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Das Drehbuch-Tool: Charaktere und Struktur gestalten mit dem Enneagramm
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eBook273 Seiten2 Stunden

Das Drehbuch-Tool: Charaktere und Struktur gestalten mit dem Enneagramm

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Über dieses E-Book

Das Enneagramm beschreibt neun verschiedene Charakterprofile und leitet daraus eine Vielzahl von Beziehungskonstellationen und Persönlichkeiten ab.
Jens Becker erschließt die legendäre Typenlehre aus der Antike für die Drehbuchschreibenden von heute. Er entdeckt sie neu als Instrument zur Entwicklung dynamischer Stoffe und Figuren. In seine Überlegungen zum Enneagramm fließen Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie mit ein.
Jens Beckers Drehbuch-Tool hilft, glaubhafte Charaktere und Ensembles zu entwerfen. Darüber hinaus enthält es ein eigenes Strukturmodell, mit dem fesselnde und bewegende Handlungsstränge entwickelt werden können.
Wenn Sie den nächsten Schritt Ihrer Figuren nicht kennen, wenn Ihr Plot zu spannungsarm ist, wenn es Ihren Charakteren noch an Tiefe mangelt, wird Ihnen dieses Buch den Weg weisen. Jens Becker bereitet das Enneagramm für alle auf, die Drehbücher schreiben oder die an einem Roman, einer Erzählung oder einem Theaterstück arbeiten.
Im Buch finden Sie außerdem den Zugang zu einer Website mit zahlreichen Vertiefungen und einigen szenischen Beispielen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Apr. 2023
ISBN9783946930082
Das Drehbuch-Tool: Charaktere und Struktur gestalten mit dem Enneagramm
Autor

Jens Becker

Jens Becker wurde 1963 in Berlin geboren. Er lebt in Mecklenburg-Vorpommern. Von 1984-1992 studierte er Filmregie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Seitdem drehte und schrieb er über 70 Spielfilme, Dokumentarfilme, Dokudramen, Drehbücher und Sachbücher, unter anderem Adamski, Tatort, Henker - Der Tod hat ein Gesicht, Krieg in der Arktis, Nellys Abenteuer, Erich Mielke - Meister der Angst und 1918. Aufstand der Matrosen. Außerdem arbeitet er als Dramaturg und Script Consultant für Filme und Serien. Wichtige Auszeichnungen: Preis der Jury beim Max-Ophüls-Preis 1994, Förderpreis Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste 1994, Journalis- tenpreis Thüringen 2003, Grimme-Preis 2011, Gryphon Award Giffoni 2016. Er ist Mitglied im Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD) und im Verband für Film- und Fernsehdramaturgie (VeDRA). 1993-1994 war er Meisterschüler an der Akademie der Künste Berlin bei Wim Wenders. Von 2004 bis heute unterrichtet er als Professor für Drehbuch an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf.

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    Buchvorschau

    Das Drehbuch-Tool - Jens Becker

    Foto: Dominik Kollang

    Jens Becker wurde 1963 in Berlin geboren. Er lebt in Mecklenburg-Vorpommern.

    Von 1984–1992 studierte er Filmregie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg. Seitdem drehte und schrieb er über 70 Spielfilme, Dokumentarfilme, Dokudramen, Drehbücher und Sachbücher, unter anderem ADAMSKI, TATORT, HENKER – DER TOD HAT EIN GESICHT, KRIEG IN DER ARKTIS, NELLYS ABENTEUER, ERICH MIELKE –

    MEISTER DER ANGST und 1918. AUFSTAND DER MATROSEN. Außerdem arbeitet er als Dramaturg und Script Consultant für Filme und Serien.

    Wichtige Auszeichnungen: Preis der Jury beim Max-Ophüls-Preis 1994, Förderpreis Kunstpreis Berlin der Akademie der Künste 1994, Journalistenpreis Thüringen 2003, Grimme-Preis 2011, Gryphon Award Giffoni 2016.

    Er ist Mitglied im Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD) und im Verband für Film- und Fernsehdramaturgie (VeDRA). 1993–1994 war er Meisterschüler an der Akademie der Künste Berlin bei Wim Wenders. Von 2004 bis heute unterrichtet er als Professor für Drehbuch an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf (früher „Hochschule für Film und Fernsehen).

    Bitte besuchen Sie auch diese Websites:

    www.drehbuch-tool.de

    www.jensbecker.info

    AUS FREUDE AM DENKEN!

