Irrfahrten: Ein Lesebuch tragikomischer Geschichten aus der griechischen Mythologie
Von Christoph Hübner
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Über dieses E-Book
Christoph Hübner
Christoph Hübner machte schon während seiner Schulzeit auf dem humanistischen Gymnasium Bekanntschaft mit den Geschichten der griechischen Mythologie als willkommene Abwechslung zu dem trockenen Stoff der alten Sprachen. Als Student der Theologie, Pädagogik und Philosophie blieb sein Interesse an altertumswissenschaftlichen Fragen ungebrochen. Auf Reisen nach Griechenland und Italien erkundete er die antiken Fundstätten. Sein beruflicher Schwerpunkt unterlag jedoch eher den Zwängen des "Brotberufs" und richtete sich auf bildungs- und sozialpolitische Themen der Erwachsenenbildung. Nach Promotion, Forschungsarbeit und Fachpublikationen war er als Professor für Wirtschaft (FHS) tätig. Nach Eintritt in den "Ruhestand" widmete er sich ganz dem privaten Studium des klassischen Altertums, speziell der Kulturgeschichte Griechenlands, mit dem Schwerpunkt "griechische Mythologie".
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Irrfahrten - Christoph Hübner
Zum Autor
Christoph Hübner machte schon während seiner Schulzeit auf dem humanistischen Gymnasium Bekanntschaft mit den Geschichten der griechischen Mythologie als willkommene Abwechslung zu dem trockenen Stoff der alten Sprachen. Als Student der Theologie, Pädagogik und Philosophie blieb sein Interesse an altertumswissenschaftlichen Fragen ungebrochen. Auf Reisen nach Griechenland und Italien erkundete er die antiken Fundstätten.
Sein beruflicher Schwerpunkt unterlag jedoch eher den Zwängen des „Brotberufs und richtete sich auf bildungs- und sozialpolitische Themen der Erwachsenenbildung. Nach Promotion, Forschungsarbeit und Fachpublikationen war er als Professor für Wirtschaft (FHS) tätig. Nach Eintritt in den „Ruhestand
widmete er sich ganz dem privaten Studium des klassischen Altertums, speziell der Kulturgeschichte Griechenlands, mit dem Schwerpunkt „griechische Mythologie".
INHALT
Vorwort
Teil I
Geschichten aus dem vorhomerischen Sagenkreis
Cheiron – Argonauten – Theseus – Daidalos
Kapitel 1: Cheiron – König der Kentauren
Fluch und Segen einer Götterhochzeit
Tod des unsterblichen Cheiron
Kapitel 2: Die kuriose Weltreise der Argonauten
Jason – der Mann mit der einen Sandale
Aufregende Begegnungen auf Lemnos
Ein folgenreicher Wettstreit
Faustkampf auf Leben und Tod
Die Rettung des blinden Sehers Phineus
Weiterfahrt mit tödlichen Hindernissen
Ein goldenes Fell geht auf Reisen
Brudermord und Sühne
Die Göttin Thetis greift ein
Nothochzeit auf Korkyra
Sirenengeheul
Eine ganz unerfreuliche Rückkehr
Kapitel 3: Legenden um den Minotaurus von Kreta
Daidalos – der Baumeister des Königs
Theseus und Ariadne gegen den Minotaurus
Daidalos und Ikaros – Flucht auf Flügeln
Teil II
Geschichten aus dem trojanischen Sagenzyklus
Kapitel 1: Wie der Trojanische Krieg begann …
Makabre Kriegsvorbereitungen
Eine illustre Heerschau
Arglistiges und Listiges im Vorfeld
Kapitel 2: Das tragische Leben des Helden Achilleus
Thetis und Achilleus
Der Zorn des Achilleus
Allen Friedensangeboten zum Trotz
Das tödliche Täuschungsmanöver des Patroklos
Der Sieg des Achilleus gegen Hektor
Wandlung und Tod des Helden
Kapitel 3: Der weise Nestor vor Troja
