sehr echauffierten, und das war es, was Calli tat: Sein Gebell nahm einen hysterischen Ton an.
»Verdammte Inzucht«, fluchte Maike und machte sich auf, ihren Schutzbefohlenen wieder in Gewahrsam zu nehmen.
Tag eins/Dienstag/Waldgeist
»Eine junge Frau, Anfang oder Mitte zwanzig. Sie ist seit etwa zwölf Stunden tot.« Dr. Rendlick, die Rechtsmedizinerin, zog ihre Schutzhandschuhe ab und warf sie zusammengeknüllt auf den Boden.
»Jemand hat die Leiche hier abgelegt und notdürftig unter Zweigen versteckt«, ergänzte Martina Götz, die Chefin der Kriminaltechnik. »Ich fürchte, der Dauerregen hat die meisten Spuren zerstört.«
Kastner, Kriminalhauptkommissar im Dezernat Eins des Polizeipräsidiums Mittelfranken, vermied es, die Tote anzusehen. Stattdessen betrachtete er seine Füße – ein Trupp Nacktschnecken, glänzend und fett wie fränkische Pfefferbeißer, schickte sich an, die Plastiküberzieher zu erklimmen, die er auf Martinas Geheiß über seine Straßenschuhe gezogen hatte. »Wissen wir, wer sie ist?«
»Keine Papiere, kein Handy … Aber eine recht auffällige Halskette.« Martina wedelte mit einem Beweismittelbeutel. »Das ist Echtgold, und die Funkelsteinchen sehen wie Brillanten aus.«
Kastner verstand nichts von Juwelen. Jeder halbwegs zungenfertige Blender hätte ihm eine Glasscherbe als Hope-Diamant verkaufen können, weshalb er vom Schmuckkauf prinzipiell die Finger ließ. »Wie nett, ein Notizbuch aus handgeschöpftem Papier«, flötete seine Lebensgefährtin Mirjam, wenn er ihr zum Geburtstag ein kleines Päckchen überreichte, oder: »Das ist ja originell – eine Liveaufnahme von The Fab Chief & his Rotating Ventilators, auf Kassette!« Dabei strich sie sich, wie zufällig, mit ihren unberingten Fingern über das nackte Dekolleté, ehe sie zur Musikanlage ging und Diamonds Are a Girl’s Best Friend von Marilyn Monroe auflegte … Die Halskette der Toten erregte jedoch sein Interesse – nicht, weil der Anhänger in der Herbstsonne glitzerte, sondern weil er etwas darstellte: zwei ineinander verschlungene Handspiegel der Venus. Zwei Frauenzeichen.
Sein Blick wanderte nun doch zu dem mädchenhaftgrazilen Wesen hinüber, das ausgestreckt auf einem Bett aus regensattem Moos lag. Brombeerranken und dunkle Locken umrahmten ein blasses, auf gänzlich ungeschminkte Weise schönes Gesicht, goldbraune Augen starrten blicklos träumend durch die im Westwind zitternden Blätter einer Pappel zu einem Flecken freien Himmels hinauf, über dessen kühles Blau Wolken wie frisch gezupfte Wattebällchen zogen. Eine Elfe, ein Waldgeist aus Shakespeares Sommernachtstraum, nur dass dies ein Albtraum war: Das meergrüne T-Shirt der jungen Frau war blutbefleckt, in ihrem schmalen Brustkorb klaffte ein Loch von der Größe eines Fünfcentstücks.
»Ist das eine Stichwunde?«, fragte er.
Dr. Rendlick zog ihre Maske herunter, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief.
»Ich tippe auf eine Kugel«, sagte sie beim Ausatmen. »Kleines Kaliber. Steckschuss, eine Austrittswunde gibt es nicht.«
Kastner konzentrierte sich wieder auf seine Füße, ehe er die nächste Frage stellte: »Irgendwelche Hinweise auf sexualisierte Gewalt?«
»Die Tote ist vollständig bekleidet, Kampfspuren sind oberflächlich nicht erkennbar … Aber was heißt das schon? Die Zeiten, in denen Opfer von Sexualmördern halb nackt und mit Fremd-DNA unter den Fingernägeln im Straßengraben lagen, sind vorbei, Kastner: Heutzutage benutzen die Arschlöcher K.-o.-Tropfen und wissen dank CSI Miami genau, wie man Spuren beseitigt.«
Bei einem heiteren Beruferaten à la Was bin ich? wäre Dr. Rendlick mit vollem Sparschwein nach Hause gegangen: Ihre Vorliebe für pastellfarbene Kostüme und Drei-Wetter-Taft-Frisuren ließ die Endfünfzigerin wie das Klischee einer Chefsekretärin aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wirken. Dabei beherrschte sie ihr blutiges Handwerk aus dem Effeff, und wenn die Meinungen über sie auseinandergingen, dann allenfalls bezüglich der Frage, ob man ihr Auftreten als sachlich nüchtern oder abgebrüht zynisch empfand. Der Mord an der jungen Frau schien jedoch selbst ihr an die Nieren zu gehen – vielleicht, weil sie selbst zwei Töchter in den Zwanzigern hatte.