    Schriften zu dramaturgischen und filmwissenschaftlichen Aspekten

    Wir sind der festen Überzeugung, dass eine gelungene Stoffentwicklung maßgeblich für gute Filme und Serien ist und dass man nie genug darüber wissen kann.

    Die Master School Drehbuch bietet seit 1995 Seminare und Lehrgänge in den Bereichen Drehbuchschreiben und Dramaturgie an. Der stets angeregte Austausch im Kolleg:innenkreis und unter den Freund:innen der Schule war unsere Motivation, im Jahr 2015 die Master School Drehbuch EDITION zu gründen.

    Es macht uns Freude, tiefer in dramaturgische und filmwissenschaftliche Themen einzusteigen. Wir finden es wichtig, unser Know-how anderen zugänglich zu machen.

    INHALT

    VORWORT

    VORFILM

    1. Mensch und Figur

    2. Individualität und Gruppenverhalten

    2.1 Freiheit und Norm

    2.2 Geschlechtsunterschiede und Geschlechterrollen

    2.3 Erziehung

    3. Selbsterkenntnis und Wahrnehmungslücken

    3.1 Stereotyp und Vorurteil

    3.2 Dreiteilung der Seele: Kognition, Emotion, Motivation

    3.3 Die Faszination des Bösen und der Macht

    4. Zögern und Handeln

    HAUPTFILM

    5. 1. AKT: CHARAKTERMODELL

    5.1 Vom Problem der Glaubwürdigkeit

    5.2 Wissenschaftliche und esoterische Ansätze

    5.3 Das Enneagramm als empirisches Erkenntnismodell

    5.4 Das Enneagramm-Charaktermodell in der Übersicht

    5.5 Das Enneagramm-Charaktermodell im Detail

    Charakter 1 – Perfektionisten / Idealisten / Dogmatiker

    Charakter 2 – Helfer / Fürsorgliche / Besitzergreifende

    Charakter 3 – Macher / Dynamiker / Blender

    Charakter 4 – Seismografen / Individualisten / Melancholiker

    Charakter 5 – Beobachter / Denker / Geizige

    Charakter 6 – Loyale / Skeptiker / Ängstliche

    Charakter 7 – Hedonisten / Optimisten / Maßlose

    Charakter 8 – Bosse / Kämpfer / Triebhafte

    Charakter 9 – Vermittler / Friedliebende / Unentschlossene

    5.6 Praktisches Anwendungsbeispiel

    6. 2. AKT: STRUKTURMODELL

    6.1 Das Enneagramm-Strukturmodell in der Übersicht

    6.2 Das Enneagramm-Strukturmodell im Detail

    Step 1 – Anfang

    Step 2 – Störung

    Impuls 3 – Herausforderung

    Step 4 – Widerstand

    Step 5 – Optimieren

    Impuls 6 – Höhepunkt

    Step 7 – Erwachen

    Step 8 – Energie

    Impuls 9 – Entscheidung

    Step 1 – Ende

    7. 3. AKT: ANALYSEMODELL

    7.1 Analyse Billy ELLIOT

    7.2 Analyse ZIEMLICH BESTE FREUNDE

    7.3 Analyse ANTICHRIST

    7.4 Analyse LOST IN TRANSLATION

    7.5 Analyse BABEL

    7.6 Analyse TRIANGLE OF SADNESS

    7.7 Analyse BRIDGERTON (Staffel 1)

    ABSPANN

    Danksagung

    Literatur

    Übersicht: Enneagramm-Charaktermodell

    Übersicht: Enneagramm-Strukturmodell

    VORWORT

    Sagen lassen sich die Menschen nichts;

    aber erzählen lassen sie sich alles.

    Bernard von Brentano

    Die Welt ist voller Geschichten, die erzählt werden wollen. Komische, tragische, absurde, aufregende, provokante, lustvolle, authentische und versponnene. Immer wieder dieselben Geschichten. Und doch immer wieder neu.

    Wenn ich erzähle, bin ich dicht bei anderen Menschen und dicht bei mir. Ich erfinde mir die Welt neu und erkenne mich darin selbst. Was kann schöner sein?! Über meinem Schreibtisch hängt ein Spruch:

    A pencil and a dream can take you anywhere.