Ein alter Kämpfer führt Regie
Wer war Nestor? – Ein Held mit viel Eigenlob …
… aber auch ein Mann von gehobener Lebensart
Macht schlägt Stärke
Wer wagt, gewinnt
Herrsche mit Rat und Tat
Verwandtschaft verpflichtet
Ein ultimativer Ratschlag an Patroklos
Kapitel 4:Thersites, ein Rebell ohne Fortune
Erster Auftritt: Schmerzhafte Abrechnung mit Agamemnon
Zweiter Auftritt: Schmähung des Achilleus mit ernstem Ausgang
Kapitel 5: Viel Ruhm für Diomedes im Ränkespiel der Götter
Erster Schauplatz Schlachtfeld
Diomedes und Aphrodite
Zweiter Schauplatz Olymp: Der Komplott der Göttinnen
Dritter Schauplatz Schlachtfeld Diomedes und Ares
Vierter Schauplatz Olymp: Ares’ schmähliche Wehklage
Epilog
Kapitel 6: Vom Misserfolg einer weiblichen Kriegslist
Heras List
Der verführte Zeus verschläft den Krieg
Der Kriegsplan des Zeus
Kapitel 7: Szenen aus dem Leben der schönen Helena
Das unvermeidliche Ende Trojas
Kapitel 8: Die amouröse Irrfahrt des Odysseus
Die Läuterung der Zauberin Kirke
Kirkes Vermächtnis und die Rache des Gottes Helios
Die bittere Enttäuschung der Nymphe Kalypso
Nausikaa – die letzte Versuchung
Penelope – Späte Genugtuung für die kluge Frau
Odysseus gewinnt Penelope zurück
Teil III
Anekdoten von Göttern, Helden und anderen Schelmen
Der Menschenfreund Prometheus
Hekate – nicht nur die Göttin der Magie
Vorbemerkung
Apollon – auf dem Weg zum Gott des Lichts und der Musik
Die „Untaten" des jungen Hermes
Hephaistos – der hinkende Schmiedegott
Aphrodite in flagranti
Die unfeine Erfindung der Panflöte
Wie die Aulosflöte von Athene an Marsyas kam
Orpheus – sein Gesang betörte Tiere und Bäume
Bellerophontes auf dem fliegendem Pferd
Otos und Ephialtes – Sturm auf den Olymp
Teil IV:
Zwei Essays zur antiken Mythenrezeption
Über die Musen im griechischen Mythos
Herodot zum Frauenraub
Von der musischen zur musikalischen „Begeisterung"
Wer waren die Musen?
Die Musen in Homers Werk
Die Musenweihe des Hesiod
Exkurs zum mythologischen Glauben der Griechen
Philosophie als „trefflichste Form der Musik"
Der Mythos von den Zikaden
Die Musik der Musen
Herodot zum „Frauenraub" – ein antiker Historikerstreit
Literaturverzeichnis
Glossar
Die wichtigsten Götter
Die wichtigsten Heldenfiguren
VORWORT
Wer sich heutzutage mit den Geschichten aus dem alten Griechenland literarisch befasst, wird unweigerlich mit der Frage konfrontiert, was es da eigentlich Neues zu berichten gibt, wo doch die mythologischen Geschichten schon tausendmal erzählt, jugend- und kindgerecht aufbereitet, oder als mythologische Motive im Kontext klassischer, wie moderner Literatur und Kunst längst verarbeitet sind. Und überhaupt der alte Gustav Schwab, der mit seinen „Sagen des klassischen Altertums" seit Jahrzehnten zum Repertoire eines jeden geschichtsbegeisterten Jugendlichen gehört.
Im Gedächtnis behält man von den Inhalten vielfach nur wenig, vielleicht ein paar thematische Schwerpunkte oder auch nur allgemeine Klischees über Götter, Helden und schöne Frauen der Griechen. Angesichts der Stofffülle der griechischen Mythen, wie sie vor allem in der „Ilias und „Odyssee
von Homer überliefert sind, hat selbst der studierte Leser manchmal Mühe, stringente Erzählzusammenhänge zu erkennen, die in den verschlungenen Spannungsbögen der vielen Geschichten enthalten sind und letztlich deren sagenhafte Inhalte erst interessant machen.