Sie schnippte ihre halb gerauchte Kippe weg und gab ihren Mitarbeitern ein Zeichen.
Schmidt und Höffkes hoben die Tote ohne jede Anstrengung in einen Leichensack und zogen den Reißverschluss zu. Ein deprimierendes, endgültiges Geräusch.
Martina tippte Kastner auf die Schulter und deutete zum Hauptweg hinüber, auf dem zwei Streifenwagen, der Spusi-Transporter, ein Leichenwagen des Gerichtsmedizinischen Instituts Erlangen und ein Sanitätsauto parkten. »Die Brünette mit dem Hund hat die Leiche gefunden – Maike Kovač, eine Studentin der Tiermedizin. Falls du mit ihr sprechen möchtest?«
Kastner nickte. Er ließ die Kriminaltechniker ihre Arbeit tun und hoffte, dass sie etwas fanden – einen Fußabdruck, eine Reifenspur, ein Haar oder eine Kippe; irgendetwas, das den Mörder dieses elfengleichen Wesens aus dem Schatten feiger Heimlichkeit ins Licht der Gerechtigkeit zerrte.
*
Die angehende Tierärztin, eine stämmige Person Ende zwanzig mit blassen Wangen voller Aknenarben, in deren Kratern sich Make-up-Reste angesammelt hatten, trug Schulmädchenzöpfe, Bundeswehrhosen und Schnürstiefel. Die Sanitäter hatten ihr eine Rettungsfolie um die Schultern gelegt.
»Calli hat sie gefunden. Er hat gekläfft wie bescheuert … Hören Sie, ich hab die ganze Story schon dem blonden Streifenbeamten erzählt, der meine Personalien aufgenommen hat, ich würde jetzt wirklich gern heimgehen und ein heißes Bad nehmen.«
»Ein Streifenwagen kann Sie nach Hause bringen«, stellte Kastner in Aussicht. »Wenn Sie mir zuvor noch ein, zwei Fragen beantworten?« Er bückte sich und tätschelte unbeholfen den Hund, der wie eine zu heiß gebrühte Presswurst zwischen Maikes Füßen lag – der Weg ins Herz eines Hundebesitzers führte über den Vierbeiner, das hatte er zumindest irgendwo gelesen. »Der Calli hat also gebellt, und Sie haben nachgesehen, warum?«
»Ja. Also nein, eigentlich wollte ich ihn nur da rausholen, weil ich Muffe hatte, dass er in Ohnmacht fällt.«
Kastner, der mit den Gesundheitsproblemen brachyzephaler Hunderassen in etwa so vertraut war wie mit kosmischer Plasmaphysik, hielt das für einen Scherz. Er deutete ein Lächeln an, zu mehr fühlte er sich angesichts der Umstände nicht imstande.
»Zuerst sind mir die knallgelben Sneakers ins Auge gestochen«, fuhr Maike fort. »Ich war kurz davor, einen davon aufzuheben, weil na ja – ich kenne das Label, das sind Designerschuhe. Da blättern Sie locker zweihundertvierzig Euro für hin.«
Kastner bezweifelte, dass er das tun würde. »Sie dachten, jemand hätte die Schuhe weggeworfen und es könnte Ihre Größe sein?«
Maike lief rot an. »An eine Leiche hab ich jedenfalls nicht gedacht, nicht mal, als ich gecheckt hab, dass Füße in den Schuhen stecken, dass die einer anhat. Wer rechnet denn damit, am helllichten Tag am Marienberg eine Leiche zu finden? Ich hab eher an einen Vollrausch oder ein Drogenkoma gedacht, weil, na ja, manchmal hängen Jugendliche hier ab, trinken billigen Fusel von der Tanke und werfen irgendwelche Pillen ein.«
Kastner nickte. Die Coronalockdowns hatten den Trend zum geselligen Naturerlebnis verstärkt, neu war das Phänomen nicht. Mit einer Mischung aus Wehmut und Ekel erinnerte er sich an die Gelage seiner eigenen Sturm-und-Drang-Zeit, die bei Sonnenuntergang im Pegnitzgrund mit handwarmer Whiskey-Cola, Roth-Händle ohne Filter und tiefgründigen Gesprächen begonnen und vor Sonnenaufgang am U-Bahnhof Wöhrder Wiese mit würdelosem Torkeln, Lallen und Würgen geendet hatten.