    Ich schreibe über alles, was mich beschäftigt. Manche Geschichten entstehen so über Nacht, andere brauchen viele Jahre. Ich kann es mir als Autor nicht aussuchen, was die Geschichten mit mir vorhaben. Ich lasse es einfach zu, was bleibt mir übrig. Vom Schreiben zu leben, heißt auch, über das Schreiben nachzudenken.

    Wie kann man die Geschichte pointierter erzählen, welche Eigenschaft braucht diese Protagonistin zwingend und welche dunkle Seite hat jene Nebenfigur?

    Wer regelmäßig schreibt, wird daher mit der Zeit auch zum professionellen Leser¹. Das lässt sich nicht vermeiden. Man wächst zugleich an den eigenen Fehlern und lernt aus 2500 Jahren Narrationsgeschichte.

    Das Regelwerk des Erzählens heißt Dramaturgie. Was ich an der Dramaturgie liebe? Dass sie mir zugleich einen Halt gibt und Bewegungsfreiheit. Ich kann mich an die Regeln halten und wenn ich sie kenne, tragen sie mich durch Schreibkrisen. Aber wie lustvoll ist es auch, sie gekonnt zu verletzen. Und das geht, denn der Horizont narrativer Möglichkeiten will ständig erweitert werden, die Regeln wollen übertreten werden. Und Wege entstehen beim Gehen!

    Einer dieser Wege hat mich vor fast zwanzig Jahren zum Enneagramm geführt. Durch eine Empfehlung las ich DAS ENNEAGRAMM: DIE 9 GESICHTER DER SEELE von Richard Rohr und Andreas Ebert. In diesem Typenmodell erkannte ich sofort ein sinnvolles Tool, nach dem ich schon lange gesucht hatte. Ich war überzeugt, dass es mir helfen könnte, komplexe und glaubhafte Charaktere zu entwickeln. Allerdings kam es aus einem christlichen Kontext und nicht aus einem dramaturgischen. Also begann ich selbst, es für die Drehbucharbeit zu adaptieren.

    Zur Berlinale 2011 erschien im VISTAS Verlag meine Lehr-DVD FIGUREN UND CHARAKTERE, ein Werkzeug für Drehbuchautoren. Es war die erste Veröffentlichung in Deutschland, bei der das Enneagramm auf dem Gebiet der Dramaturgie zielgerichtet für die Filmstoffentwicklung angewandt wurde. Sie erschien nicht als klassisches Lehrbuch, sondern als Lehr-DVD mit einem ausführlichen Booklet, um das Enneagramm-Schema interaktiv und mit Filmbeispielen anschaulich zu präsentieren.

    Seitdem sind mehr als zehn Jahre vergangen, in denen das Enneagramm von vielen Autoren und Dramaturgen beachtet, diskutiert und als Arbeitsinstrument angewandt wurde. Ich freue mich sehr, dass es sich als Werkzeug für die dramaturgische Arbeit so gut bewährt hat. Unterdessen habe ich mir oft die Frage gestellt, ob sich das Enneagramm wohl auch für ein Strukturmodell eignen würde. Es wäre doch wunderbar, wenn man Figuren und Strukturen in einem Modell analysieren und gestalten könnte. Ein solches Enneagramm-Strukturmodell aber hätte nur Sinn, wenn es gegenüber den bereits bekannten Strukturmodellen auch einen Mehrwert böte.

    Im Jahr 2013 fand ich heraus, wie dieses Strukturmodell beschaffen sein müsste und veröffentlichte das Ergebnis 2014 bei epubli im E-Book DREHBUCH-TOOL ENNEAGRAMM 2.0. Darin habe ich außerdem die Hauptcharaktere und die Erzählstruktur einiger bekannter Filme analysiert, um die Anwendung des Enneagramms in der dramaturgischen Praxis exemplarisch zu demonstrieren.

    Viele Diskussionen in der Filmbranche, im Verband für Film- und Fernsehdramaturgie VeDRA, im Verband der Drehbuchautoren VDD und an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf" inspirierten mich auch nach der zweiten Veröffentlichung, und meine dramaturgische Praxis mit Enneagramm-Analysen schärfte meinen Umgang mit dem Modell weiter, zum Beispiel bei den TV-Serien SoKo MÜNCHEN, SOKO LEIPZIG, IN ALLER FREUNDSCHAFT oder auch bei WISHLIST / Staffel 2 für Radio Bremen und Funk.