Mit dem hier vorgelegten Lesebuch „Irrfahrten werden ausgewählte Geschichten des alten Mythos nicht einfach neu erzählt. Vielmehr werden aus der homerischen „Fundgrube
wichtige Episoden aus dem Leben und Sterben herausragender mythischer Charaktere zu eigenen Geschichten verarbeitet. Die Auswahl der Zitate zu den einzelnen aus dem epischen Zusammenhang teilweise zu lösenden Episoden lässt sich von dem Gedanken leiten, die wichtigen inhaltlichen Botschaften im Kontext des homerischen Erzählfortgangs herauszuarbeiten. Im methodischen Wechsel von Originalzitaten und erläuternden Passagen werden zusammenfassende Schlussfolgerungen gezogen, die zu einem tieferen Verständnis der griechischen Mythologie beim Leser führen können.
Im Schreibvollzug stellte sich heraus, dass im „Homer oftmals tiefgründigere Gedanken, Pointen und dichterische Einfälle stecken, als beim üblichen Lesen in der Regel wahrgenommen werden. Und sogar bislang unbekannte Textpassagen konnten „entdeckt
werden, die manchen altbekannten Mythen neue erzählerische Wendungen geben. In der volkstümlichen Erzähltradition der klassischen Sagenwelt tauchen sie gar nicht auf und müssen selbst in der professionellen Rezeption vergeblich gesucht werden.
Es entstehen dabei Geschichten, die in neuen Sinnzusammenhängen und oft bizarren Problemlagen unter dem Blickwinkel ihres tragikomischen Gehalts rekonstruiert werden und spannende Unterhaltung versprechen.
AUS DEM INHALT
Teil I
Zur Einführung in den Sagenkreis der Griechen werden exemplarisch Geschichten aus der Frühzeit der Mythologie über mehr oder weniger bekannte Götter- und Heldengestalten erzählt, die biografisch für manche der späteren Figuren bedeutsam sind.
Mit großer Heldenbesatzung wird der „Argonautensage nach die „Argo
unter ihrem Anführer Jason auf eine verwegene Kaperfahrt ins Schwarze Meer geschickt, auf der sinnigerweise eine Frau, die Königstochter Medeia, in ihrer Rolle als zauberkundige Geliebte von Jason den arg gebeutelten „Argonauten" zeigt, wozu ein Mädchen, das sich im Grunde nur dem unbarmherzigen Vater entziehen will, alles imstande ist.
Der Block der mythologischen Erzählungen aus der homerischen Vorzeit wird mit der Geschichte von Theseus, dem Athener Königssohn, abgeschlossen. Dieser zog aus, um Minotaurus, ein Ungeheuer aus Kreta, zu besiegen, und musste bei allem Erfolg einen tragischen Verlust hinnehmen.
Die bekannten Sagen um den Trojanischen Krieg beginnen mit einer Vorgeschichte und verschiedenen Episoden des Krieges. Sie führen zu dem größten Helden aller Zeiten: Achilleus. Er ist ein schwieriger Charakter, der im Verlauf der Geschichte zunehmend an persönlicher Statur gewinnt. Kompromisse und Einsichten der moralischen und vernünftigen Art werden ihm von den Umständen des Krieges aufgenötigt, um trotz aller Irrungen und Wirrungen zwischen Heldenmut und Brutalität, Zuneigung und Hass als ehrenwerter Held im griechischen Gedächtnis zu verbleiben.
Dazu leistet vor allem Nestor seinen Beitrag, der alte, weise König aus Pylos, dem im Unterschied zur klassischen Rezeption nicht nur abstrakt die ehrenvolle Funktion eines erfahrenen Ratgebers der griechischen Herrschaft attestiert wird. Sondern es werden dessen durchgreifende Maßnahmen thematisiert, durch die er zum eigentlichen Regisseur des Krieges aufseiten der Griechen vor Troja wurde.
Aus dem Sagenkreis der „Ilias" wird auch von dem komischen Kauz Thersites berichtet, der es wagt, Autoritäten wie Agamemnon und Achilleus verbal für handfeste Ungerechtigkeiten und Willkür anzugreifen, aber ein Rebell ohne Fortune bleibt.