»Ich hab die Zweige weggezogen, um nachzusehen, ob jemand Hilfe braucht«, schloss Maike. »Und da lag sie, schön wie das schlafende Dornröschen. Ich fürchte, ich hab mich nach einem Prinzen umgesehen, der sie wieder wachküsst, bevor ich das Blut auf ihrem T-Shirt gesehen und den Notruf gewählt hab. Das ist komplett bescheuert, meinen Sie nicht? Ich studiere Tiermedizin, da sollte man doch meinen …« Maike schüttelte über sich selbst den Kopf.
»Sie standen unter Schock«, vermutete Kastner. »Gehen Sie öfter hier mit dem Hund spazieren?«
Maike nickte.
»Waren Sie gestern auch hier?«
»Gestern? Ja. Am frühen Abend, gegen sechs, halb sieben.«
»Ist Ihnen dabei etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Maike sah ihn fragend an.
»Hat Calli gestern schon gebellt? Haben Sie rund um das Wäldchen etwas beobachtet, das Ihnen seltsam vorkam? War irgendwo ein Wagen geparkt, der nicht zum städtischen Fuhrpark gehört?«
Maikes Unterlippe begann zu zittern. »Heißt das, sie lag die ganze Nacht hier? Im Regen? Oh mein Gott …«
Sie unterbrach sich, weil Schmidt und Höffkes mit einem Blechsarg aus dem Wäldchen traten.
»Du musst höher, Höffkes«, fauchte Schmidt.
»Wenn ich muss, geh ich aufs Klo«, schnappte Höffkes zurück. »Und wer die Knie nicht beugen kann, ist im öffentlichen Dienst definitiv fehl am Platz!«
Mit finsteren Gesichtern trugen die beiden den Sarg über die Wiese und hoben ihn in den Leichenwagen.
»Oh mein Gott«, wiederholte Maike, ihr Gesicht nahm einen Grünton an. »Rechtsmedizin, Obduktion … Wie grauenhaft das alles für die Özgurs sein muss!«
»Für wen oder was?«, fragte Kastner verdattert.
Maike starrte ihn an. »Für die Özgurs? Merals Eltern?«
Kastner brauchte eine Weile, um eins und eins zusammenzuzählen.
*
»Ja, das ist korrekt.« Felix Wernreuther zückte sein Smartphone und scrollte mit wieselflinken Daumen durch seine digitalen Notizen: »Laut Aussage der Zeugin Maike Kovač handelt es sich bei der Toten um eine gewisse Meral Ötzgur …«
»Ösgur – das türkische z wird als s gesprochen«, warf Kastner ein, der sein Wissen dem Sohn einer Nachbarfamilie namens Yilmaz verdankte.
»Sag ich doch. Die Kovač behauptet weiter, die Özgurs hätten einen Schrebergarten in der Kurt-Ahles-Anlage an der, äh, Braillestraße. Das muss gleich hier ums Eck sein.«
»Und wann genau wolltest du das jemandem mitteilen?«
Wernreuther steckte sein Smartphone wieder ein. »Ich wollte die Gerüchte erst verifizieren, bevor ich dich damit behellige.«
»Und? Haben wir eine Wohnadresse? Eine Telefonnummer?«
»Von wem jetzt – von den Türken? Nein, damit konnte die Kovač nicht dienen. Die kennt die nur flüchtig über den Gartenzaun – ihr Schwippschwager hat wohl die Parzelle schräg gegenüber. Sie hat mir geraten, bei der Kleingartenverwaltung nachzufragen, aber da geht nur die Mailbox ran.« Wernreuther grinste breit. »Das Büro ist jeden zweiten Samstag im Monat zwischen zehn und zwölf besetzt – da kriegst du eher einen Termin für ein persönliches Kritikgespräch beim Vorstandschef der Deutschen Bahn!«
Felix Wernreuther hatte im vergangenen Jahr eine Schulung für den verkürzten Aufstieg in den höheren Dienst absolviert. Nach bestandener Abschlussprüfung hatte der frischgebackene Kommissarsanwärter bei einem Schluck Prosecco mit Polizeidirektor Wismeth und der Belegschaft des Präsidiums offenbart, wo er sich in Zukunft