    Über die Jahre sammelten sich auf meinem Schreibtisch weitere zahlreiche Ideen, Zeitungsartikel und Exzerpte – neue Puzzleteile aus der Dramaturgie, der Psychologie und Soziologie. Sie bereichern nun auch diese überarbeitete Ausgabe, die im Vergleich zu den vorherigen Fassungen noch einmal ausführlicher und um einige komplett neue Analysebeispiele erweitert worden ist. Für das bewährte interaktive Enneagramm-Schema und die Beispielfilme gibt es eine Website, zu der Sie mit dem Kauf dieses Buches einen exklusiven Zugang bekommen.

    Website: https://enneagramm.masterschool.de/

    Passwort: MSDdbt21

    Bitte nutzen Sie diese Möglichkeit und klicken Sie sich auf der Website durch die Charaktere. Schauen Sie auch die drei Beispielfilme und die Interviews mit den Figuren an. Nichts vermittelt die Sichtweise der neun Grundcharaktere des Enneagramms so anschaulich wie diese Interviews im Kontext mit den Beispielfilmen!

    Ich wünsche Ihnen nun mit diesem Buch viele erhellende Erkenntnisse, gern auch neue, daraus entstehende Fragen und gutes Gelingen beim Erproben und Anwenden des Enneagramms in Ihrer eigenen Arbeit.

    Jens Becker


    ¹ Wegen der besseren Lesbarkeit verzichtet dieses Buch auf Gendersternchen, Unterstriche oder das Binnen-I. Wenn bei personenbezogenen Substantiven die männliche Sprachform gewählt wird, ist dies natürlich geschlechtsneutral zu verstehen.

    VORFILM

    Dieses Kapitel erzählt nichts über Figuren, aber viel über die Natur

    des Menschen. Wenn Sie zu ungeduldig sind, können Sie den Vorfilm

    auch überspringen. Sie werden den Hauptfilm trotzdem verstehen.

    Aber vielleicht verpassen Sie etwas!

    Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Sie kennen diese alte Weisheit vielleicht. Auf unser Thema bezogen bedeutet sie, bevor wir uns tiefer mit Figuren befassen können, sollten wir uns mit der Natur des Menschen beschäftigen. Denn Figuren bilden doch Menschen ab, oder?

    1. MENSCH UND FIGUR

    Wir müssen immer klar unterscheiden zwischen Menschen und Figuren. Während Menschen von unendlich vielen Einflüssen geprägt sind, sehr vielfältig handeln können und kompliziert strukturiert sind, verhält sich das bei Figuren völlig anders. Sie können niemals so komplex wie Menschen sein, sondern täuschen das nur vor. Wir erliegen nur zu gern der Illusion, dass die Figuren auf der Leinwand oder dem Bildschirm echte Menschen seien, denn diese Verabredung zwischen Filmschöpfern und Zuschauern ist ein wesentlicher Aspekt des Mediums.

    Wenn wir das nicht genau wüssten, dann könnten wir die Filme vielleicht nicht ertragen, wenn sie besonders grausam sind oder wenn die Figuren an ihre Grenzen geführt werden. Wir sehen ihnen beim Stolpern, beim Scheitern und wieder Aufstehen zu. Wir leiden und freuen uns mit ihnen, weil wir anhand unserer eigenen Lebenserfahrungen ermessen, welche Intensität, Fallhöhe und Konsequenzen der Konflikt hat, den wir in der Story gerade miterleben dürfen.

    Für diesen spezifischen Moment der Identifikation zwischen Zuschauer und Figur hat Aristoteles in seinem Grundlagenwerk POETIK den Begriff Katharsis geprägt. Die Katharsis möge der seelischen Reinigung dienen, so Aristoteles, indem wir auf ungefährliche Weise Jammer und Schmerz durchleben. Gotthold Ephraim Lessing hat in seiner HAMBURGISCHEN DRAMATURGIE von Mitleid und Furcht gesprochen, die den Zuschauer moralisch bessern solle. Warum funktioniert dieses System so gut, jahrtausendelang? Weil wir im Theater, im Spielfilm, in der Serie im weitesten Sinne immer über uns erzählen, über uns Menschen.

    Wir durchleben unsere Ängste, unsere Abgründe, unsere Hoffnungen wie in einem Spiegel.