Dagegen wird Diomedes in einer positiven Heldenrolle vorgestellt, der allerdings erleben muss, wie er in entscheidenden Momenten des Krieges von den olympischen Göttern sich hinterrücks als willige Figur auf dem Spielfeld ihrer Intrigen benutzen lässt, aber auch große Meriten verdient.
Die Göttin Hera, begierig, in eigener Autorität zugunsten der Griechen in den Trojanischen Krieg einzugreifen, versucht mit List und hoher Verführungskunst ihren Gatten Zeus von seiner Regie über den Kriegsverlauf abzulenken und scheitert am Ende dennoch.
Helena, die „Schönste von allen und von allen begehrt, weiß nicht genau, wie ihr geschieht: verliebt oder verführt, geflüchtet oder verschleppt. Und überhaupt erweist sich die verfemte „Schuldige
am Trojanischen Krieg als durchaus verständige Frau, die sich ihrer Interessen zunehmend bewusst wird. Am Schluss hat sie einen pfiffigen Einfall, mit dem sie sich als „Zünglein an der Waage" ins Spiel bringt und die vereinigte griechische Heldenschaft im Bauch des hölzernen Pferdes kurz vor ihrem Sieg ziemlich beeindrucken kann.
Die Odyssee, als tragische Irrfahrtsgeschichte eines griechischen Helden bekannt, wird auf den Schwerpunkt der amourösen Erlebnisse des Odysseus fokussiert. Dabei stehen die unterschiedlichen Frauencharaktere, mit denen er es auf seiner Rückreise von Troja zu tun bekommt, im Mittelpunkt: Kirke, Kalypso, Nausikaa und Penelope. Der Held wird in einer tragikomischen Rolle als Adressat mehr oder weniger reizender Angebote von Frauen unterschiedlicher Provenienz betrachtet, in Affären, die er als meistens gescheiterter Held durchleben muss, der am Schluss aber Haus und Frau wiedergewinnt.
Teil II
Es werden elf anekdotenhafte Kurzgeschichten über „Götter, Helden und andere Schelme" erzählt. In den Hauptgeschichten spielen sie zwar nur Nebenrollen, aber dennoch stellen sie eindrucksvolle, komische Figuren dar, über die viel Unterhaltsames zu berichten ist.
Teil III
Zwei Essays zur antiken Mythenrezeption aus der Sicht bekannter Zeitzeugen:
Die Abhandlung über den Musenkult in der griechischen Mythologie steht unter dem Motto: „Von der musischen zur musikalischen Begeisterung. Es wird der Versuch unternommen, an Originalzitaten von Homer, Hesiod, Platon und Strabon Charakteristika in der Entwicklung des Musenkultes zu identifizieren, die die Musenkunst der Inspiration von Dichtern und Denkern als Rationalisierungsprozess wahrnehmen, an dessen Ende die Musen als Stifter der Musik verstanden und gefeiert werden, die alle Welt mit musikalischer „Begeisterung
erfüllt.
Ein Kommentar zu einem Beitrag des altgriechischen Historikers Herodot zum Thema „Frauenraub. Er war Zeitzeuge eines quasi klassischen „Historikerstreits
in der Antike über das Problem der widerrechtlichen Aneignung hochstehender Frauen durch Potentaten. Im frühgeschichtlichen Griechenland ist es offenbar zu dauernden Streitigkeiten zum Beispiel zwischen Persern, Griechen und Phöniziern gekommen, in denen so interessante Fragen wie nach der gerechten „Ablösesumme" für entführte Frauen zu Fragen von Krieg und Frieden hochstilisiert wurden.
TEIL I
GESCHICHTEN AUS DEM
VORHOMERISCHEN SAGENKREIS
CHEIRON – ARGONAUTEN –
THESEUS – DAIDALOS
Der Kentaurenkönig Cheiron mit einem Eleven
KAPITEL 1
CHEIRON – KÖNIG DER KENTAUREN
Cheiron war ein Kentaur, ein Mischwesen mit menschlichem Oberkörper und einem vierbeinigen Pferdeleib. Abgesehen von einigen anderen in der griechischen Mythologie vorstellig gemachten hybriden Ungeheuern, Riesen und anderen seltsamen Gestalten, gehörten die Kentauren, die sogenannten Pferdemenschen, seit Urzeiten zur menschlichen Gesellschaft, wenn sie auch bis auf wenige Ausnahmen von eher unzivilisierter Natur waren und mit einer einsamen Außenseiterrolle vorliebnehmen mussten.
Einer alten Überlieferung zufolge glich Cheiron, der König der Kentauren, körperlich seinen Mitkreaturen, den wilden Mischwesen aus Pferd und Mensch aufs Haar. Doch soll er als einziges kultiviertes Individuum unter ihnen erhabenen Ursprungs gewesen sein, im krassen Gegensatz zu all den anderen Kentauren, die seinerzeit in Thessalien, insbesondere im Waldgebirge des Pelion auf der Halbinsel Magnesia ihr Unwesen trieben.
Als Cheirons Vater galt der Urgott Kronos, der ihn, um nicht von seiner Frau entdeckt zu werden, in der Gestalt eines Pferdes mit Philyra, einer Tochter des Okeanos, gezeugt haben soll. Dieser unsterbliche Kentaur war somit ein Halbbruder des Zeus. Mit einer solchen Herkunftsgeschichte eignete sich Cheiron bestens zum König der Kentauren und galt als ausgesprochen gerechter Herrscher über seine rauen Untertanen mit ihren wilden Sitten. Auf dem Berg Pelion, nahe dem Gipfel, bewohnte er eine großräumige Höhle mit bester Aussicht über sein Herrschaftsgebiet, die vom Meer umspülte bewaldete Halbinsel Magnesia.
Cheiron war klug und weise, in allen Künsten der Musen wie des Bogenschießens und der Heilkunst zu Hause und überdies als sehr guter Lehrer bekannt. Kein Wunder, dass die Nachfrage nach dem pädagogischen Einsatz des Meisters bei vielen vornehmen Familien Griechenlands groß war. Denn sie waren selbst meistens mit Wichtigerem befasst als mit der Erziehung ihrer Sprösslinge. Der gute Mann hatte also in Erziehungsfragen viel zu tun. Der spätere Wunderarzt Asklepios, der erfinderische Aristaios und Jason, der Kapitän der Argonauten, gehörten wie viele andere zu seiner Klientel. Sein Musterschüler aber war Achilleus, der Halbgott und spätere erste Krieger unter den griechischen Heroen. Er erfuhr bei Cheiron eine für damalige Verhältnisse umfassende Erziehung, wozu nicht nur der Gesang, das Spiel auf der Kithara, die Heil- und Jagdkunst und nicht zuletzt das Kriegshandwerk gehörten, sondern auch die für die gehobenen Kreise obligatorische Unterweisung in der griechischen Sitten- und Tugendlehre.
Aus Cheirons Leben sind keine großen Erzählungen bekannt, außer denen, die aus seinem heimischen Umkreis und den Umständen seines widernatürlichen Ablebens bekannt geworden sind. Und dazu gehört in erster Linie die Geschichte von Peleus und Thetis, an der der Kentaurenkönig Cheiron einen großen Anteil hatte.
FLUCH UND SEGEN EINER GÖTTERHOCHZEIT
Widerstrebend hatte Zeus beschlossen, Peleus, König der Myrmidonen von Phthia in Thessalien, der Meeresgöttin Thetis zum Ehemann zu geben. Er hätte sie zwar gern selbst zur Nebenfrau gemacht, aber die Prophezeiung der Schicksalsgöttinnen warnte ihn rechtzeitig: Jeder Sohn der Thetis würde nämlich mächtiger sein als sein Vater, hieß die Botschaft, die selbst ein Göttervater ernst zu nehmen hatte. So richtig ärgerlich wurde Zeus aber erst über die spröde Haltung von Thetis gegenüber seinen penetranten Annäherungsversuchen. Sie tat das angeblich aus Rücksicht auf ihre Pflegemutter Hera, die Zeusgemahlin, der sie wegen erwiesener Wohltaten zu Dank verpflichtet war. Woraufhin sich Zeus zu einem gemeinen Schwur hinreißen ließ: Die Göttin Thetis sollte nämlich niemals in ihrem ewigen Leben einen Unsterblichen zum Mann bekommen.