    Ein moderner Erneuerer der Dramaturgie jedoch, Bertolt Brecht, hielt nicht viel von Einfühlung. Er verachtete die Katharsis und wollte stärker das Denken der Zuschauer herausfordern. Dafür fand er ein radikales Mittel – das Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle mittels Durchbrechen der vierten Wand, der zum Zuschauer. Diesen Effekt nannte Brecht Verfremdung. Indem die Darsteller das Publikum direkt ansprechen, verlassen sie das Stück und die Spielverabredung. Hinter der Figur X wird plötzlich der Schauspieler Y sichtbar.

    Diese Brechtsche Entzauberung findet im Film nur selten statt. Warum eigentlich? Vielleicht weil die Kunst des Films stärker noch als das Theater eine Abbildung der Realität suggeriert und genau daraus ihre Wirkungskraft gewinnt. Diese Kraft zu schwächen, hält das Medium nur in besonderen Augenblicken oder Konstellationen aus. Ein solcher Ausnahmemoment war zum Beispiel im Jahr 1940 das Heraustreten von Charlie Chaplin aus seiner Rolle am Ende des Films DER GROSSE DIKTATOR. Charlie, der sich als Filmfigur bis dahin auch standhaft geweigert hat zu sprechen, hält plötzlich eine minutenlange Rede an die Menschheit. Indem Chaplin direkt in die Kamera blickt, also seine Zuschauer anschaut, wird hinter seiner Maske der Schauspieler Charlie Chaplin sichtbar. Er hält eine so grundlegende, ergreifende Rede, dass es nicht verwundert, wenn diese Szene zugleich die letzte für diese außergewöhnliche Filmfigur wird. Als der Mensch Chaplin sichtbar wurde, musste die Filmfigur verschwinden.

    Über 70 Jahre später schaut Kevin Spacey als Francis Underwood in der Serie HOUSE OF CARDS in die Kamera. Er tut dies recht oft und es zeigt sich, dass die Verfremdung nicht mehr so extrem wirkt, wie noch zu Chaplins Zeiten. Der Mensch gewöhnt sich eben an alles, auch an postmoderne Erzählweisen.

    Dafür entsteht heute mit dem Aufkommen von interaktiven Games und der Verbreitung von Virtual Reality ein ganz neues Level für audiovisuelle Erzählungen: Die Zuschauer werden zu Usern und damit selbst zum Teil der Handlung. Unser Publikum verlässt die Sitze und betritt die Bühne. Es verschmilzt in Rollenspielen interaktiv mit den Figuren. Die User suchen sich ihre Rollen nicht nur aus, sie gestalten sie sogar, im Charakter und im Handeln. Was für ein großer Schritt, was für spannende Chancen und Herausforderungen für die Kunst der Narration!

    Gerade weil das Verhältnis zwischen Mensch und Figur in der Postmoderne also offensichtlich immer komplexer wird, fangen wir unsere Überlegungen ganz von vorn an – beim Menschen.

    2. INDIVIDUALITÄT UND GRUPPENVERHALTEN

    Alles ist Schwingung. Ständig ziehen Menschen einander an oder stoßen einander ab. Wir sind immer Teil einer Gruppe, sogar gleichzeitig Teil von vielen Gruppen. Ich gehöre zum Beispiel zu den Europäern, zu den Deutschen, zu den Männern, zu den Vätern, zu den Künstlern, zu den Kaffeeliebhabern, zu den Autofahrern, zu den Fans von Tim und Struppi, zu den ... na und so weiter. Und dabei lege ich großen Wert auf meine Individualität!

    Die Frage ist: Können wir überhaupt individuell sein, wenn wir zugleich immer auch Gruppenmitglieder sind? Ich saß einmal vor einer Seminargruppe an der Filmuniversität Babelsberg, ein Ort, an dem individuelle Selbstverwirklichung ein hohes Gut ist. Während die Gruppe an einer Aufgabe schrieb, fiel mir auf, dass alle diese Individualisten schwarz gekleidet waren und silberne Notebooks vor sich hatten mit einem leuchtenden Apfel darauf. Wirklich alle.

    Wie ist das einzuordnen?

    Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Menschseins. Wir sind Teil von Gruppen, weil wir Bestätigung suchen für ganz wesentliche Schwingungen in uns, man könnte sagen: für unser Weltbild. Wir definieren uns durch diese Gruppenzugehörigkeit und reduzieren dadurch unsere Unsicherheit. Eine Gruppe kann unserem Leben einen Sinn geben, einen Halt. Sie verschafft uns Bindung an andere Menschen, denn wir sind soziale Wesen. Und was ist mit den

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