Da mischte sich die Göttermutter Hera ein: Ihrer Pflegetochter verpflichtet, beschloss sie, Thetis wenigstens – wenn es denn kein Gott sein sollte – mit dem Edelsten aller Sterblichen zu vermählen. Und wer war da geeigneter als der Held Peleus, der „Liebling der Götter", wie der Volksmund wusste. Kurz: Peleus wurde gar nicht erst gefragt; seine Liaison mit Thetis war reine Göttersache und schon beschlossen. Doch Peleus hatte längst ein begehrliches Auge auf ebendiese reizende Meeresgöttin geworfen und ihm konnte man die Aussicht auf einen ihm überlegenen Sohn eher zumuten als ausgerechnet Zeus, dem mächtigsten aller Götter. Denn wenn ein Mann wie Peleus von dieser Verheißung etwas gewusst hätte, wäre er sicherlich noch stolz darauf gewesen.
Beim nächsten Vollmond rief Hera alle Olympier zum Heiratszeremoniell zusammen und sandte zugleich ihre Botin Iris mit dem Befehl zu Peleus, er solle sich zur Heirat bereithalten. Nun aber sah Cheiron in seiner großen Weisheit voraus, dass die unsterbliche Thetis mit dieser von ganz oben arrangierten Heirat mit einem Erdenmann ganz und gar nicht einverstanden sein würde. Er riet Peleus daher zu einer List: Er sollte sich hinter einem Myrtenstrauch am Meeresstrand verstecken, um Thetis zu überraschen, wenn sie, nur mit einem seidenen Schleier um die Schultern, auf einem Delfin über das Meer geritten kam, um ihren gewohnten Mittagsschlaf in einer nahen Höhle zu halten.
Gesagt, getan: Sobald Thetis die Höhle betreten hatte und eingeschlummert war, stürzte sich Peleus auf sie. Der Kampf war lautlos, aber heftig. Thetis wehrte sich gegen die männlichen Übergriffe mit aller Kraft, sodass es aussah, als würde sie sich wechselweise in „Feuer, Wasser, Löwe oder Schlange" verwandeln. Doch Peleus war gewarnt: Selbst als sie am Ende die Gestalt eines riesigen Tintenfisches annahm und ihn mit schwarzer „Tinte" bespritzte, ließ er nicht von ihr ab. Verbrannt, geschlagen, gestochen und besudelt, bezwang er die Nymphe schließlich. Thetis gab sich geschlagen und dem Menschenmann in leidenschaftlicher Umarmung hin.
Beider Vermählung wurde kurz darauf vor der Höhle des Cheiron auf dem Berg Pelion mit einem rauschenden Fest gefeiert. Ein Bild für die Götter! Alle Olympier waren gekommen und saßen auf zwölf goldenen Thronsesseln. Hera, die Göttin mit den goldenen Schuhen, trug die Brautfackel und Zeus spielte wohl oder übel den Brautvater, thronend inmitten der gesamten Götterrunde. Die Musen sangen ihre himmlischen Weisen, Ganymedes schenkte die Götterspeisen Nektar und Ambrosia aus, und die fünfzig Nereiden, die Schwestern der Braut, tanzten auf dem weißen Sand die ganze Nacht lang. Dazwischen die Brautleute Peleus und Thetis mit ihren illustren Gästen, darunter König Cheiron und seine Getreuen und die wilden „Pferdemenschen" aus seinem Volk. Bei denen floss der Wein in Strömen, sie soffen, vertilgten gebratenes Fleisch in Massen und unterhielten die Gäste mit einem Feuerwerk aus brennenden Pfeilen auf ihre Art.
Unter den Brautgeschenken befand sich nur das Edelste: Von Cheiron kam der berühmte Speer, aus einer Esche vom Berg Pelion geschnitten, Athene hatte den Schaft blank poliert und Hephaistos die Spitze geschmiedet. Vereint schenkten die Götter einen herrlichen Brustpanzer aus reinem Gold; und Poseidon gab großzügig die beiden unsterblichen Pferde Balios und Xanthos dazu. So kam eine komplette Kampfausrüstung zusammen, die später einmal dem Helden Achilleus, Peleus’ und Thetis’ berühmtem Sohn, gute Dienste vor Troja leisten sollte.
Um anlässlich der hochrangigen Hochzeit die Harmonie unter den Göttern nach Möglichkeit zu wahren, wurde Eris, die Göttin des Streits, gar nicht erst zum Fest eingeladen. Doch sie konnte es nicht lassen. Aus Ärger darüber, von der Gästeliste gestrichen worden zu sein, wollte Eris sich rächen und hatte sich zu diesem Zweck die schönen Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite erkoren. Die waren gerade in bester Feststimmung und plauderten angeregt miteinander, als ein goldener Apfel, von Eris geschickt, in ihre Mitte rollte. Peleus hob ihn auf und las verlegen die Inschrift „der Schönsten!", war sich jedoch nicht sicher, welcher von den vielen anwesenden weiblichen Schönheiten der Apfel gehören sollte. Man erzählt, dass schließlich der Streit von Zeus persönlich geschlichtet wurde. Dieser beauftragte den trojanischen Prinzen Paris, den Schiedsrichter zu spielen, denn er galt unter den Männern wegen seiner Wohlgestalt geradezu prädestiniert für diese Aufgabe. Die Göttinnen waren entzückt und um verlockende Angebote an den schönen Mann nicht verlegen. Hera versprach ihm alle Macht auf Erden, Athene lockte mit großem Reichtum und Aphrodite bot ihm die Hand der schönsten Frau der Welt, der spartanischen Prinzessin Helena. Paris zauderte nicht lange und überreichte der Liebesgöttin Aphrodite den goldenen Apfel. Macht und Reichtum hatte er offenbar genug, aber die schönste Frau der Welt sein eigen nennen zu dürfen, das war ihm das Größte. Tief in ihrer Ehre verletzt, erzürnten die beiden unterlegenen Göttinnen. Die Feststimmung war dahin und in letzter Konsequenz wurde diese Apfelaffäre für das spätere Drama des Trojanischen Krieges bedeutsam. Denn Aphrodite hatte schließlich Paris als Siegesprämie die Hand der Helena versprochen. Aber davon wird später noch zu berichten sein …
TOD DES UNSTERBLICHEN CHEIRON
Eine uralte Geschichte erzählt, dass der göttliche Herakles, der einst auf seiner Reise durch weite Lande nach Thessalien kam, von Cheiron und Pholos, den einzig gesitteten Artgenossen unter den Kentauren, gastfreundlich aufgenommen wurde. Man setzte Gebratenes auf den Tisch, obwohl die Kentauren selbst das Fleisch im Rohzustand bevorzugten. Als Herakles Pholos an den noch fehlenden Wein erinnerte, wagte dieser es zunächst nicht, den Weinkrug, der ein gemeinsames Gut der Kentauren war, ohne deren Einverständnis zu öffnen. Denn es war gerade jener Krug, den der Weingott Dionysos schon vor Generationen in der Höhle für die Gelegenheit eines feucht-fröhlichen Gelages mit den Kentauren aufbewahren ließ. Und in der Tat, kaum war der Krug geöffnet, da hatten die Kentauren in ihren Nachbarhöhlen den starken Wein bereits gerochen. Zornig darüber geworden, dass sie zur Weinprobe nicht geladen waren, zogen sie mit Felsbrocken, ausgerissenen Fichtenstämmen und Feuerbränden bewaffnet vor die Höhle und störten die gemütliche Zusammenkunft empfindlich. Die ersten Angreifer erledigte Herakles mit einem Hagel von Pfeilen. Bis Nephele, die „wolkenähnliche" Großmutter der Kentauren, ihrer Familie zu Hilfe kam. Sie, die Macht über das Wetter besaß, ließ einen heftigen Regen los, der die Bogensehne des Herakles erweichen ließ, den Boden schlüpfrig und den Kampf beinahe aussichtslos machte. Herakles aber – ganz der alte Kämpfer und seiner früheren Taten immer noch würdig – schlug sich gut gegen die Menge der aufgebrachten Kentauren. Während Pholos vor Angst das Weite suchte, hatte Cheiron furchtbares Pech. Einer der Pfeile des Herakles verfehlte sein Ziel und blieb unglücklicherweise im Knie des Cheiron stecken. Entsetzt über diesen Unfall seines alten Freundes, zog Herakles den Pfeil sofort heraus. Doch alle Heilmittel halfen ihm nichts. Heulend vor Schmerz zog sich Cheiron in seine Höhle zurück, denn das Pfeilgift hatte bereits zu wirken begonnen. Der Kentaurenkönig musste lange leiden, denn der Tod konnte ihn nicht erlösen, weil er nun einmal unsterblich geboren war.
Traurig musste Herakles Abschied nehmen, denn er konnte für den leidenden Freund nichts mehr tun. Aber das sollte sich ändern.
Auf seiner langen Wanderschaft durch die damals bekannte Welt erreichte Herakles schließlich auch den Kaukasus am Schwarzen Meer und den Ort, wo der Titan Prometheus an einen Felsen gefesselt hing – tausend oder dreißigtausend Jahre, wer weiß das schon – während derer jeden Tag erneut ein Geier an seiner Leber hackte. Eine wahrlich grausige Strafe, zu der der Göttervater Zeus den ungehorsamen Gott verurteilt hatte. Für dessen „Untat" nämlich, den auf der kalten Erde dahinvegetierenden Menschen trotz Verbot von oben das wärmende Feuer gebracht zu haben. Die Menschen kannten das Feuer bis dahin nur als todbringenden, flammenden Wutausbruch des Blitze schleudernden Zeus und hatten es sattsam fürchten gelernt. Prometheus jedoch hatte sich erbarmt und die Menschen gelehrt, die Flammen zu zähmen und allerhand weiteren Nutzen daraus zu ziehen. Die Menschen bekamen durch das Feuer erst die Chance auf ein zivilisiertes Leben.¹
Als Herakles bei seiner Begegnung mit dem leidenden Prometheus das alles durch Kopf ging, kam ihm eine blendende Idee. Ihm, der als menschlicher Sohn des Zeus durchaus eine gewisse Kenntnis der himmlischen Umstände und Begebnisse besaß, fiel ein, dass Zeus schon längst die harte Bestrafung des Prometheus für diese Tat bereut hatte. Denn dieser hatte ihm vor langer Zeit auch mal eine Gefälligkeit erweisen, für die sich der Göttervater bisher noch nicht revanchiert hatte. Prometheus hatte Zeus nämlich frühzeitig auf die schicksalsträchtige Prophezeiung hingewiesen, derzufolge die von ihm gewünschte Liaison mit der Göttin Thetis ihm nicht zur Freude gereichen würde und er deshalb wohlweislich davon absah.¹
Umgehend bat Herakles den Göttervater, den Leiden des Prometheus ein Ende zu setzen. Und Zeus ließ Gnade vor Recht ergehen. Doch die Sache hatte einen Haken: Prometheus konnte erst Gnade finden – so ein uraltes Gesetz – bis ein Unsterblicher an seiner Stelle freiwillig in den Tartaros ginge. Da erinnerte Herakles Zeus an das Leid des Cheiron, der an seiner Wunde unsterblich litt und nur noch den einen Wunsch hatte, von seiner Unsterblichkeit befreit zu werden. Dem stand jetzt kein Hindernis mehr im Weg. Herakles schoss treffsicher den Geier vom Himmel und befreite den leidenden Prometheus von seiner Pein. Da Zeus den abtrünnigen Titanen aber nun einmal zu ewiger Strafe verdammt hatte und sich ein oberster Herrscher niemals eines Wortbruches bezichtigen lassen durfte, verdonnerte er Prometheus nach seiner Erlösung zum Tragen eines Rings an einer Kette, der ewig an sein grausames Leiden erinnern sollte.
So konnte gleich zwei leidtragenden, gottgleichen Wohltätern der Menschheit geholfen werden. Der Kentaurenkönig Cheiron starb in Frieden, sein Andenken